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Beweis einer Niederlage
ОглавлениеUnsere Niederlagen beweisen ja nichts,
als dass wir zu wenige sind
die gegen die Gemeinheit kämpfen.
Bertolt Brecht
Sie heißen: Raúl, Mariana
verheiratet
drei Kinder
fünf, sechs und
dreizehn Jahre alt
geflüchtet vor der großen Stadt
auf eine kleine Farm
tief drin und
irgendwo im Land
Außer dass sie
zufrieden waren mit ihrem Leben
außer dass sie sich liebten
und ihre Kinder
aber nicht zufrieden waren
ihrem Land
und
nicht sonderlich gern hatten
das Militär und seine Schergen
gibt es, genau genommen,
nichts besonderes zu berichten
aus dem Leben von Raúl oder Mariana
Soll heißen: bis zu einem
Frühlingsdienstag
mitten drin in unserer Zeit.
Ein Nachbar hatte es gemeldet:
Raúl, Mariana sind schädlich für das Land
Und folgerichtig
vier Wagen ohne Nummernschild
und Uniformen ohne Gesicht
verhaften Raúl
verhaften Mariana
Die Kinder
eine Großmutter
und ein unbekannter Viehtreiber
bezeugen die Verhaftung
gehen zum Richter
Der Richter aber
wusste nichts von Raúl, nichts von Mariana
nichts von Verhaftungen
nichts von Wagen ohne Nummernschild
nichts vom Militär
Man stellte fest:
es gab keine Verhaftung
und es gab Raúl nicht
und es gab Mariana nicht
nur eben ein faselndes Weib
mit Zahnlücken und einer Krücke
drei flennende Gören
und den üblichen
verschüchterten Viehtreiber
sagte der Richter
sagte die Polizei
sagte deine und meine Zeitung
Zugegeben: von Raúl und Mariana
besitze ich nicht viel mehr
als einen sachlichen und ausgewogenen
Bericht
so wie das Sitte ist in meinem Land
eine kleine Zeitungsmeldung
und einem Foto
auf diesem Foto sind drei alberne Kinder
und Mariana und Raúl
das heißt: es muss sie also doch
gegeben haben.
Im nächsten Sommer
kommen plötzlich Leute an die sagen
man hätte Raúl gesehen
in einem Krankenhaus des Militärs
vielmehr man hätte
eine verquollene Visage gesehen
und einen aufgedunsenen Unterleib
zwei halb zerquetschte Hände
die schreiben mühsam auf einen Zettel
ich heiße Raúl
benachrichtigt Mariana
das heißt wenn ihr sie findet
sagt ihr, dass ich noch lebe
sagt ihr, dass ich sie liebe
Im Herbst
kommen die Leute noch einmal an und
sagen man hätte nun auch Mariana gesehen
mit geschorenem Kopf
und zerrissenem Kleid
schreibt sie auf einen Zettel
ich heiße Mariana benachrichtigt Raúl
das heißt wenn ihr ihn findet
sagt ihm, dass ich durchhalten werde
sagt ihm, dass wir uns
wiedersehen werden
und zwar ganz bestimmt
Versteht sich
wie das immer ist:
diese Zettel kamen natürlich nie an
auf tausend Umwegen kommen sie
stattdessen zusammen in einem Ordner
der auf meinem Schreibtisch steht
und den Namen von Mariana trägt
und den Namen von Raúl trägt
und das Datum eines Frühlingsdienstags
und zwei Nummern
zwanzigtausendvierhundertvierundfünfzig
zwanzigtausendvierhundertfünfundfünfzig
Nun besitze ich schon mehr:
den noch immer sehr sachlichen
und sehr ausgewogenen Bericht
die kleine Zeitungsmeldung
das Foto
und diese beiden Zettel
die nicht mehr richtig angekommen sind
der eine übrigens von Zigarettenpapier
der andere von einem Fetzen
schmutzigem Karton
Im Winter
erhalte ich einen Brief
in dem steht
dass Raúl gestorben ist
an einem Leberriss
von einem Militärstiefel
sagen die Leute
er starb im Herbst
ziemlich genau als Mariana ihm versprach
dass sie ihn wiedersehen wird
und zwar ganz bestimmt
Und heute morgen endlich
bevor ich diese Zeilen schrieb
hatte ich noch einen Brief bekommen
in dem stand
dass man die nackte Leiche einer Frau
im Straßengraben fand
an der schon fast gewohnten Straße
von Buenos Aires nach Ezeiza
zwei Dinge hatte die Frau noch am Leib
auf ihrem Oberschenkel
eingebrannt ein Wort
Demokratenhure
und um den Finger einen Ring
der so fest saß
dass nicht einmal das Militär
ihn stehlen konnte.
Irgend jemand kam daher
machte ein Foto davon:
aus einem Luftpostbriefumschlag
mit Heldenmarken drauf und einem
unverrutschten Stempel
fällt mir ein Foto entgegen
von einem Ring aus einfachem Gold
und gerade mit der Lupe noch
zu lesen eine Schrift
26. März in Liebe
für Mariana
von Raúl
das heißt
es muss sie also doch gegeben haben.