Читать книгу Die Musik auf den Dächern - Selim Özdogan - Страница 11

DAS KLEID MEINER MUTTER

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Als ich aufwachte, lag wieder das Kleid meiner Mutter im Garten. Dieses Mal das mit dem bunten Blumenmuster, mitten auf dem Rasen.

Beim ersten Mal war es das rot gepunktete gewesen. Ich war aufgewacht, hatte noch ein wenig im Bett gelegen, im Haus war es still gewesen, es musste einer von den roten Tagen im Kalender sein. Ich wollte runter in die Küche gehen und mir Cornflakes holen, um sie im Bett zu essen, während ich Märchen hörte.

Als ich an der Terrassentür vorbeikam, bemerkte ich draußen einen Farbfleck auf dem Rasen. Als ich hinausschaute, sah ich das Kleid meiner Mutter. Ich ging raus und blieb vor dem Häufchen Kleid stehen. Ich sah hoch zum Schlafzimmerfenster, doch es war zu weit rechts, dort konnte sie es nicht rausgeworfen haben. Und warum sollte sie das auch tun? Aber wenn sie es nicht rausgeworfen hatte, warum lag es dann hier? Ich versuchte, mich zu erinnern, was sie am Abend angehabt hatte. Nicht dieses Kleid, glaubte ich. War ihr irgendetwas passiert? Ich war nicht aufgewacht, ich hatte Vater nicht schreien hören. Hatte sie ihren Koffer gepackt und war durch den Garten rausgegangen und hatte dabei dieses Kleid verloren? War sie weg?

Ich ging wieder ins Haus, als würde das helfen. In der Küche standen zwei Gläser, die nicht in die Spülmaschine geräumt waren. Zwei, sagte ich mir. Zwei. Zwei. Wie Hänsel und Gretel. Wie Schneeweißchen und Rosenrot. Wie Brüderchen und Schwesterchen. Wie der Fischer und seine Frau.

Zwei. Das sagte ich mir manchmal abends unter der Bettdecke. Ich zog sie mir über den Kopf und dachte: Ich werde es ganz lange hier aushalten und immer wieder zwei sagen. Zwei. Zwei. Zwei. Zwei. Eine Eins und eine Eins, die ganz fest zusammengehören. Zwei, zwei, zwei, zwei.

Ich versuchte oft, Dinge zweimal zu machen. Zwei Schlucke trinken, bevor ich das Glas absetzte. Die Türklinke zweimal herunterdrücken, bevor ich die Tür aufmachte. Immer zweimal Danke sagen. Danke. Danke. Und Bitte auch. Bitte. Bitte. Wenn ich wusste, dass niemand in der Nähe war, der schimpfen konnte, spülte ich zweimal, wenn ich auf der Toilette gewesen war. Ich hörte Märchen zweimal hintereinander. Eins und eins.

Einmal hat meine Mutter mich gefragt, warum ich ihr immer zwei Küsse gebe.

– Weil ich mir vorstelle, dass ich einen Freund habe, mit dem ich alles teile, habe ich gesagt. Für ihn gebe ich dir auch einen Kuss.

Sie hat mich komisch angesehen, aber sie hat mir geglaubt. Sie glaubte mir auch, dass das Taschengeld mir nicht wichtig wäre. Weil ich nie danach fragte, auch wenn sie es vergaß, was oft passierte. Ich wusste, dass sie mir mehr gab, wenn sie glaubte, es wäre mir nicht wichtig.

Sie glaubte, ich wäre nicht gierig. Sie glaubte, ich würde nicht lügen. Sie glaubte, ich würde schlafen, wenn sie weinte. Dabei war ich unter der Bettdecke und murmelte: zwei, zwei. Ich muss nur länger unter der Bettdecke bleiben, als sie weint. Dann wird alles gut. Dann wird alles gut.

Ich sah mich noch mal im Wohnzimmer um. Vor dem Sessel waren die Schuhe meines Vaters. Dort zog er sie sonst nie aus. Die Schuhe meiner Mutter waren nicht da. Auch nicht im Flur. War sie etwa doch gegangen? Gegangen? Ich machte den Wandschrank auf. Ich zählte. Alle Koffer waren noch da. Ich zählte noch mal.

Hatte sie eine Tasche mitgenommen? Einen Beutel? Aus dem dann das Kleid gefallen war? Es zog in meinen Handflächen und Fußsohlen, wie es schon vorher gezogen hatte, als ich das Kleid gesehen hatte. Ich kannte das Gefühl. Ich hatte es erfunden. Ich wusste aber keinen Namen dafür.

So zog es auch, wenn mein Vater auf diese bestimmte Art ausatmete und ich wusste, dass jetzt nichts mehr die Zukunft verändern konnte. Ich konnte ihn bitten, mit mir Memory zu spielen, ich konnte versuchen, mit ihm zu balgen, ich konnte ihn küssen oder ich konnte wie aus Versehen ein Glas fallen lassen, ich konnte die Musik zu laut machen, aber ich konnte die Zukunft nicht mehr verändern. Bitte. Bitte. Danke. Danke. Wenn er so ausgeatmet hatte, war alles zu spät. Ich weiß nicht, ob meine Mutter das auch wusste. Manchmal sah es so aus, als würde sie alles dafür tun, damit er so ausatmete, als sei er sehr, sehr müde. Wenn er so ausgeatmet hatte, zog es in meinen Händen und Füßen.

Ich schlich leise die Treppe hoch, nachdem ich den Wandschrank vorsichtig wieder geschlossen hatte. Ich glaubte, man könne das Gefühl hören, das ich erfunden hatte. Leise, sehr leise drückte ich die Klinke runter. Und ließ sie wieder los. Und drückte sie noch mal runter und machte die Tür auf, einen Spalt nur.

Mutter lag im Bett.

Das Ziehen in meinen Händen und Füßen verschwand.

Vater lag auch im Bett.

Man konnte ein Stück ihres Rückens sehen. Sie trug keinen Schlafanzug.

Leise schloss ich die Tür, ging wieder runter in den Garten und sah auf das Kleid. Obwohl Mutter im Bett lag, kam das Gefühl zurück, als ich auf das Kleid sah.

Ich ging in mein Zimmer und zog mir die Decke über den Kopf. Zwei. Zwei. Als ich schon keine Luft mehr bekam, zog ich die Decke weg, ging runter und holte mir Cornflakes. Dann setzte ich mich auf das Bett und hörte Die zertanzten Schuhe.

Wie oft hatte ich mir vorgestellt, ich hätte auch ein Bett, an das man klopfen konnte und das dann in der Erde verschwand und einen geheimen Gang freigab. Einen Gang, der einen an einen Ort führte, an dem man die ganze Nacht froh sein konnte.

Und wie oft hatte ich mich gefragt, warum die Prinzessinnen nicht barfuß gingen, warum sie es zuließen, dass ihre Schuhe sie jeden Morgen verrieten. Tanzen konnte man doch auch barfuß.

Jetzt fragte ich mich, ob meine Mutter vielleicht so eine Tür oder einen Schrank hatte, an den man klopfen konnte und man sah eine geheime Treppe. Und ob sie ihr Kleid nicht absichtlich hier gelassen hatte, weil es sonst morgens verriet, wo sie nachts gewesen war. Weil sie es verschwitzte beim Tanzen. Aber warum war es dann im Garten? Ich sah aus dem Fenster. Es lag immer noch da.

Waren die Prinzessinnen eigentlich unglücklich, nachdem ihr Geheimnis entdeckt worden war? Wieso sollten sie nachts nicht tanzen? Was war mit der Ältesten, die den Soldaten heiratete, der sie verraten hatte? Atmete der Soldat auch so aus wie mein Vater? Weinten die Prinzessinnen, weil sie nicht mehr in das unterirdische Schloss durften? Warum wurden nur die Prinzen verwunschen, mit denen sie getanzt hatten? Und wenn sie jetzt nachts nicht tanzten, zogen sie sich die Bettdecke über den Kopf und wünschten sich etwas, ganz, ganz feste? Ich verstand Märchen nicht, aber das hier verstand ich am allerwenigsten.

Mutter und Vater schliefen lange an diesem Morgen. Und es war etwas anders als sonst, als sie in der Küche standen. Sie ließ ihre Hand über seine Schulter und seinen Arm gleiten, als sie mit ihm sprach. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Es war, als hätten sie sonst immer etwas für sich behalten wollen, das sie jetzt einfach verschenken konnten. Vater zog mich auf seinen Schoß, während er Kaffee trank. Ich hatte am Abend unter der Bettdecke nichts anders gemacht als sonst und ich war mir deshalb fast sicher, dass es eine geheime Tür gab, von der sie mir nichts erzählten. Vielleicht hatten sie in einem unterirdischen Schloss getanzt, vielleicht hatten sie eine Musik gehört, die ich nicht kannte. Vielleicht war eine Wolke verschwunden, die sonst immer da war, und jetzt konnten wir sehen, dass der Himmel blau war und nicht weiß. Und ich freute mich, weil ich immer schon gewusst hatte, dass es nur eine Wolke war und nicht der Himmel. Es war wirklich keine Absicht, als ich das Glas fallen ließ. Aber es schimpfte keiner. Mutter lachte sogar darüber.

Vielleicht würden sie mir von der Tür erzählen.

– Warum liegt dein Kleid im Garten?

Sofort konnte ich sehen, dass sie ein Geheimnis hatten, das sie mir nicht verraten wollten.

– Dem war gestern Abend langweilig im Schrank, da haben wir ihm erlaubt rauszugehen, sagte mein Vater.

Aber er hatte mir auch erzählt, dass Löwenzahn aus dem Gebiss von Löwenbabys gemacht wird.

Sie lachten und irgendwo hinter dem Lachen war ihr Geheimnis. Ein paar Tage lang hüteten sie es, doch dann verschwand das Lachen, hinter dem sie dieses Geheimnis versteckt hatten, und sie wussten nicht mehr, wo sie es suchen sollten.

Ein paar Tage lang war es so, als würde ich verreisen, wenn ich nachts schlief, als wäre ich an einem Ort, an dem man tanzen und lachen kann. Ich merkte gar nicht richtig, wann sich das Gefühl wieder anschlich, das ich erfunden hatte. Bitte. Bitte. Danke. Danke.

Und dann wachte ich auf und wieder lag ein Kleid meiner Mutter im Garten. Dieses Mal war es das bunte mit dem Muster aus großen Blumen und nicht das rot gepunktete. Ich sah das Kleid und wollte mich freuen. Aber ich fürchtete, dass es dieses Mal anders sein könnte. Es zog in meinen Händen und Füßen. Ich musste vorsichtig sein.

Die Musik auf den Dächern

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