Читать книгу Edgar P. Srb versucht sich zu erinnern - Serge Berger - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеNachdem der Totengräber Mr. Puffy und Fräulein Glock weggebracht hatte, erklärte Mutter Yolanda meine Karriere als Bauchredner zu meinem Leidwesen für beendet.
Sie setzte sich mit mir an den Küchentisch, rauchte eine ihrer Mentholzigaretten und sah mich an. Dann nahm sie einen Schluck Wermut und starrte auf die karierte Tischdecke. Dann sah sie wieder mich an und meinte: "Sohn, du warst töricht gewesen! Ich sende dich darob zum Pastor, der dir den rechten Weg weisen wird!" Damit ich mich nicht in der eigenen Biografie verirre, merke ich an, dass ich damals um die zehn gewesen sein muss.
*****
Pastor Meinhard küsste seine zahlreichen Ringe auf seinen Fingern. Ich mutmaßte, er wollte einen Liberace-Doppelgängerwettbewerb gewinnen. Wie er es mit jungen Männern hielt, weiß ich nicht.
Ich saß mit ein paar anderen Jugendlichen in einem klassenzimmerähnlichen Raum, wo einige Kreuze rumstanden. Wir Jungen saßen auf harten Sessel im Kreis, und der Pfarrer begann seine Rede.
"Meine lieben Freunde! Menschen gibt es viele. Sie kriechen und kreucheln herum, sonderzahl, mit ihren ekligen Fühlern und acht Beinen und haarigen Augen und diesen Sekreten, die sie immer absondern...und die Schwiegermütter sehen noch viel widerlicher aus. Also die Menschen. Wenige von ihnen können sich guten Gewissens rechtschaffen nennen. Vielleicht zehn von hundert. Von diesen zehn sind nicht mehr als sechs wahrhaftig. Sechs an der Zahl und wohl kaum mehr als zwei davon sind edlen Gemüts. Und von diesen zweien bleibt am Schluss vielleicht gerade mal eine Milz, die man ohne Abstriche als unschuldig und rein bezeichnen kann. Eine Milz von hundert Menschen. Gibt einem doch zu denken. Ihr meine jugendlichen Freunde, seid nicht unschuldig und rein. Ihr macht Ärger, Sorgen und Probleme. Und deshalb müsst ihr euch ändern und zum Herrn finden. Denn eins müsst ihr verstehen. Es wäre eine totale Schande für eure Eltern, deren Geschäft, das Haus, im dem das Geschäft steht, in dem eure Eltern wohnen, die Straße, in der das Haus steht, in dem das Geschäft steht, in dem eure Eltern wohnen und generell eine Schande für die Stadt, in dem die Straße liegt, in der das Haus steht, in dem das Geschäft steht, in dem eure Eltern wohnen, würdet ihr versagen. Das gilt übrigens auch, wenn eure Eltern separat von ihrem Geschäft wohnen oder irgendwo angestellt sind.
Dann nämlich würde ein Meer der Schmach über euch hereinbrechen wie ein alles verschlingender giftspritzender Tsunami, der sich anschickt, euch den jüngsten Tag zu bringen, die finale Apokalypse, die wie Gottes Strafe über euch hinwegfegt um das Schandmal, das ihr blöden Sünder gezeichnet habt, für immer auszulöschen im reinigenden Feuer des Herrn und euch Seelenlosen direkt in die Hölle bringt wo ihr bei lebendigem Leibe bis in alle Ewigkeit in Satans Flammenmeer verkohlt! Harhar! Und das nächste Mal besprechen wir Masturbation vor der Ehe."
Ich war tief beeindruckt von den Worten Pastor Meinhards, allerdings hielten sie mich nicht davon ab, auch im späteren Leben hin und wieder das Kennzeichen töricht1 anzuschrauben.
*****
Wieder saß ich mit Mutter am Küchentisch. Wieder rauchte sie Mentholzigaretten und trank Wermut. Wieder studierte sie die Tischdecke. "Mein Sohn", sagte sie, die wohl Zweifel an meiner Wandlung hatte, "du warst absonderlich gewesen. Ich sende dich darob zum Trainer, der dir den rechten Weg weisen wird!"
*****
Dieses Mal saßen die Zuhörer nicht im Kreis sondern in Reihen, wie in der Schule. Vorne allerdings gab es keine grüne Tafel sondern einen Flipchart. Die Decke war mit Holz getäfelt. Im Auditorium saßen dicke Frauen und müde unrasierte Männer. Der Trainer war jung und seine Haare standen zu Berge. Er bewegte sich während seines Vortrages viel um seine Dynamik zu unterstreichen.
"Das Schlimmste ist die Orientierungslosigkeit der jungen Menschen, die vom einem hakenschlagenden Schicksal aus der Bahn geworfen wurden. Sie fühlen sich ohne Wert, sie wissen nicht wohin. Sie schauen sich um und sehen Menschen, die es geschafft haben. Menschen mit funktionierenden Partnerschaften, gelungenen Karrieren in der Wiederverwertungsbranche, die sich jedes Jahr einen Urlaub in Novo-Sibirsk leisten können und trotzdem Zeit für ihre Hobbys und ihre Freunde und ihr Fitnessstudio haben und denen die Torten nie ausgehen. Und die Gestrauchelten denken sich dann ganz verzweifelt Wie machen die das? Warum gelingt mir das nicht? Ich will auch eine Torte! Aber ich kann Sie beruhigen. Schauen Sie mal auf den Overheadprojektor. Wie Sie meiner kleinen Grafik entnehmen können, schaffen es mehr als 80 Prozent der Menschen, ein funktionierendes Arbeits- und Sozialleben zu erlangen. Die restlichen sind Leute, die aufgrund ihrer bizarren persönlichen Struktur zu sowas gar nicht fähig sind. Diese findet man häufig auf der Straße, in der Kriminalität, im Gefängnis und im Milieu der Fernsehintendanten. Und das ist schlimm, denn dort gibt es nur Sekt und Kaffee, aber niemals Torten! Was ich euch mit diesen wissenschaftlichen Worten sagen möchte ist: verzweifelt nicht! Ich sehe gesunde, kluge Menschen vor mir! Ich garantiere euch: in spätestens einem Jahr werdet ihr euer Leben im Griff haben! Wenn ihr nur daran glaubt! Wenn ihr nur etwas aus euch macht! Und dann werdet ihr an heute zurückdenken und euch wundern, wie leicht und einfach ihr zu euch selbst gefunden habt! Aber fangt klein an! Für jeden reicht es nicht für eine Torte! Beginnt mit einer Apfelschnitte! Oder einem Grahamkeks!"
Ich klatschte seinen Wort Beifall, so ergriffen war ich. Leider hielten sie mich auch nicht davon ab, im späteren Leben hin und wieder zum Mikrofon zu greifen und die Hymne der Absonderlichkeit zu intonieren.
*****
Das dritte Mal in einem Monat mit Mutter am Küchentisch. Irgendwie schien sie nicht so recht von meinen Fortschritten dank outgesourcter Erziehungsmaßnahmen überzeugt worden zu sein. Also wieder Mentholzigaretten und Wermut. Wieder Studieren des Küchentischtuchs. Und schließlich: "Sohn, du warst verschroben gewesen. Darob schicke ich dich zur Feministin, die dir den rechten Weg weisen soll."
*****
Im feministischen Buch- und Schnapsladen, dessen Namen ich nicht mehr weiß, saßen viele Frauen in lila Latzhosen, um nur ja das Klischee zu bedienen. Auf einer kleinen Bühne saß eine Feministin, deren Name ich nicht mehr weiß, auf einem Barhocker, sprach ihre Wort sorgsam aus und rauchte dabei ununterbrochen Zigaretten, deren Namen ich nicht mehr weiß.
"Ich habe nie in meinem Leben was gearbeitet! Also nie! Ich komme ja aus einem gutsituierten Elternhaus! Klar! Ich habe nie in meinem Leben in einer Sozialwohnung gewohnt. Den sozialen Wohnbau mag ich nicht, meine Eltern hatten nämlich eine Eigentumswohnung. Die haben mir immer alles gezahlt, weil ich der ur liebe Hippie war. Ich hab lieb geschaut und schon waren die Tausender da. Körperliche Arbeit? Ich bin doch nur eine Frau! Das kann man mir nicht zumuten. Ich muss gebären! Also hab ich studiert und war mit einem Typen zusammen, der war genauso wie ich. Die Eltern gestopft, er hat mich ausgehalten und gestopft. Das kann man mir zumuten, ich bin schließlich eine Frau. Statt fernzusehen diskutierten wir über unmenschliche Regime. Das Glück schien nicht mehr aufzuhören. Aber dann brach alles zusammen. Wir gingen einmal in so ein kleines Lokal. Aber die baten Negerbier feil. Ich sagte ihm, dass damit unsere schwarzen Freunde diskriminiert werden. Wer heute Negerbier trinkt, schlägt morgen Juden tot. Da meinte er, es widert ihn schon an, ständig nur über Nationalsozialismus zu diskutieren und dass ich gefälligst mal arbeiten gehen soll. Die Maske hat er sich vom Gesichte gerissen, sein Haupte war das eines sexistischen Reaktionärs, jawoll! Natürlich habe ich ihn sofort verlassen, es ist schließlich wichtig für eine Frau, dass sie finanziell unabhängig ist! Dann war ich mit einem ur lieben Hippie zusammen, aber der war Student und konnte mich nicht ernähren. Immer gab es nur Kartoffeln weil er mir zeigen wollte, wie wundervoll Kartoffeln sind. Da habe ich gesagt zeig mir mal wie wundervoll ein T-Bone-Steak ist!! Aber das konnte der verdammte Bastard sich nicht leisten! Ich bin dann gleich zu einer Frauengruppe. Wir haben uns gesagt, die Männer haben uns enttäuscht und ausgebeutet, wir können das alleine alles viel besser. Und jetzt halte ich es endlich mit dem unabhängigen Dasein als selbstbestimmte Frau. Da kann ich jeden Abend ein paar Flaschen schönen Rotwein trinken. Und in der Früh, wenn mein Kopf explodiert, ist kein Mann da, der mich ein versoffenes Wrack nennt."
Ich war tief beeindruckt von ihren warmen, warmen Worten, die mich allerdings auch später nicht davon abhielten, mein Hörnchen gelegentlich in den süßen Schaum der Verschrobenheit zu dippen.
Mutter Yolanda hingegen war nicht erfreut. In einem letzten Versuch, ihren Sohn zu Vernunft zu bringen, schickte sie mich zum Pfadfinderführer. Und Pfadfinder wurde ich dann auch.
*****
Pfadfinderführer Ike Haggadag war ein kleiner Mann um die sechzig. Er war dünn und sehnig und lebte sein Pfadfinderleben nach dem Motto Lehre und Belohne.
"Wölflinge", sagte er zu uns Pfadfindern, "ich lebe mein Pfadfinderleben nach dem Motto Lehre und Belohne. Darum bekommen meine Pfadfinder für jede bestandene Aufgabe einen Badge. Zum Beispiel für die Rettung aus einer brennenden Hütte im Wald."
"Ist das nicht gefährlich?" fragte ich, denn die anderen beiden Jungpfadfinder waren farblose Statisten.
"Junge, ein Pfadfinder trotzt den Elementen! Und bekommt dafür einen Badge!" erklärte Haggadagg.
Gleich am nächsten Tag waren wir drei Buben im Wald auf Fährte. Und schon hörten wir das klägliche Zu Hülf, Zu Hülf, Zu Hülf! einer schönen Maid, die in einer brennenden Hütte darbte. Zum Glück konnten wir sie retten, bevor das Holzhaus zusammenbrach.
Doch gab es dafür den Maid aus der Hütte retten-Badge? Nein, es gab den Transvestiten aus der Hütte retten-Badge, denn bei der schönen Maid handelte es sich um den verkleideten Pfadfinderführer, der meinte, auch Exaktheit muss gelernt werden. Man muss ja schließlich wissen, wen man rettet. Wir wackeren Wölflinge waren wahrlich wütend!
Zu einer anderen Gelegenheit hörten wir abermals ein klägliches Zu Hülf, Zu Hülf, Zu Hülf! und wieder kam es aus einer brennenden Holzhütte. Wieder stürmten wir hinein und retteten einen Pudel, auf dessen Halsband stand Eigentum der Königin von England Elisabeth II. Erstaunt waren wir nicht, als sich der Pudel als Kostüm entpuppte, aus dem Pfadfinderführer Haggadagg heraus stieg.
"Pfadfinderführer, Sie haben uns gelehrt, dass wir wissen müssen, wen wir retten! Daher muss ich Ihnen den Hundeverkleidungs-Badge abreißen!" sagte ich streng und schon war der Badge herunten und hinterließ ein kleines Loch auf der Uniform.
"Warum das?" fragte Haggadagg konsterniert.
"Na hören Sie mal, ein Hund ruft doch nicht Zu Hülf, Zu Hülf, Zu Hülf! Der bellt."
"Das ist richtig", war Haggadagg beschämt.
"Außerdem", ergänzte ich, "hat die Queen ja gar keine Pudel. Die hat Corgis. Also runter mit dem Hundehalterwissen-Badge!"
Und schon war der zweite Badge von Haggadaggs Uniform entfernt.
Ich war streng und riss auch den faires Verhalten-Badge ab, schließlich hatte Haggadagg uns übelst getäuscht. Und so ging es immer weiter mit Badgeabreissen, bis der Pfadfinderführer schließlich nur mehr in Unterwäsche da stand.
Was dem zufällig auftauchenden Polizisten gar nicht gefiel. Dieser nämlich hielt es für verdächtig, wenn ein Erwachsener mit ein paar Halbwüchsigen halbnackt im Wald rumsteht.
Haggadagg versuchte zwar, dem Polizisten den Sachverhalt zu erklären, aber der Polizist wollte ihn aufs Revier nehmen. Und Haggadagg verhielt sich darauf hin ganz nach Pfadfindermanier und riss dem Polizisten die Polizeimarke ab. Worauf der Polizist sich ganz nach Polizistenart verhielt und dem armen Haggadagg die Scheiße aus dem Leib prügelte. Und dieser schrie Zu Hülf, Zu Hülf, Zu Hülf!
Zum Glück ließ sich unser geschätzter Chef nicht so leicht unterkriegen. Ein anderes Mal verkleidete er sich als altes Mütterlein, versteckte sich in einer - nein, nicht Hütte, die Hütten waren schon aus. Irgend so ein Naturrowdy hat alle niedergebrannt. Also versteckte er sich in einem in Bau befindlichen Hochhaus, zündete es an und schrie Zu Hülf, Zu Hülf, Zu Hülf! was ihm wegen Brandstiftung mit Millionenschaden fünfzehn Jahre Gefängnis einbrachte.
Traurig bin ich zu sagen, dass durch Haggadaggs Gefängnisaufenthalt meine Pfadfinderlaufbahn auch zu Ende war. Froh hingegen bin ich zu sagen, dass der Pfadfinderführer sich durch die widrigen Umstände nicht hat unterkriegen lassen.
Durch den kleinen Zwischenfall mit dem Hochhaus - die Zeitungen schrieben damals von einem Flammenden Inferno - wurden ihm vom Staat zwar alle Subventionen gestrichen. Aber Haggadag gab nicht so leicht auf und begann nach der Haft, seine Pfadfindergruppe selbst zu finanzieren. Mit Keksverkauf. Und wer jetzt fragt Und davon kann er leben? dem sage ich Sind ja Haschischkekse. Jetzt rennen ihm die alten Omas die Türe ein und rufen Zu Hülf, Zu Hülf, Zu Hülf! Geben Sie mir was ich brauche!! Sie bieten ihm sogar ihre Körper dafür an! 90jährige!! Stehen in Reizwäsche vor seiner Tür, zwinkern ihm verführerisch zu, schwenken ihren verwelkten Popsch und lecken lasziv ihre lüsternen Lippen!
Als echter Pfadfinder freilich genießt Ike solche Angebote natürlich sehr. Man gönnt sich ja sonst nichts. Aber er kann auch nicht nur an sein persönliches Vergnügen denken, er muss sich schließlich um seinen Pfadfinderclub kümmern! Darum lässt er die alten Omas jetzt bei ihm arbeiten. Als Domina in Stützstrümpfen. Damit verdienen sie ihre Drogen.