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NEBENVORSTELLUNG
ОглавлениеPriya und Gigovaz wurden an der Rezeption der Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von einer jungen Frau begrüßt. Das war Charlika Jones, die Dolmetscherin vom Tamilischen Bund, die sie vor einer Woche in Esquimalt kennengelernt hatten. Sie trug schulterlanges Haar und ein goldenes Nasenpiercing. Mollig kompakt und geradeheraus in ihrer Art, sagte sie ihnen sofort, dass sie sie Charlie nennen sollten, sie habe den Namen ihres Ex behalten. Zu mehr hätte er nicht getaugt.
Priya schätzte, dass sie ungefähr gleichaltrig waren. Charlie sprach sowohl fließend Kanadisch als auch authentisch Tamil. Sie gehörte zu der Generation der dritten Kultur, die ihre Identität problemlos wechseln konnte wie ein Paar Schuhe. Wenn Charlie nach Sri Lanka fährt, dachte Priya, reden die Leute sie nicht auf Englisch an, wie sie das bei mir tun.
Die Lobby dieses Regierungsgebäudes war eine extravagante Art-déco-Show mit geschliffenen Glastüren, Marmorwänden und mehrfarbigen Terrazzo-Fliesen mit Sonnenmotiv. Das war die Art von Bauwerk, bei dem das Budget zugunsten des ersten Eindrucks weit überzogen worden war. Die Räume, in denen die Haftüberprüfungen abgehalten wurden, waren garantiert schmucklos und bedrückend.
Es war viertel vor zehn, und ihre Klienten sollten zu ihrem ersten Termin erscheinen. Der Tamilische Bund hatte Gigovaz in Esquimalt neun Namen gegeben: fünf Erwachsene und vier angehörige Minderjährige. Neun willkürlich ihnen zugeordnete Menschen. Neun von 503 Asylsuchenden, die das Pech hatten, in ein Land zu kommen, das gerade schlecht gelaunt war. Priya hatte beim Frühstück die Nachrichten gehört. Kanada ist ein souveräner Staat, hatte Minister Blair gesagt. Wir werden unsere Grenzen vor Gangstern und ausländischen Kriminellen schützen, und vor denen, die es darauf abgesehen haben, unsere Großzügigkeit zu missbrauchen.
Sie warteten auf den Bus des Justizvollzugs, der mit ihren Mandanten auf dem Weg hierher war. Gigovaz hielt sich seine Zeitung, die Globe and Mail, vors Gesicht, Charlie hatte sich einen Einwegbecher mit Kaffee geholt. Priya hatte nichts zur Hand und versuchte krampfhaft, beim unumgänglichen Small Talk die Finger stillzuhalten.
Schönes Wochenende gehabt?, sagte sie.
Wir hatten am Samstag unsere Jahresvollversammlung. Charlie verdrehte die Augen. Ein Haufen Sri-Lanker, die fünf Stunden lang hin und her quatschen mussten. Aber danach haben wir anständig einen gehoben.
Arbeitest du in Vollzeit für den Tamilischen Bund?
Nein, nein, ich bin freischaffend. Für die mache ich Jobs, wenn sie mich brauchen, manchmal für Geld, meistens ohne. Meine Kosten bestreite ich mit meiner ASL-Arbeit.
Zeichensprache?
Du weißt doch, Simultandolmetscher auf Konferenzen? Charlie nickte stolz, was heißen sollte: Ja, das bin ich! Dann fügte sie hinzu: Der Tamilische Bund ist ein guter Verein. Du solltest mal zu den Partys kommen.
Priya zögerte ein wenig. Vielleicht. Im Augenblick hält mich die Arbeit hier auf Trab.
In Priyas Familie herrschte das unausgesprochene Gebot, geselligen Umgang mit anderen Sri-Lankern zu vermeiden. Als Priya einmal beiläufig den Tamilischen Studentenverein erwähnte, sagte ihr Vater: Lass dich bloß nicht auf das alles ein.
Auf was alles?, fragte sie.
Politik, sagte er düster. Wir sind jetzt hier. Halte dich da raus.
Wenn die Familie ab und zu mal den Tempel besuchte, dann gingen sie nach der Puja sofort weg, blieben nie bis zum Potluck. Priyas Mutter meinte, die Sri-Lanker seien ein engstirniges Volk. Alles ist bei denen gleich Konkurrenz, regte sich Ma immer wieder auf. Welcher Ehemann macht mehr Geld, meiner oder deiner? Welcher Sohn ist Doktor, meiner oder deiner? Und wenn du happy bist – was geht mich das an.
Ihre Eltern hatten sich stattdessen mit anderen Einwanderern befreundet – mit den Nowaks, den Dhaliwals und den Wangs nebenan. Und bei Priya hatte das ein vages Misstrauen gegen andere Sri- Lanker hinterlassen. Jahrelang hatten sie extra dafür bezahlt, ihre Privatnummer aus dem Telefonbuch herauszuhalten. Die mysteriöse Erklärung ihres Vaters war: Ich will keinen Ärger.
Priya und Charlie hielten den Haupteingang im Auge, wo eine Sicherheitsbeamtin Ausweise prüfte und die Taschen durchwühlte. Sie sah ein bekanntes Gesicht, einen Reporter von einem lokalen Nachrichtensender. Er war kleiner als sie.
Charlie war ungehalten: Die Skandalpresse, die darf rein, und wenn ein wohltätiger Bürgerverein kommt, der keinen Profit daraus schlägt, der darf ihnen nicht in die Karten gucken.
Die Haftüberprüfungen fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Charlie musste in der Lobby warten, als Priya und Gigovaz ihre Mandanten, einen nach dem andern, hereinholten. Für die Anhörungen hatten sie einen anderen Dolmetscher, einen neutralen Dritten, der von der Einwanderungsbehörde eingesetzt worden war.
Ist das normal?, fragte Charlie. Dass man Flüchtlinge festnimmt?
Priya erwartete, dass Gigovaz diese Frage beantworten würde. Das war sein Ressort; sie selber war ja nur sein Trabant. Aber er sagte nichts. Er gab vor, nichts gehört zu haben. Da musste sie selber antworten: Das liegt eigentlich nicht in meinem Fachbereich, aber soweit ich die Sache richtig verstehe, ist eine Festnahme nicht die Norm.
Was wird denn dann hier gespielt?, fragte Charlie. Diese Leute sind aus einem Gefangenenlager geflohen, um hierher zu kommen. Die Männer, na ja, okay, die werden separat in einem Gefängnis untergebracht, aber die Frauen und die Kinder mit richtigen Kriminellen zusammen einzusperren! Das ist unmenschlich! Wie schnell könnt ihr die da rauskriegen?
Gigovaz hielt sich immer zurück, wenn er Zeitspannen angeben sollte. Sie müssen schon Geduld haben, hatte er seinen Klienten vor einer Woche gesagt. Und zu Priya: Meine Fälle sind gewöhnlich in ein paar Monaten abgewickelt. Aber wenn so viele Leute auf einmal kommen? Und wenn der politische Wille gegen sie ist?
Wie lange dann?, wollte Priya wissen.
Jahre, räumte er ein. Es könnten Jahre werden. Woraufhin sie erleichtert spekulierte, dass er wohl nicht von ihr erwarten würde, bis zum Ende ihres Praktikums hier mitzumachen. Wenn ihre Klienten aus der Verwahrung entlassen werden, glaubte sie, würde auch sie wieder frei sein.
Jetzt sagte sie zu Charlie: Wenn diese Anhörungen heute zu unseren Gunsten ausgehen, könnten sie Ende nächster Woche raus sein.
Nicht zu früh jubeln, warf Gigovaz düster ein, faltete die Zeitung zusammen und schlug sich damit auf den Oberschenkel.
Priya verzog das Gesicht, noch ehe sie gewahr wurde, dass Charlie sie beobachtete. Es war typisch für Gigovaz, ihr erst das Reden zu überlassen und sie dann bloßzustellen, wenn sie sich vertan hatte.
Das Verfahren verläuft typischerweise so, erklärte er Charlie und kehrte Priya den Rücken zu: Sagen wir mal, Sie kommen als Flüchtling am Flughafen an. Als Erstes brauchen Sie eine Genehmigung, Asyl zu beantragen. Das nennt man Zulassungsfähigkeit, und die wird gewöhnlich routinemäßig abgestempelt. Gewöhnlich. Wenn Sie kein bekannter Krimineller sind, oder nicht schon einmal abgeschoben wurden, dann entscheidet jemand an der Grenze – Einwanderungsbehörde oder Grenzschutz –, dass Sie Asyl beantragen können. Das dauert ein paar Stunden, in einigen Fällen ein paar Wochen. Während dieser Zeit wird Ihre Zulassungsfähigkeit überprüft und Sie sind, gewöhnlich, auf freiem Fuß.
Die richtige Hürde, sagte Gigovaz, kommt Monate später bei den Anhörungen durch die Flüchtlingskommission. Zwei oder drei Entscheider quetschen die Antragsteller nach jedem, auch dem geringsten Detail ihrer Story aus. Dieses Gremium trifft die letzte Entscheidung.
Über den unbefristeten Aufenthaltstitel, sagte Charlie und nickte verständnisvoll.
Der unbefristete Aufenthaltstitel. Gigovaz streckte einen Arm nach oben und griff in die Luft. Der hängt da oben.
Bist du hier geboren?, fragte Charlie. Priya nickte und Charlie fuhr fort: Wir sind gekommen, als ich drei war. Als Einwanderer. Wir hatten Glück. Sie wandte sich Gigovaz zu: Sie sagen immer gewöhnlich.
Gigovaz zog sich am Ohr und ließ langsam die Luft ab. Mehr als fünfhundert Antragsteller, und die Regierung drängt auf Abschiebung. Wir müssen Argumente für die Zulassungsfähigkeit beibringen, was nicht die Norm ist, nein gar nicht. Und bei so vielen Fällen, wie wir sie heute durchboxen müssen, um die Leute allererst aus der Sicherungshaft zu holen, wird es Monate dauern, bis wir Termine für die Anhörungen zur Zulassungsfähigkeit bekommen.
Ihr erstes Ziel ist es, die Leute aus dem Knast herauszubekommen?, fragte Charlie.
Nicht unbedingt, sagte Gigovaz. Die können immer noch in Sicherungshaft sein, wenn die Zulassungsanhörungen anfangen. Das ist schon passiert.
Sondierung der Häftlinge, Überprüfung der jeweiligen Zulassungsfähigkeit, dann die eigentlichen Zulassungsanhörungen bei der Flüchtlingskommission: eine lange Reihe von Entscheidungen, und jede davon mit dem Potenzial für Absage und Abschiebung. Priya hatte Charlies Worte noch im Ohr: Wir hatten Glück. In einem Anflug von Hoffnungslosigkeit, und für den Bruchteil einer Sekunde, tat auch Gigovaz ihr leid, dass es sein Beruf war, durch diesen juristischen Morast waten zu müssen.
Gigovaz deutete auf die Zeitung, die er gelesen hatte – Priya sah in der Überschrift die Wörter illegal und Schiff – und sagte: Achten Sie darauf, was die Presse daraus macht. Souveränität? Blair hat den Grenzschutz instruiert, uns im Namen der öffentlichen Sicherheit mit allen möglichen Scheinargumenten zu traktieren.
Gigovaz hatte Priya beauftragt, die relevanten Artikel aus den Zeitungen auszuschneiden. Sie hasste diese Arbeit. Reporter, die keine Ahnung von den Gesetzen hatten, und schlimmer noch das Online-Getwitter. Allein beim Anblick von Fred Blair – wie er die Augen verdrehte und finster stierte, wenn er verkündete: Irgendwo muss die Grenze gezogen werden – ballte sie die Faust. Zwanzig Jahre Zollhausinspektor, und jetzt hält er sich für den obersten Hüter der öffentlichen Sicherheit.
Aber die Einwanderungsbehörde ist ein unabhängiges Amt. Es ist nicht die Regierung. Es handelt im Rahmen des Gesetzes, und seine Beamten treffen die Entscheidungen. Priya konnte Gigovaz’ Zynismus nicht teilen.
Diese ganze Angelegenheit ist zur Nebenvorstellung geworden, sagte Gigovaz. Blair zieht das alles so lange wie nur möglich hinaus.
Wissen die denn nicht, sagte Charlie, wie traumatisch Gefängnishaft ist? Posttraumatisches Belastungssyndrom, Depression …
Wir werden die psychologischen Gutachten als mildernde Faktoren beibringen, sagte Gigovaz. Aber ob Mitgefühl beim Urteil der Entscheider eine Rolle spielt, das bleibt dahingestellt.
Wo werden sie nach ihrer Entlassung unterkommen?, fragte Priya.
Einige haben Verwandte hier, meistens in Toronto, sagte Charlie, die immer noch finster dreinschaute. Wir versuchen, sie in Pensionen unterzubringen. Und es gibt Leute, die ihnen separate Zimmer in ihren Kellerwohnungen zur Verfügung stellen. Außerdem haben Flüchtlinge auch Anspruch auf finanzielle Unterstützung, aber die reicht nicht aus, um einigermaßen durchzukommen, nicht in Vancouver.
Priya fühlte sich von all dem zutiefst beschämt, von dem guten Willen und der Solidarität so vieler Menschen, die bereit waren, Fremde aufzunehmen, und das aus einem Gefühl der, was … ethnischen Zusammengehörigkeit? … der Diaspora?
Charlie zeigte auf die Drehtür. Da kommen sie.
Voran die beiden Frauen in identischem Outfit und nummerierten Sportschuhen. Priya hatte sie vor einer Woche im Gefängnis in Burnaby gesehen.
Savitri Kumuran war einunddreißig Jahre alt, eine Witwe und Mutter von zwei toten Kindern in Sri Lanka und einem sechsjährigen Sohn, der bei ihr war. Bei ihrem Interview mit Gigovaz war sie ruhig geblieben, hatte klare Antworten gegeben. Sie und ihr Mann hatten einen Juwelierladen in Sri Lanka. Zu Hause, sagte sie verträumt. Damals zu Hause.
Aber danach hatte Gigovaz Priya erklärt: Diese Frau ist depressiv. Wenn wir sie nicht bald hier herausbekommen, ist sie am Ende.
Heute war ihr dichtes Haar im Nacken zu einem langen Zopf zusammengeflochten, der in schweren Wellen den Rücken herunterhing. Ihre Haut war für eine Tamilin überraschend hell, und mit den hohen Wangenknochen und dem Grübchen im Kinn war sie eine natürliche Schönheit. Sie hielt eine Hand ausgebreitet am unteren Rand des Halses. Priya betrachtete ihren leeren, gequälten Gesichtsausdruck und dachte: Diese Frau ist zwei Jahre älter als ich.
Die zweite Frau war Hema Sokolingham. Sie war achtunddreißig und ebenfalls Witwe. Nervös und verängstigt hatte sie während ihrer ersten Befragung Gigovaz’ Augen gemieden und ihre Antworten an Priya und Charlie gerichtet. Sie war mit ihren zwei Töchtern nach Kanada gekommen. Diese beiden, wie auch die anderen Minderjährigen, blieben von den Befragungen und Anhörungen verschont.
Wie steht es mit Hema?, hatte Priya gefragt. Wie sind ihre Aussichten?
Aber Gigovaz sagte nur achselzuckend: Da ist etwas, was sie uns nicht sagen will.
Charlie beugte sich vor und flüsterte: Siehst du das? Die sind angekettet wie Sklaven.
Sind die Fesseln nötig?, fragte Gigovaz den Wachtposten.
Als ihr die Handschellen abgenommen wurden, massierte Hema sich die Gelenke. Thank you, sagte sie sehr leise auf Englisch. Ihr Haar hing in einem langen Zopf den Rücken herunter; sie hatte schiefe Zähne.
Charlie strich Hema über den Arm und fragte auf Tamil: Nalamaa? Wie geht’s?
Dann kamen die Männer: Prasad, Mahindan und Ranga, alle – auf Gigovaz’ Geheiß – glattrasiert. Ein dunkelhäutiger Mann mit Bart, der um Asyl bettelt? Nicht unter meiner Regie.
Das Aussehen der fünf Flüchtlinge hatte sich seit der ersten Begegnung vor einer Woche merklich verändert. Sie erschienen frisch und ausgeruht, die Augen waren klar, die Fingernägel geschnitten und sauber. Priya fragte sich, ob das richtig war. Würden die Entscheider diese Flüchtlinge nicht mit mehr Mitgefühl behandeln, wenn sie sie so sähen, wie sie selber sie gesehen hatte, als sie dreckig und zerschlagen in Esquimalt vom Schiff geführt wurden?
Prasad schüttelte ihnen kräftig die Hand und sprach sie auf Englisch an. Good morning, good morning. Very nice to see you.
Die anderen blieben etwas weiter zurück, reckten die Hälse nach der gigantisch hohen Decke und schlurften mit den Schuhsohlen über die Fliesen, als wollten sie deren Qualität testen.
Prasad war der Einzige, der von dem umgebenden Luxus unbeeindruckt blieb. Schließlich hatte er als studierter Journalist in Colombo gearbeitet und sprach fließend Englisch. Gigovaz hatte gleich zu Priya gesagt: Das ist unser bester Kandidat. Unser Mustermigrant.
Um sie herum liefen Büroarbeiter, vertieft in ihre Smartphones und Zeitungen. Wie eine Reisegruppe, schoss es Priya durch den Kopf, und Gigovaz ist der Reiseleiter. Prasad bombardierte sie mit Fragen. Wie lange hatte Kanada von dem Schiff gewusst? Warum waren sie ihnen nicht entgegengekommen, warum hatten sie ihnen nicht schneller Hilfe geschickt?
Mahindan und Savitri lösten sich aus der Gruppe und steckten ihre Köpfe zusammen. Mahindan war offensichtlich erregt und bekam seine zitternde Hand nicht unter Kontrolle. Savitri zog nur die Schultern hoch und wandte ratlos die Handflächen nach oben. Was ist mit den beiden?, dachte Priya. Aber sie wusste ja, dass Savitri sich um Mahindans Sohn kümmern sollte. Hatte man inzwischen einen Besuch arrangiert? Priya empfand ein leises Schuldgefühl, hatte sie diese Sache doch nicht weiterverfolgt. Im gleichen Atemzug aber kam auch die Irritation: Sie war nicht als Sozialarbeiterin hier.
Ranga humpelte hinüber, klopfte Savitri leicht auf die Schulter und massierte, während er zu ihr sprach, sein Bein. Er war in einem Dorf in Mannar Obst- und Gemüsehändler gewesen. Eines Nachts war sein Gemüsestand beschossen und total vernichtet worden. Als ich am Morgen dahin kam, war alles weg, hatte er ihnen erzählt, dem Erdboden gleich gemacht. Was konnte ich da tun? Ich war am Ende.
Der will wissen, was Mr. Gigovaz neulich gesagt hat, sagte Charlie. Über ihre Ausweise.
Wir geben ihre Namen nicht an die Regierung von Sri Lanka weiter, sagte Priya schnell. Wenn Sie noch Familienangehörige in Sri Lanka haben, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, dass denen etwas passiert.
Ranga wollte noch etwas sagen, aber Gigovaz sah auf seine Uhr und verkündete, es sei Zeit hineinzugehen. Mr. Mahindan, Sie sind der Erste. Ms. Jones wird den anderen hier draußen Gesellschaft leisten.
Wie erwartet, war der Anhörungsraum ein trüber, fensterloser Kasten mit quadratischen, in die Styropor-Deckenfliesen eingelegten Leuchtkörpern. Vier lange Tische waren zu einem Quadrat zusammengestellt, an jedem Sitzplatz war ein Mikrofon angebracht. Der Raum hatte etwas unterirdisch Beklemmendes an sich, wie eine enge Kellerwohnung.
Als sie eintraten, verdrehte sich eine Herde Reporter die Köpfe nach ihnen. Die Besetzung war komplett: die Reporter, eine Stenotypistin, ein Schnellzeichner und ein weißblonder Mann mit dünnem Schnurrbart, den Gigovaz als den Dolmetscher vorstellte. Er saß neben Mahindan und hatte zwei dicke Wörterbücher, einen Notizblock und einen Schreibstift vor sich liegen, alles im rechten Winkel zur Tischkante.
Auf ihren Gegenpart weisend, sagte Gigovaz: Amarjit Singh von der Grenzschutzagentur.
Der Grenzschutz – die für die Bewachung der äußeren Landesgrenzen verantwortliche Instanz, die offiziellen Rausschmeißer. Priya hatte sich am Abend zuvor hingesetzt und sich die Namen aller Beteiligten eingeprägt.
Eine Uhr tickte träge an der Wand. Sie warteten auf den Entscheider. Es gab acht Entscheider, und wen von ihnen ein Antragsteller an einem gegebenen Tag zugeordnet bekam, entschied das Los.
Wir haben eine Neue, sagte Gigovaz, Grace Nakamura.
Ist das gut oder schlecht?, fragte Priya.
Er runzelte die Stirn und knurrte: Von der Regierung eingesetzt, handverlesen von Blair.
Die Reporter hatten ihre Smartphones in einer Box neben dem Wachtposten ablegen müssen. Ihre Augen hielten sie fixiert auf Mahindan und kritzelten gelegentlich etwas in ihre Notizblöcke. Die Namen der Antragsteller durften nicht veröffentlicht werden. Die Reporter mussten ihre Beiträge mit größter Umsicht formulieren. In der von der Haftanstalt bereitgestellten Kleidung, einem grünen Pullover und einer grauen Jogginghose, saß der Migrant mit auf dem Schoß geballter Faust am Anhörungstisch.
Am anderen Ende des Raumes ging eine Tür auf, und die erwartete Person trat ein. Sie trug einen schneidigen Hosenanzug und hatte ihr Haar straff zu einem Knoten gesteckt. Ein Wachtposten folgte ihr, schloss die Tür und stellte sich, die Hände in den Hosentaschen, davor auf.
Nakamura hatte den besten Platz im Haus – einen Sessel mit hoher Rückenlehne und gepolsterten Armlehnen. Sie war klein von Statur, aber sie beherrschte den Raum mit der Präsenz einer weit größeren Person. Auch ohne erhöhten Sitz, ohne Robe oder Hammer, strahlte sie richterliche Strenge aus. Aber sie ist keine Richterin, und das ist kein Gericht, sagte sich Priya. Dies ist eine Anhörung der Verwaltung, allerdings in der zwielichtigen Grauzone zwischen Bürokratie und Gesetz.
Nakamura sprach in ihr Mikrofon: Die Sitzung wurde einberufen zur Haftüberprüfung für Mr. … Sie schaute in ihre Papiere und kämpfte sich konzentriert, mit leicht gerunzelter Stirn, durch den Namen, Mr. Poom…am…ba…lam Ma…hindan. Zuerst aber die Aufnahme der Anwesenheit, sagte sie dann.
Der Dolmetscher hieß Nigel Blacker. Nakamura bat ihn und Mahindan zu bestätigen, dass sie sich verständigen konnten, worauf die beiden ein paar Worte wechselten. Priya fiel auf, wie eigenartig es doch war, so ein perfektes Tamil ungezwungen und natürlich aus dem Mund eines blonden Mannes zu hören. Was er und Mahindan sich sagten, verstand sie nicht.
Als sie noch bei Elliot, McFadden, and Lo war, hatte Joyce Lau die Fusion von Henley und SunEx abgewickelt. Anderthalb Wochen davor hatte Priya die Checkliste für die erforderlichen Genehmigungen abgehakt. Warum war sie jetzt hier? Charlie hatte ein viel größeres Recht darauf, in diesem Raum zu sitzen als sie.
Nakamura sagte: Wir beginnen mit Ms. Singh von der kanadischen Grenzschutzagentur.
Singh lehnte sich nach vorn und drückte auf den roten Knopf ihres Mikrofons. Der Minister für öffentliche Sicherheit ist der Meinung, dass die Identität des Antragstellers nicht etabliert ist.
Gigovaz wartete, bis Blacker das übersetzt hatte, und sagte dann: Mein Klient hat umfassenden Nachweis seiner Identität vorgelegt …
Singh schnitt ihm das Wort ab und richtete sich an Nakamura: Außerdem befürchtet der Minister, dass dieser Migrant versuchen wird, das ordentliche Aufnahmeverfahren durch Untertauchen zu umgehen.
Aus welchem Grund?, fragte Gigovaz.
Es gibt Indizien dafür, dass das Schiff Teil einer Schlepperaktion war. Wenn das der Fall ist, läuft jeder von Bord Gefahr, dass er gezwungen wird, sich weiteren Anhörungen zu entziehen.
Mahindan verfolgte mit angespannt hin und her schnellenden Augen den Wortwechsel zwischen Singh und Gigovaz. Dann hörte er aufmerksam der Übersetzung von Blacker zu. Dabei wechselte seine Miene abrupt zwischen erschrocken, gespannt, hoffnungsvoll und hilflos.
Priya hätte sich gern zu ihm gebeugt und ihn beruhigend an den Arm gefasst, wie Charlie es mit Hema getan hatte, aber sie wagte es nicht. Stattdessen beobachtete sie fasziniert den Dolmetscher. Blacker nahm die Haltung der Person an, die gerade gesprochen hatte, und gab dann seine Übersetzung im Ton und mit der Gestik dieser Person wieder. Was war seine Story? Was steckte hinter diesem Wikinger mit seinem akzentfreien Tamil, seinen perfekt vibrierenden R’s?
Gigovaz sagte: Ich fordere den Minister auf, Beweise zu erbringen. Ohne diese bleibt es ein Gerücht.
Uns sind an Bord aufgenommene Fotos zugekommen, sagte Singh. Daraus ist ersichtlich, dass an dem Schiff extensive Renovierungen vorgenommen wurden. Es war zum Beispiel nachgerüstet mit Sanitäranlagen für eine lange Seereise. Das alles legt nahe, dass es sich um eine breit angelegte kriminelle Unternehmung handelte.
Priya hatte die Fotos im Beweismaterial gesehen. Sie hatte die verrostete Toilette gesehen: einen etwas erhöht montierten Aluminiumtrichter mit beidseits angebrachter Trittfläche – ein primitives Gestell, umrandet von orangebraunem Rost und notdürftig in ein winziges Gehäuse eingebaut.
Nakamura erhob ihre Stimme. Fünfhundert Menschen auf einem nachgerüsteten Frachtschiff. Wer hat das alles organisiert, wenn nicht ein Ring von Schmugglern?
Mit Verlaub, sagte Gigovaz, das sind alles nur Indizien. Wir müssen uns an die Regel der primären Beweismittel halten.
Nakamura runzelte ärgerlich die Stirn und Priya presste die Finger zusammen. Was Gigovaz gesagt hatte, war richtig. Singh hätte keine Mutmaßungen in den Prozess einbringen dürfen. Dieser ganzen Sitzung haftete etwas Informelles und Ungehöriges an.
Gigovaz räusperte sich und machte einen zweiten Anlauf. Anstatt herumzurätseln, was sein könnte, sollten wir uns mit dem konkret vorliegenden Beweis befassen. Mr. Mahindan hat seine Geburtsurkunde vorgelegt, seinen Personalausweis aus Sri Lanka, Schulzeugnisse, Heiratsurkunde und auch die Sterbeurkunde seiner verstorbenen Ehefrau. Er kooperiert bereitwillig beim Nachweis seiner Identität.
Mit wiedergewonnener Fassung wandte Nakamura sich Singh zu. Sind die Dokumente der Migranten verifiziert worden?
Das juristische Hin und Her kam unendlich langsam voran. Jeder sprach immer nur ein oder zwei Sätze, um auf die Übersetzung zu warten. Während Blacker übersetzte, wurde rundum geflüstert. Die Reporter kritzelten eifrig in ihre Notizblöcke. Wie sie von einer Seite des Raumes her geschlossen den Prozess verfolgten, kamen sie Priya vor wie eine Jury.
Die Luft im Raum war trocken, im Hintergrund summte die Klimaanlage. Priya sah, wie Mahindan schluckte. Er machte, ohne zu sprechen, den Mund auf und zu. Sie schrieb etwas auf ihren Block und schob ihn Gigovaz zu. H2O? Gigovaz schrieb zurück: Wasserspender, Lobby.
Wie läuft’s?, fragte Charlie, als sie Priya herauskommen sah.
Sie und die anderen hatten Sitzplätze in einem kleinen Warteraum gefunden und unterhielten sich vertraulich auf Tamil. Priya war überrascht, sie so entspannt, fast fröhlich zu sehen. In der Nähe stand ein gelangweilter Gefängniswärter. Ich weiß nicht, sagte Priya. Langsam.
Wenn sie die Verhandlungen opponierender Anwälte verfolgte, hatte Priya ein gutes Gespür dafür, wer die Oberhand hatte. Aber für eine quasi-gerichtliche Sitzung wie diese hier fehlte ihr das Barometer, um den Stand der Dinge abzulesen. Ich kenne mich in Fusionen und Aufkäufen aus, dachte sie. Aber von dem hier verstehe ich überhaupt nichts.
Es war kurz vor elf. Joyce führt jetzt ihre CEOs in den Konferenzraum, dachte sie. Dort standen Glaskrüge mit kaltem Wasser, Kaffee wurde hereingebracht und serviert. Priya wäre jetzt auch dort, wenn sie damals bei dieser blöden Sitzung Gigovaz nicht so angestarrt hätte. Sie würde jetzt die Broschüren austeilen, dann mit überschlagenen Beinen auf ihrer Stuhlkante sitzen und sich Notizen machen, während Joyce den Vorsitz über die Vermählung der beiden größten pharmazeutischen Konzerne des Landes führte.
Sitzen viele Richter da drin?, wollte Prasad wissen.
Nur ein Entscheider, sagte Priya. Das ist kein richtiger Gerichtssaal, die sitzen alle nur in einer Art von Viereck. Nicht ganz so einschüchternd.
Charlie gab das Gehörte weiter an ihre Schützlinge, während Priya sich über den Wasserspender beugte, zwei Pappbecher füllte und diese im Vorbeigehen hochhob. Ich bringe Wasser rein, sagte sie. Es ist richtig trocken da drin.
Als sie wieder in den Raum kam, sprach Singh gerade: Wir untersuchen hunderte von Fällen. Natürlich geht da die Identitätsüberprüfung langsamer voran als gewöhnlich.
Priya stellte die beiden Becher vor Mahindan ab. Sie zog ihren Stuhl so lautlos wie möglich zurück.
Mr. Mahindan sitzt unter Freiheitsentzug im Gefängnis, sagte Gigovaz; sein sechsjähriger Sohn lebt bei ihm völlig fremden Frauen. Wir dürfen die psychologischen Folgen der Inhaftierung und der Trennung nicht außer Acht lassen, besonders im Falle des Kindes.
Der Antragsteller ist Staatsangehöriger eines Landes, wo in den letzten drei Jahrzehnten bekannte Terroristen Bürgerkriege angezettelt haben, sagte Singh. Der Minister drängt darauf, dass wir mit aller gebotenen Sorgfalt und Umsicht vorgehen, um die Souveränität unserer Nation zu schützen.
Souveränität. Wieder dieses Wort. In hohen Tönen, wie aus einer Hundepfeife.
Nakamura erhob eine Hand. Sehr gut, meine Entscheidung ist getroffen. Mr. Gigovaz, ich halte Ihre Bedenken für voreilig. Dieser Mann und seine Gruppe sind erst letzte Woche hier angekommen. Verzögerungen sind zu erwarten. Der Migrant wird in der Haft bleiben, wir werden seinen Fall nächste Woche noch einmal überprüfen. Bringen Sie bitte den nächsten Antragsteller herein.