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Trennung, Scheidung, Familienzerrüttung
ОглавлениеUnter dem sogenannten Zerrüttungsprinzip wird der Grundsatz verstanden, nach dem in Deutschland eine Ehe geschieden werden kann, wenn sie als gescheitert anzusehen ist. Familienzerrüttung steht folglich synonym für das Scheitern des Versuches eines harmonischen Zusammenlebens. Schon in den antiken Kulturen waren Scheidungen möglich. Die Unauflöslichkeit der Ehe ist tief verwurzelt in verschiedenen Weltreligionen. Im christlichen Glauben beispielsweise wird eine Trennung von den Katholiken geduldet, während bei Protestanten eine Scheidung nur als letzter Ausweg zulässig ist (Sander, 1999). Im islamischen Glauben gilt die Scheidung als das Verabscheuenswürdigste unter den von Gott erlaubten Dingen und ist nur als letzter Ausweg zu betrachten. Im Buddhismus ist die Ehe eine weltlich-soziale Regelung zwischen zwei Menschen und der Akt der Scheidung wird durchaus als positiv erscheinend akzeptiert, wenn dadurch die Disharmonien in einer zerrütteten Beziehung und weiteres Leiden vermieden werden können und keine anderen Leiden daraus entstehen. Ehebruch wird in vielen Religionen verurteilt und gilt als Unheils Bringer, da durch den Bruch des Ehegelübdes Leiden erzeugt wird. Dies sind nur beispielhafte Nennungen von Perspektiven in verschiedenen Religionen auf Ehe und Scheidung. Wie wir sehen, fallen auch auf dieser Ebene die Sichtweisen unterschiedlich aus und letztlich ist es immer eine individuelle Angelegenheit zwischen den jeweiligen Partnern. Sind jedoch Kinder im Spiel, wird es automatisch auch deren Angelegenheit. Im Falle einer Trennung oder Scheidung tragen die Eltern Verantwortung für ihre Kinder. Dieser Verantwortung gerecht zu werden wird erfahrungsgemäß durch vorherrschende Frustration bezüglich ihrer gescheiterten Beziehung zum bisherigen Partner erschwert. Letztlich wirkt dies zum Nachteil der Entwicklung der Kinder. Im Laufe der Zeit sind Scheidungen etwas gesellschaftlich Akzeptiertes, völlig Normales und Alltägliches geworden. Immer häufiger sind Ehe und Familie nicht mehr, wie einst, etwas Heiliges, sondern vielmehr eine Art Statussymbol (Freund, & Nikitin, 2012). Alles ist scheinbar austauschbar geworden: Lebensgefährten, Ehepartner und selbst die eigenen Kinder. Wie natürlich das ist, darüber kann man streiten. In der Familienforschung, kann Trennung oder Scheidung als eine Phase in einen wissenschaftlich untersuchbaren Familienzyklus eingeordnet werden. Dieser Familienzyklus besteht, grob umrissen, aus der Gründung der Kernfamilie, einschließlich dem Übergang zum Elternstatus, und später möglicherweise der Auflösung der Kernfamilie mit der Trennungsphase, der Scheidungsphase und der Nachscheidungsphase. Darauf folgt die Phase der Ein-Eltern-Familie und eventuell im weiteren Verlauf die Gründung der Zweit-, Stief- oder Patchwork Familie. Hierbei findet der Übergang zum Stiefeltern und Stiefgeschwister Status mit einer Anpassungsphase von mindestens 2 Jahren statt und es kommen möglicherweise Halbgeschwistern hinzu (Kasten, 2001). Nicht nur die Phasen der Trennung oder Scheidung stellen bislang unbekannte Handlungsanforderungen an jedes einzelne Mitglied der Familie. Vielmehr gehen diesen Phasen erfahrungsgemäß oft schwierige innerfamiliäre Situationen voraus, die durch Konflikte, Streitigkeiten bis hin zu Handgreiflichkeiten gezeichnet sein können. Es gibt für eine Trennung oder Scheidung keine eingeübten Verhaltensmuster, welche vereinfachend auf den Umgang oder die Bewältigung mit der Trennungs- oder Scheidungssituation wirken könnten (Napp-Peters, 1992). In extremen Fällen kann es zu einer vollständigen Familienzerrüttung kommen, bei der das Gefüge der leiblichen Eltern, der Kinder wie auch weiterer Verwandter insgesamt zerfällt und Kontakte zwischen den Beteiligten vollkommen und abrupt abbrechen. Kinder aus solchen vollkommen zerrütteten Familien entwickeln erfahrungsgemäß die vergleichsweise höchste Vulnerabilität und sind am anfälligsten für die Entwicklung psychischer Störungen wie Depressionen aber auch für Alkoholmissbrauch, Promiskuität, Delinquenz sowie weitere Substanzkonsumstörungen auch illegaler Substanzen. Beobachtet werden kann dieses Phänomen erfahrungsgemäß häufiger in Familien, in denen ein oder beide Elternteile selbst die Scheidungsgeschichte ihrer Eltern miterleben mussten. Wie wir wissen, kommt es bei Kindern aus Trennungs- oder Scheidungsfamilien weiterhin vergleichsweise häufiger vor, selbst eine eigene Scheidungsgeschichte zu durchleben, sich wieder zu verheiraten oder unglückliche Beziehungen zu führen. Entsprechende Befunde konnte ich in einer Untersuchung replizieren, auf die ich später noch detaillierter eingehen werde. Eine Trennung oder Scheidung fordert von jedem Familienmitglied eine Anpassung an die Situation. Dies macht vor allem soziale und persönliche sowie kognitive und psychische Ressourcen erforderlich. Denn es wird nicht nur die Kernfamilie selbst umstrukturiert. Vielmehr erstreckt sich der Prozess einer Trennung und Scheidung weitverzweigt in alle Lebensbereiche sowohl der sich trennenden Eltern als auch in die Lebensbereiche der Kinder: Wohnort, Arbeitsplatz, Kindertages-stätte, Schule, Bekannten- und Freundeskreis sind Bereiche, in denen sich die Folgen einer Trennung oder Scheidung sowohl für die Eltern als auch für die Kinder zwangsläufig bemerkbar machen. Neben den komplexen Prozessen der Umstrukturierung innerhalb dieser verschiedenen Lebensbereiche, findet natürlich die eigentliche Hauptveränderung in der Kernfamilie selbst statt, wo den Kindern plötzlich Bezugspersonen nur noch selten oder gar nicht mehr zur Verfügung stehen und das gesamte Familiengerüst, auch für die Eltern, sich völlig umgestaltet. Schon allein diese Veränderungen erfordern von den einzelnen Familienmitgliedern viel Anpassungsarbeit an die Situation. Hierzu zählt insbesondere sehr viel emotionale Arbeit. Umso wichtiger ist die Art des Umgangs miteinander. Wenn schon kein anderer Ausweg mehr gesehen wird, als die Grundfeste der Familie aufzulösen, dann sollte versucht werden, dies so behutsam wie möglich zu tun. Sich trennenden Eltern sollte bewusst sein, dass es von ihnen abhängt, wie ihre Kinder die Scheidung oder Trennung verarbeiten und wie sie in Zukunft damit umgehen können und werden. Denn den eben nur kurz angerissenen Handlungsanforderungen und Prozessen der Umstrukturierung wohnt die Gefahr inne, dass sie die beteiligten Familienmitglieder, also sowohl die Eltern als auch die Kinder, überfordern können. In einem solchen intimen und emotionalen Bereich wie der Familie wird es bei einer Scheidung oder Trennung schwierig sein, eine sachliche Kommunikation aufrecht zu erhalten. Gerade dann, wenn Kinder eine Rolle spielen und Sorgerecht sowie Umgangsregelungen geklärt werden müssen, wird die Kommunikation, falls diese überhaupt möglich sein sollte, nur unter hohen Anstrengungen auf einer sachlichen, emotionsfreien Ebene stattfinden können. Denn in aller Regel will keiner der Elternteile sein Kind verlieren oder Einschränkungen im Kontakt zum eigenen Kind hinnehmen müssen. Darum werden Emotionen sehr wahrscheinlich eine große Rolle einnehmen und das Verhalten der Scheidungs-/Trennungsparteien wird durch den hohen Grad an Emotionalität von der Sachebene gedrängt werden und es wird häufig zu destruktiven Konflikten kommen, die erfahrungsgemäß zu Lasten der Kinder gehen. Selbst wenn sich die Eltern noch so bemühen ihr emotional gefärbtes Verhalten vor ihren Kindern zu verbergen, wird es direkt auf die beteiligten Kinder wirken. Hier gilt wieder das, was bereits in der Erziehung der Kinder von Bedeutung ist: schaffen es die Eltern, in der Trennungs- oder Scheidungssituation kindgerecht mit den Kindern zu kommunizieren, hat dies freilich eine andere Wirkung auf die Kinder und deren weiteres Verhalten, als die von den Eltern offen zur Schau getragene Enttäuschung, Wut oder Trauer über die gescheiterte Beziehung oder Ehe. Letzteres führt nicht selten zu Umgangsverweigerung oder Kindesentzug, der nicht nur eine Kindeswohlgefährdung sondern sogar einen Straftatbestand darstellt. Aus Angst vor dem geschiedenen oder getrennten Partner kann es weiterhin zur Umgangsverweigerung durch den nicht sorgeberechtigten Elternteil mit dem Kind kommen oder nicht sorgeberechtigte Elternteile wenden sich vollkommen von ihren Kindern ab. In der Realität des alltäglichen Lebens gibt es zahlreiche denkbare Szenarien, die zumeist die deutlichsten Spuren auf den Seelen der Kinder hinterlassen. Eines dieser Szenarien ist die bereits erwähnte vollständige Familienzerrüttung, bei der die Kinder den Kontakt und den Bezug entweder zum mütterlichen oder zum väterlichen Teil der Familie vollständig verlieren. In diesen Fällen wird den Kinder ein nicht unwesentliches Stück ihrer natürlichen Wurzeln und somit ihrer natürlichen sozialen Ressourcen unwiederbringlich entrissen. Alles in allem sollte Eltern, die tatsächlich keinen anderen Ausweg als eine Trennung oder Scheidung mehr sehen, sich so bewusst wie nur irgend möglich mit dem Thema auseinandersetzten und sich selbst und ihre Kinder darauf vorbereiten. Sich professionelle Hilfe zu holen, steht dabei jedem offen, setzt natürlich aber voraus, dass man bereit ist sich selbst einzugestehen, dass man allein mit der Trennungs- oder Scheidungssituation überfordert ist. Sich Hilfe zu holen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern bedeutet, sich für einen anderen, wahrscheinlich besseren Weg zu entscheiden. Abbildung 3 zeigt den Verlauf der Summe jährlich geschiedener Ehen, bei denen minderjährige Kinder von der Trennung ihrer leiblichen Eltern betroffen waren.
Abbildung 3 (Datenquelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Genesis-Online;
Datenlizenz by-2-0; www.govdata.de/dl-de/by-2-0; eigene Darstellung).
Laut statistischem Bundesamt wurden 2016 insgesamt 162.397 Ehen rechtskräftig geschieden. Der Trend der Vorjahre setzt sich somit fort. Dabei waren in knapp 43% der Fälle minderjährige Kinder von der Scheidung ihrer leiblichen Eltern betroffen und zwar mindestens 111.089 Kinder. Es wurden Ehescheidungen mit einem, zwei sowie drei oder mehr gemeinsamen Kindern berücksichtigt. Die tatsächliche Zahl der betroffenen minderjährigen Kinder liegt folglich über den erfassten Werten, da mehr als drei gemeinsame Kinder in der Statistik nicht gezählt wurden. Abbildung 4 zeigt die statistisch erfassten Zahlen, der von Scheidung der leiblichen Eltern betroffenen minderjährigen Kinder. Auch hier wurden lediglich Familien mit bis zu drei Kindern berücksichtig, während Familien mit mehr als drei Kinder nicht gezählt wurden. Ebenfalls nicht enthalten sind die Zahlen der Kinder unverheirateter Paare, die sich in den erfassten Zeiträumen getrennt haben.
Abbildung 4 Angaben sind Mindestwerte (Statistisches Bundesamt (Destatis),
Genesis-Online; Datenlizenz by-2-0; www.govdata.de/dl-de/by-2-0; eigene Darstellung).
Vor diesem Hintergrund ist folglich auch bei diesen Werten davon auszugehen, dass die tatsächliche Anzahl der betroffenen minderjährigen Kinder, die von einer Trennung oder Scheidung ihrer leiblichen Eltern betroffen sind, jeweils über den angegebenen Werten liegen. Ebenfalls werden diejenigen Kinder nicht erfasst, die außerhalb von festen Partnerschaften oder unter widrigen Umständen geboren werden. Während der Trend der Geburtenrate von 2002 bis 2011 eher rückläufig war, können seit 2012 bis einschließlich 2015 wieder steigende Zahlen der in Deutschland Lebendgeborenen beobachtet werden (Abbildung 5).
Abbildung 5 Datenquelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Genesis-Online, Datenlizenz by-2-0;
ww.govdata.de/dl-de/by-2-0; eigene Darstellung.
Obwohl kein direkter Zusammenhang zwischen den beiden Werten besteht, will ich diese dennoch gegenüberstellen: 2015 gab es 737.575 Lebendgeborene in Deutschland und es waren 110.867 minderjährige Kinder von der Trennung der leiblichen, verheirateten Eltern betroffen, was einem Anteil von 15% entspricht. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass 15% der Lebendgeborenen des Jahres 2015 von der Scheidung der leiblichen Eltern betroffen waren. 2008 standen den Lebendgeborenen 18% Scheidungskinder gegenüber und 2004 waren es rund 21%. Was damit verdeutlichen werden soll ist, dass den jährlich zahlen der Geburtenrate eine nicht zu vernachlässigende Zahl, nämlich bis zu fast einem Viertel, an minderjährigen Scheidungskindern gegenüber steht.
Mit dieser Arbeit möchte ich, anhand ausgewählter Beispiele, versuchen einen Blick hinter die Zahlen zu werfen: seit 2013 sind jährlich mindestens 110.000 minderjährige Kinder und deren Mütter und Väter von Scheidung betroffen. Wir können nur mutmaßen, in wie vielen dieser Fälle die Trennung oder Scheidung so verläuft, dass das Wohl aller beteiligter unversehrt bleibt. Erfahrungsgemäß ist es jedoch so, dass wahrscheinlich vielen Fälle mit verschiedensten Konflikten unterschiedlichsten Ausmaßes verbunden sind. Die noch am Anfang ihrer körperlichen und psychischen Entwicklung stehenden minderjährigen Kinder, müssen dabei mindestens die gleichen schwerwiegenden Belastungen und Probleme verarbeiten, wie ihre erwachsenen Vorbilder. Daher haben diese Kinder einen höheren Bedarf an Unterstützung und Schutz, um in ihrer Entwicklung nicht beeinträchtigt zu werden. Sowohl die Elternteile als auch die Kinder werden im Zusammenhang mit Trennung und Scheidung immer Bewältigungsarbeit leisten müssen. In welchem Ausmaß dies erforderlich wird, hängt von mehreren Faktoren ab, auf die ich im weiteren Verlauf noch detaillierter eingehen werde. Natürlich nicht in jedem Fall, aber dennoch bei einer nicht zu vernachlässigenden Anzahl der von Trennung oder Scheidung betroffenen minderjährigen Kinder, Eltern und deren Familien, kann, neben dem Familienklima, das psychische und physische Wohl der Betroffenen Eltern und der Kinder sowie weiterer Familienmitglieder innerhalb der Mehrgenerationenfamilie durch negative Einflüssen beeinträchtigt werden. Familienklima bezieht sich dabei auf die zwischenmenschlichen Beziehungen sowohl innerhalb der Kernfamilie selbst, als auch innerhalb der Zweitfamilie sowie innerhalb der Mehrgenerationenfamilie. Wie auch in der Natur einzelne Wirkfaktoren sich auf das gesamte Klima auswirken können, so kann ein Trennungs- oder Scheidungskonflikt einer Kernfamilie ebenso das Klima innerhalb der gesamten Mehrgenerationenfamilie beeinflussen. Die Wahrung der Balance des gesamten Klimas des Familiengefüges, ist dabei stark von den sozialen-emotionalen und insbesondere von den kommunikativen Kompetenzen jedes einzelnen Mitgliedes innerhalb der Großfamilie abhängig. Dies schließt die Fähigkeit der Personen zur Abgrenzung und zum Schutze des eigenen psychischen Wohlergehens mit ein. Es ist davon auszugehen, dass Kinder aus Scheidungsfamilien einen höheren Bedarf an sozialer und emotionaler Unterstützung durch die Großfamilie, zur Wahrung eines positiven Familienklimas, haben. Dies trifft ebenso für bereits erwachsene Scheidungskinder zu, die möglicherweise selbst schon Eltern geworden sind. Wie wir sehen, spielen auch die Anforderungen an die Großfamilie eine bedeutende Rolle, da sie mithilfe der sozialen Ressourcen, die sie bereithält, eine Art Auffangnetz darstellen kann. Meine weiteren Betrachtungen sollen im Ansatz aus sozial-, entwicklungs- und biopsychologischer Perspektive erfolgen. Wobei die vorliegende Arbeit nur einen kleinen Ausschnitt eines großen und komplexen, ganz alltäglichen, individuellen Themenbereiches widerspiegeln kann. Vor dem klinischen familienpsychologischen Hintergrund möchte ich versuchen, wichtige Ressourcen und Strategien für betroffene Kinder, Eltern und Familien anzureißen. Ein Manual oder eine Bedienungsanleitung für die richtige Trennung und Scheidung mit minderjährigen Kindern wird diese Arbeit nicht sein. Es soll vielmehr aufgezeigt werden, welche Probleme, Gefahren und Herausforderungen mit einem Zerfall der Kernfamilie verbunden sind, welche Bedeutung die sozialen Ressourcen der Groß- oder Patchwork Familie haben und vielleicht lassen sich daraus für den ein oder anderen hilfreiche Bewältigungsstrategien ableiten.