Читать книгу Die Musik auf den Dächern - Selim Özdogan - Страница 9

DIE BIBELWERKSTATT

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Hillalum wusste nicht, ob er gekommen war, um zu klagen, um anzuklagen oder um Trost zu finden.

Drei Jahre waren vergangen, seit sein Sohn gestorben war, ein Jahr, seit seine Frau ihn verlassen hatte, ein Monat, seit sein Vater erst seine Mutter und dann sich selbst getötet hatte.

Warum?, fragte er. Warum ich? Was habe ich getan? Wie oft habe ich Zuflucht gesucht bei Dir, aber Du hast sie mir nicht gewährt. Einen Menschen nach dem anderen hast Du mir genommen. Sieh, ich bin allein und völlig hilflos. Was willst Du von mir? Was?

Er fragte sich, ob es Hoffnung war, die ihn zur Gottmaschine gebracht hatte, oder Verzweiflung. Vierzehn Tage Fußmarsch hatte er hinter sich, vierzehn Tage, in denen er immer wieder fortgejagt worden war, wenn er um Essen gebeten hatte. Man hatte ihn für einen Vagabunden gehalten, für einen Dieb, für einen Bettler. Vierzehn Tage hatte er sich von dem ernährt, was er in den Abfällen gefunden hatte, und von den Beeren und Wurzeln im Wald. Zwei Tage war er danach angestanden, um Einlass in die Maschine zu erhalten. Zwei Tage, in denen er mit keinem der übrigen Wartenden gesprochen hatte. Wir sind gleich, hatte Hillalum gedacht, doch es hilft nicht, ich bin getrennt von ihnen. Das Leid verbindet uns nicht.

Als er schließlich die Gottmaschine betrat, sank er auf die Knie.

Zunächst sollen die Menschen es Bibelwerkstatt genannt haben, doch heute hieß das Ladenlokal nur noch Gottmaschine. Vor der Bibelwerkstatt soll ein Schuster darin gewesen sein, doch das ist so lange her, dass niemand mehr lebt, dessen Eltern sich daran hätten erinnern können. Nach dem Tod des Schusters hatte ein Schreiber, dessen Name nicht erhalten ist, den Laden übernommen. So wie Luther die Bibel in die Sprache des Volkes übersetzt hatte, übersetzte dieser Bibelschreiber sie in die Sprache seiner Kunden.

Der Bibelschreiber hatte einen Blick für das feine Spitzenwerk der Seele, hieß es. Er setzte sich mit seinem Kunden hin und plauderte. Niemand kam sich ausgefragt vor, niemand hatte das Gefühl, der Bibelschreiber fühle ihm auf den Zahn oder trachte nach seinen Geheimnissen.

Der Bibelschreiber hörte die Sehnsucht der Menschen, die Sehnsucht nach Gott, nach Sinn, nach Frieden, nach Gerechtigkeit. Er hörte in ihren Worten das Leid, den Tod, den Verlust, die Verzweiflung, die Angst. Er hörte ihre Verlorenheit in diesem Tunnel aus Zeit, in dem sie kein Licht erkennen konnten. Er hörte, wie sie glaubten, alles würde sich fügen, wenn sie nur Gott fänden, wenn der Mann nicht mehr trinken würde und anfinge zu arbeiten, wenn die Kinder aufhörten, ins Verderben zu rennen, und der Hunger keinen Platz mehr hätte im Heim.

Er hörte, wie sie von einer Stimme gerufen wurden. Sie wurden gerufen, deswegen kamen sie zu ihm, aber sie kamen auch, weil sie sich mehr erhofften als nur diese Stimme.

Sie wollten dieses Leben meistern, als wäre es ein Handwerk, das man erlernen könnte. Er hörte sie alle, wenn sie auf der Holzbank saßen: breitbeinig, zurückgelehnt, gestikulierend, schüchtern, verängstigt, wütend. Anklagend, erschöpft, bewegungslos, herausfordernd, weinend, lachend, fluchend, Trost suchend. Er hörte sie alle, als sei er das Ohr Gottes.

Und wenn sie gegangen waren, setzte er sich an den Tisch und schrieb. Er schrieb das heilige Buch in einer Sprache, die jene Saite im Menschen zum Klingen brachte, die ihn mit Gott verband. Er fand die geheime Melodie in den Wörtern und Sätzen, die auch den größten Zweifler unter ihnen berührte und ihn die Gegenwart einer Kraft spüren ließ, die schon immer da gewesen war.

Die Bibel konnte das Chaos nicht entwirren, denn dann hätte sich die Welt geändert. Sie lieferte keine Antworten, und sie erlaubte nicht, sich in ihr vor der Welt zu verstecken. Wer es versuchte, wurde Wort für Wort gefunden.

Der Bibelschreiber bot keine Lösung, sondern Licht. Ein Licht aus Worten, die so fein gewählt waren, deren Klang so genau auf den Hörer abgestimmt war, dass sie ihren Weg ins Herz fanden.

Über siebzig Jahre lang soll der Bibelschreiber dort gearbeitet haben, seine Augen und Ohren sollen schlechter geworden sein, er soll immer länger für die Bücher gebraucht haben. Alle, die sich an ihn erinnern können aus einer Zeit, in der sie kleine Kinder waren, sagen, dass er damals über hundert gewesen sein muss.

Nachdem man den Bibelschreiber eines Morgens tot auf seiner Holzbank sitzend gefunden hatte, wurde die Schreibstube zu einem Ort, der die Menschen berührte, wie die Bücher sie berührt hatten. Wer eine halbe Stunde dort blieb, spürte die Melodie Gottes in seinem Blut, spürte, wie seine Widerstände sich auflösten und er Vertrauen fand, sich den Gezeiten des Lebens auszuliefern.

Wie bei den Büchern auch, schien es Menschen zu geben, die diese Melodie besser hören konnten als andere. So wie manche schneller liefen, höher sprangen oder rascher rechneten, so gab es wohl Menschen, die begabter waren, das Lied Gottes zu hören.

Manche behaupteten, wenn es diese Melodie wirklich gäbe, müssten alle sie gleich gut hören können. Die Gottmaschine, wie die Bibelwerkstatt jetzt genannt wurde, sei nichts als Blendwerk. Und selbst wenn sie kein Blendwerk sei, dann hieße das immer noch nicht, dass die Melodie wirklich von Gott kam. Die Gottmaschine, sie nannten es so, weil es die eigene Kraft verstärkte, so kümmerlich sie auch sein mochte.

Hillalum wartete. Er hoffte, dass irgendetwas in ihm sich aufrichten würde. Er dachte an seinen Sohn. An dieses winzige Wesen, das er in seinen Armen gehalten hatte. Er dachte an das Gefühl, als hätten seine Grenzen sich aufgelöst. Als hätte er nicht nur einen Sohn bekommen, sondern als wäre die ganze Welt zu seiner Familie geworden. Drei Wochen hielt dieses Gefühl an. Drei Wochen, dann hörte Enki einfach auf zu atmen.

Zunächst schien es, als würde sein Tod Rahel und Hillalum fester zusammenschweißen. Ein Jahr lang lehnte sich jeder am anderen an, und gemeinsam fielen sie nicht um.

Hillalum konnte nicht sagen, wann sie angefangen hatten, sich voneinander zu entfernen, wann die Gespräche über ein zweites Kind begonnen hatten, wann die Ängste, Hoffnungen und Wünsche sich zwischen sie gedrängt hatten. Bis Rahel schließlich ging.

Auf den Tag genau elf Monate nachdem Rahel gegangen war, war Hillalums Vater aufgetaucht, der Mann, der seine Mutter noch vor seiner Geburt verlassen hatte, weil er sie für untreu hielt. Nach 26 Jahren war sein Vater aufgetaucht, mit einer Axt in der Hand, und hatte Hillalums Mutter erschlagen, war dann in den Wald gelaufen und hatte sich erhängt.

Hillalum betrat also die Gottmaschine und sank auf die Knie.

– Warum?, schrie Hillalum. Warum ich?

Wem?

– Was?

Wem ist das passiert?

– Mir. Mir. Warum mir? Warum hast du mir alles genommen?

Wem?

– Mir.

Wer bist du?

– Hillalum. Dein Diener. Vielleicht. Ich weiß es nicht mehr. Was habe ich getan? Wo habe ich mich schuldig gemacht? Wo habe ich gesündigt?

Ich kenne keinen Hillalum. Es gibt niemanden, der gesündigt haben könnte.

Hillalum schrie, er schrie so laut, dass er dachte, seine Lungen würden bersten. Er wollte gesehen werden, gehört, verstanden. Er schrie und weinte. Er schlug auf den Holzboden. Er füllte den ganzen Raum mit seinem Leid, doch niemand sah ihn.

Wann soll dieser Hillalum denn entschieden haben, geboren zu werden? Wann soll er sich entschieden haben zu wachsen? Wann soll er sich entschieden haben, zu einem Mann zu werden und seine Lenden mit Kraft zu gürten? Wann soll er sich entschieden haben zu träumen, und wann soll er entschieden haben, was ihm im Traum erscheint?

– Herr, habe ich nicht immer zu Dir gebetet?

Wer soll das gewesen sein, der zu mir gebetet hat?

– Hillalum, krächzte Hillalum.

Sein Hals brannte, er fühlte sich, als hielte ihn nichts mehr zusammen, als könnte er jeden Moment auseinanderfallen. Und vielleicht fiel er auseinander. In einen Teil, der ein Kind war, das mit brombeerverschmiertem Mund in die Arme seiner Mutter lief. Einen Teil, der Rahel sah und sofort wusste, dass er sein Leben mit ihr teilen wollte, teilen und weitergeben. Einen Teil, der in der Schule saß und das Gefühl hatte, die Lehrer würden ihm seine Zeit stehlen und sein Leben nehmen. Einen Teil, der stolz und hochmütig war. Einen Teil, der mahnend und vorsichtig war. Einen Teil, der mutig und vertrauensvoll war. Einen Teil, der an Gott glaubte, und einen, der zweifelte. Einen Teil, der Zuflucht suchte, und einen Teil, der fluchte.

Hillalum zerbrach. Er schrie noch einmal seinen Namen, doch er wusste nicht mehr, wer das sein sollte. Hillalum. Nur dieses Fleisch und diese Knochen, die sich auf dem Boden hin- und herwarfen?

Was hatte ihn zusammengehalten?

Wem ist das widerfahren?

Im Traum ist man meist man selbst, aber man ist gleichzeitig auch all die anderen. Man ist die anderen, erlebt sie aber als getrennt von sich selbst. Man ist das Theater, die Bühne, die Ausstattung, der Regisseur und alle Schauspieler gleichzeitig. Hillalum. Ich bin hier.

Wenn man am Ende der Zeit angekommen ist, am Ende der Zeit Hillalums, wird es ein Erwachen geben für jemanden, der nie Hillalum gewesen ist.

Ein König mag glauben, dass er ein Reich hat. Doch vielleicht ist es das Reich, das einen König hat.

Hillalum mag daran zweifeln, dass er eine Seele hat.

Die Seele zweifelt nicht daran, dass sie einen Körper hat.

Du bist nicht dieser Körper. Was wäre anders, wenn man dir eine Hand abhacken würde? Du würdest dich immer noch Hillalum nennen. Du bist auch nicht deine Gedanken. Deine Gedanken haben sich geändert, immer wieder. Du bist nicht, was du siehst, denn auch das hat sich stets geändert. Du bist nicht, was du hörst. Und du bist auch nicht, was du fühlst. Nicht die Freude und nicht der Schmerz. Du bist. Ein Teil. Ich bin. Ein Teil.

Auch dort, wo du Schatten siehst, ist Licht. Licht, das woanders hinfällt.

Du bist. Der Atem. Die Zeit. Das Licht.

Es hat nie einen Hillalum gegeben. Es gibt keine Tropfen im Ozean.

Ich bin. Die Schöpfung. Das Licht. Das Leben.

Der Tod des Todes.

Du bist.

Ich bin.

Das Licht und der Atem und der Schatten.

Du weißt.

Jeder weiß.

Alles weiß.

Alles hört.

Alles.

Nichts.

Alles.

Eins.

Die Musik auf den Dächern

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