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Familienpsychologie
ОглавлениеAls wissenschaftliche Teildisziplin der Psychologie beschäftigt sich die Familienpsychologie mit dem Erleben, Verhalten und der Entwicklung der Personen innerhalb des familiären Beziehungssystems (nach Schneewind, 2010). Kernthemen der vorliegenden Arbeit sind innerfamiliäre Prozesse im Trennungs- und Scheidungskontext, insbesondere die vollständige Familienzerrüttung, deren mögliche Einflüsse auf die Entwicklung und Gesundheit betroffener Kinder und Eltern sowie auf das künftige Familienklima. Sorge- und Umgangsrecht sowie damit einhergehende mögliche Risiken für das Kindeswohl sind daher ebenso Bestandteil der vorliegenden Arbeit, wie auch mögliche Auswirkungen von Trennung, Scheidung und vollständiger Familienzerrüttung auf das Elternwohl. Es soll weiterhin hervorgehoben werden, welche Voraussetzungen und Anforderungen an ein positives Gelingen von Zweit-, Stief- und Patchwork Familie geknüpft sind. Ein wesentlicher Schwerpunkt wird die Umgangsverweigerung sein. Sowohl die Verweigerung des Umgangs durch sorgeberechtigte Elternteile als auch die Unterlassung des Umgangs durch nicht sorgeberechtigte Elternteile mit den Kindern werden gleichbedeutend behandelt. Ich habe meine Arbeit auf diese beiden Varianten eingegrenzt, bei denen jeweils den Eltern eine aktive Rolle zukommt, während die Kinder dabei vollkommen passiv bleiben. Die Selbstbestimmung der Kinder wird dadurch beeinträchtigt, was sich aus psychologischer Perspektive auf die Entwicklung des Selbstbewusstseins, der Identität, des Selbstkonzeptes, der Selbstwirksamkeit sowie auf die Entwicklung des Vertrauensgefühls der betroffenen Kinder nachhaltig negativ auswirken kann. Die Kinder erfahren in der passiven Rolle, in die sie gedrängt werden, dass sie auf die Situation selbst keinen Einfluss haben und erleben dadurch Gefühle wie Ohnmacht, Hilflosigkeit, Verzweiflung und Angst. Dies kann künftig dazu führen, dass Kinder später in ähnlichen konfliktbehafteten Situationen nicht adäquat handlungsfähig sind. Eine falsche oder vollständig fehlende Kommunikation während der Trennungs- und Scheidungssituation mit den Kindern kann dies noch verstärken. In ihrer passiven Rolle lernen Kinder, dass sie nichts bewirken können und nicht gehört werden, dass sie ohnmächtig und hilflos sind. Nicht selten entstehen dadurch Schuldgefühle bei den Kindern. Auf der Suche nach einer Antwort, die sie von den Erwachsenen nicht bekommen, reden sich Kinder erfahrungsgemäß daher häufig ein, dass sie die Verantwortung für die Trennung ihrer Eltern tragen könnten. Denn was zu diesen Kindern, die im Rahmen von Trennung, Scheidung und vollständiger Familienzerrüttung, in eine der beschriebenen passiven Rollen gedrängt werden, umso deutlicher durchdringt, sind oftmals die Frustration, die Wut, die Aggressionen, die Ablehnung und die Unfähigkeit der Eltern zu sachlich konstruktiver Kommunikation. Durch dieses Verhalten der Eltern, bei dem deren eigene Emotionen ihr Handeln bestimmt, wird den Kinder wortlos vermittelt, dass sie selbst scheinbar nur eine untergeordnete Bedeutung bei den Eltern einnehmen. Die Kinder nehmen folglich wahr, dass sie nichts wert sind. Das Resultat ist ein vermindertes Selbstwertgefühl, was sich künftig im Verhalten dieser Kinder niederschlagen wird. Zu der bereits bestehenden Verunsicherung durch die Scheidungssituation selbst, kommt noch eine emotionale Verunsicherung hinzu. Diese kann bei den Kindern dazu führen, dass deren Entwicklung eines adäquaten Umgangs mit den eigenen Gefühlen in ihren Grundfesten erschüttert wird. Es wird angenommen, dass die Entwicklung soziale-emotionaler wie auch kommunikativer Kompetenzen dieser Kinder nachhaltig beeinträchtigt werden können. Denn in den beiden beschriebenen Varianten der Umgangsverweigerung und -Unterlassung, verkommen die Kinder, wie bereits beschrieben, zu passiven Objekten, was sich für diese Kinder künftig in vielen Bereichen nachhaltig negativ auswirken kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn noch weitere Begleitumstände ebenfalls eher ungünstig auf die weitere Entwicklung der minderjährigen Kinder wirken. Dies können beispielsweise Substanzkonsumstörungen der Eltern sein. Bei den Kindern können Auffälligkeiten im schulischen Bereich oder im sozial-zwischenmenschlichen Bereich beobachtet werden. Es kann zunehmend zu Konflikten kommen oder die Kinder neigen dazu, sich mehr und mehr innerhalbe der Familie und in ihrem außerfamiliären Umfeld zurück zu ziehen, bis hin zur sozialen Isolation. Umgangsverweigerung, bei der die Kinder aktiv den Kontakt zu einem Elternteil verweigern, klammere ich in dieser Arbeit bewusst aus, da bei dieser Variante weitere Einflussfaktoren auf die Ursächlichkeit dieses Umstandes, wie beispielsweise Misshandlung oder Beeinflussung der Kinder, mit berücksichtigt werden müssten. Dies würde jedoch den Rahmen meiner Arbeit sprengen. Zentral sind die Verantwortung der Eltern, ihre aktive Fürsorge und Bestimmung über das Wohl der Kinder sowie der damit verbundene Einfluss auf deren Entwicklung, Gesundheit und Zukunft. Gleichzeitig sind auch die Risiken für das Elternwohl im beschriebenen Kontext zu beachten. Denn die Verweigerung des Umgangs mit dem Kind gegenüber dem nicht-sorgeberechtigten Elternteil, kann bei diesem ebenso psychische Probleme verursachen, weil ihm das Kind vorenthalten wird, wie auch die Unterlassung des Umgangs mit dem Kind durch den nicht-sorgeberechtigten Elternteil. Denn für den sorgeberechtigten Elternteil kann diese Unterlassung durch den nicht-sorgeberechtigten Elternteil eine psychische Belastung darstellen, da hier die Unterstützung bei der weiteren Erziehung der Kinder verweigert wird und die Verantwortung für das gemeinsame Kind dem alleinerziehenden Elternteil aufgebürdet wird. Beide beschriebene Situationen stellen in hohem Maß psychische Belastungssituationen für den jeweils betroffenen Elternteil dar.
Wie zu Beginn dieses Kapitels bereits erwähnt, beschäftigt sich die Familienpsychologie, als Teildisziplin der wissenschaftlichen Psychologie, mit dem Verhalten, dem Erleben und der Entwicklung von Personen im Kontext des Beziehungssystems Familie. Schneewind (1987) führt zur Klärung eines psychologischen Familienbegriffs, die vier Kriterien Abgrenzung, Privatheit, Nähe und Dauerhaftigkeit an, wodurch sich die Familie als intimes Beziehungssystem definieren lässt. Abgrenzung bezieht sich dabei auf den Zusammenschluss von zwei oder mehr Personen, die in wechselseitiger Bezogenheit aufeinander ihr Leben nach bestimmten Regeln, in Abgrenzung von anderen Personen oder Personengruppen, gestalten. Privatheit bezieht sich auf das Vorhandensein eines umgrenzten Lebensraumes, der die Verwirklichung von intimen interpersonalen Beziehungen ermöglicht. Nähe wiederum bezieht sich auf die Verwirklichung von physischer, geistiger und emotionaler Intimität im Prozess interpersonaler Beziehungen. Dauerhaftigkeit schließlich bezieht sich auf den Zeitrahmen, der durch wechselseitige Verpflichtungen sowie die Bindung und Zielorientierung auf längerfristige Gemeinsamkeit geprägt ist (nach Schneewind, 1987, S. 973). Gemäß Schneewind (1999) ist die traditionelle Familie zugleich legale, biologische und funktionale Familie, wobei sich alle Familienmitglieder als zur Familie zugehörig wahrnehmen und in einen Lebensrahmen mit langfristigem Verpflichtungscharakter eingebunden sind. Nach Schneewind (1999) fehle alternativen familiären Lebensformen hingegen wenigstens eines der genannten Beudeutungs- und Bindungscharakteristika (Schneewind, 1999, S.21).
Hier werden bereits wesentliche Punkte deutlich, die bei Kindern aus vollständig zerrütteten Scheidungsfamilien einer stärkeren Beeinträchtigung unterliegen, als es bei Kindern aus Scheidungsfamilien der Fall ist, die nach der Trennung noch den Umgang mit beiden leiblichen Eltern und deren Familien haben: Ein Lebensrahmen mit langfristigem Verpflichtungscharakter existiert beispielsweise für Scheidungskinder aus vollständig zerrütteten Familien nicht in der Form, wie er für Scheidungskinder aus Familien existiert, die noch Kontakt zu beiden leiblichen Eltern haben. Weiterhin wird die Wahrnehmung der Kinder, zu einer Familie zugehörig zu sein, durch eine vollständige Familienzerrüttung ebenfalls stärker beeinträchtigt, als bei Kindern, die nach der Scheidung noch den Kontakt zu beiden leiblichen Eltern, einschließlich der zugehörigen Familien, haben. Denn durch die vollständige Zerrüttung der Familie und dem erfahrungsgemäß damit verbundenen kompletten und abrupten Wegfall der Beziehungen zu einem leiblichen Elternteil und der kompletten Verwandtschaft, wird sowohl das Zugehörigkeitsgefühl zur Familie als auch der Lebensrahmen mit einem langfristigem Verpflichtungscharakter gegenüber allen Familienmitgliedern nachhaltig gestört. Diese genannten Gründe können im weiteren Verlauf dazu führen, dass die betroffenen Kinder, selbst noch im Erwachsenenalter, Probleme im sozial-emotionalen Umgang innerhalb der eigenen Familien haben. Die Betroffenen können in unterschiedlichem Ausmaß eine Bindungsstörung sowie Verlustangst entwickeln, was sich auf ihr Verhalten in sozialen Interaktionen auswirken kann. Möglicherweise entwickeln Kinder aus vollständig zerrütteten Familien später eine Unfähigkeit, selbst intime Beziehungen adäquat führen zu können. Es wird davon ausgegangen, dass gerade in diesem Bereich stark ausgeprägte Störungen entstehen können. In jeder Familie, ganz gleich welcher Gestalt, in der Kinder leben, ist Erziehung eine der wichtigsten Aufgaben, mit denen sich Eltern auseinandersetzen müssen. In der Familienpsychologie unterscheidet man dabei zwischen einem vernachlässigendem, einem nachgiebigen, einem autoritären und einem autoritativen Erziehungsstil, wobei letzterer sich als am günstigsten für eine positive Entwicklung der Kinder erwiesen hat. Der autoritative Erziehungsstil beinhaltet Wertschätzung und Respekt für das Kind, Fordern und Grenzen setzen sowie die Gewährung von Eigenständigkeit (nach Schneewind, 2010, S.101). Eltern sollten folglich selbst über ein breites Repertoire an sozial-emotionalen, kommunikativen sowie erzieherischen Kompetenzen verfügen. Überdies sollten ihnen ausreichend soziale Ressourcen zur Verfügung stehen und Eltern sollten mögliche Hilfsangebote bewusst sein und sie sollten im Zweifelsfall auch fähig sein, diese zu nutzen.