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Familie im Wandel der Zeit
ОглавлениеBis gegen Ende des 18. Jahrhunderts war der primäre Wirtschaftssektor das maßgebliche wirtschaftliche Tätigkeitsfeld der Menschen in Mitteleuropa. In dieser vorindustriellen Zeit waren Landwirtschaft, Handwerk und Hausindustrie die wesentlichen Produktionsformen. Die Einheit von Wohnstätte und Arbeitsplatz charakterisierte somit auch einen Großteil der Familienstrukturen der damaligen Zeit (Bender, Fettköter, Hirt, Kümmerle, & von der Ruhren, 2002). Innerhalb der Mehrgenerationenfamilie wurde Handwerk von Generation zu Generation weitergereicht und Ehepartner waren gleichermaßen in Produktionsprozesse eingebunden und ihre Existenz hing nicht selten von reibungslosen, sich gegenseitig ergänzenden Arbeitsprozessen innerhalb der Großfamilie ab (nach Sander, 1999). Beispielhaft sei an dieser Stelle die Tuchmacherei genannt. Diese wurde auf Basis einheimischer Rohstoffe, wie Schafwolle und Leinen, betrieben. Die Tuchmacherei gilt als Vorläufer der Textilindustrie. Diese wiederum wird gern als die Mutter der Industrie bezeichnet, da sie in zahlreichen Ländern am Beginn der Industrialisierung stand. Als sogenannte Wachstumsindustrie im 19. Jahrhundert, bezeichnet man sie sogar als den Motor der Industrialisierung. Um 1850 dominierte die Textilindustrie, mit einem Anteil von rund 50% der Beschäftigten, den sekundären Wirtschaftssektor (Bender et al., 2002). Im Zuge der industriellen Revolution vollzog sich mehr und mehr die Trennung von Arbeit und privatem Leben. Die ökonomische Bedeutung von Groß- oder Mehrgenerationenfamilie nahm, parallel mit der Zahl familiärer wirtschaftlicher Kleinstbetriebe, ab. Die Pflichten von Frau und Mann wurden noch intensiver unterschiedlichen Lebens-bereichen zugeordnet. Auf Grundlage der bereits bestehenden Annahmen unterschiedlicher Geschlechtercharakteristika kristallisierten sich zunehmend die typischen Rollenverteilungen innerhalb der Familie heraus, bei der die Frau überwiegend für hauswirtschaftliche Arbeiten und das harmonische Familienleben zuständig war, während der Mann die Existenzsicherung der Familie durch aushäusige Arbeitstätigkeit übernahm (nach Sander, 1999). Als Ursprünge dieser Rollenverteilung, die heute teilweise als altmodisch oder unmodern wahrgenommen wird, können wahrscheinlich die biologischen Grundlagen von Mann und Frau angenommen werden. Demnach hat es die Natur so eingerichtet, dass, nach der körperlich-geschlechtlichen Vereinigung und der damit verbundenen Befruchtung der Eizelle der Frau durch die Samenzelle des Mannes, die Frau Kinder gebären kann und den Säugling stillt. Der Mann übernahm die Aufgaben des Schutzes der Familie und der Sicherung des heimischen Nestes sowie der Nahrungsbeschaffung. Diese vermeintlich steinzeitlichen Rollenstrukturen der Kernfamilie haben sich im Laufe der Zeit mehr und mehr gewandelt und heute sind die einst auf natürlichen Grundlagen basierenden Rollenverteilungen in vielerlei Hinsicht flexibler, weniger statisch und zeitgleich anspruchsvoller und herausfordernder geworden. Abgesehen von der industriellen Entwicklung, war die Familie immer auch ideologischen Einflüssen ausgesetzt, wie beispielsweise denen der Romantik oder später dem bürgerlichen Eheideal (nach Sander, 1999). Ab den 1960er Jahren haben nicht-eheliche Lebensgemeinschaften und alternative Familienformen in ihrer Akzeptanz zugenommen (Sander, 1999) und heute haben sich inzwischen, neben dem klassischen Mutter–Vater–Kind(er) Modell, mannigfaltigste Familienformen herauskristallisiert. Die Familie als Institution innerhalb der Gesellschaft muss, neben den zahlreichen innerfamiliären Anforderungen, die insbesondere ein Familienleben mit Kindern in sich birgt, einer Vielzahl von außerfamiliären Herausforderungen gerecht werden. Als aktuelle Probleme seien hier zunächst beispielhaft die prekäre Beschäftigung sowie fehlende Betreuungsplätze genannt. Entwicklungen wie die Industrie 4.0, welche eine weitere Umgestaltung der Arbeitswelt durch den weiteren Ausbau der Automatisierung befeuern wird, werden sehr wahrscheinlich ebenso ihre Spuren in den Familien hinterlassen, wie alle vorangegangenen Entwicklungen es bereits ebenfalls taten. Je komplexer die Gesellschaft und je mehr neue Fertigkeiten und Fähigkeiten sie von ihren Mitgliedern verlangt, desto stärker differenzieren sich auch die gesellschaftlichen Strukturen (Minuchin, 1992, S. 61). Die Familie oder die Ehe als Institution hat sich in den vergangenen 200 Jahren stets den Veränderungen ihrer Umwelt und den damit verbundenen Anforderungen angepasst. Und obwohl die Bedeutung der Familie immer eine ganz individuelle Angelegenheit geblieben ist, haben sich die familiären Strukturen während des genannten Zeitraumes scheinbar stark verändert. Mit den sich ständig wandelnden Rahmenbedingungen der Gesellschaft, werden auch die individuellen Erwartungen, die an die Familie gestellt werden, beeinflusst. Minuchin (1992) folgend, dienen die Funktionen der Familie im Wesentlichen zwei unterschiedlichen Zwecken: nach innen gerichtete dem psychosozialen Schutz der Familien-mitglieder, nach außen gerichtet der Anpassung und Weitergabe der jeweiligen Kultur. Das klassische Familienbild wird inzwischen zum Teil als alte verstaubte oder konservative Missdeutung wahrgenommen und, ganz im Sinne der erwähnten individuellen Bedeutung von Familie, haben sich mannigfaltigste, familienähnlich Konstellationen herauskristallisiert, die für sich den Anspruch erheben, ebenfalls dem Begriff Familie gerecht werden zu können. Neben dem herkömmlichen Mutter-Vater-Kind(er) Modell und den Adoptivfamilien sind alleinerziehende Mütter und Väter, gleichgeschlechtliche Partnerschaften und Ehen, Zweit- und Stieffamilien oder wie sie heut ganz modern bezeichnet werden: Patchwork Familien, ganz alltägliche Erscheinungen geworden. Wie wir sehen, ist die Definition von Familie immer subjektiv geprägt. Familie wurde und wird immer wieder durch individuelle, subjektive Werte und Vorstellungen neu entstehen. Was auch im Zeitalter der Globalisierung gleich geblieben ist: die Familie stellt, nach wie vor, das kleinste soziale Gefüge einer jeden Gesellschaft, unabhängig von Rasse oder Ethnie, Religion und politischer Weltanschauung, dar. Und gerade in der Psychologie wird immer wieder hervorgehoben, wie wichtig diese sozialen Ressourcen sind, dass der Mensch ein Herdentier ist, das sozial-emotionale Kompetenzen nicht nur im privaten sondern auch im beruflichen Bereich von höchster Bedeutung und das soziale Kontakte und prosoziales Verhalten auch für die Gesunderhaltung des Menschen überaus wichtig sind.