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RAMAS LIED November 2002
ОглавлениеChithra und Ruksala legten ihren Ultraschalltest auf denselben Termin, so dass sie sich alle den Vormittag freinehmen und zusammen bei Mahindan und Chithra Mittag essen konnten: übrig gebliebene String Hoppers mit Eiercurry und extra scharfem Pol Sambol. Sie aßen mit den Fingern, und der Deckenventilator blies ihnen das Haar durcheinander.
Die LTTE hat jetzt genug von der Regierung, sagte Ruksala und fischte ein Ei aus dem Currytopf.
Der Waffenstillstand war aufgehoben worden. Die Tigers hatten die Verhandlungen abgebrochen, und selbst Ruksala glaubte, dass das nun endgültig war. Ihr Cousin Shangham hatte seine Uniform wieder angezogen und war kampfbereit zurückgegangen, aber Prabhakaran, der Führer der LTTE, sagte, dass das nicht genug sei. Sie brauchten mehr Kämpfer. Jede patriotisch gesonnene Familie müsse wenigstens einen schicken.
Da braut sich was zusammen, sagte Rama.
Was?, fragte Chithra mit hochgehaltener Sambol-Schale.
Aber Mahindan schüttelte kaum merklich den Kopf, und Rama gab keine Antwort. Stattdessen machte er sich Luft über die Vertretungslehrer in der Schule. Unausgebildete Kasper, die kaum addieren können und sich mühselig durch eine Algebrastunde schlagen, sagte Rama und pochte mit den zusammengefügten Fingerspitzen auf seinen leeren Teller.
Ruksala beugte sich zu ihm und warf einen String Hopper – ein Bällchen aus Reismehlnudeln – auf seinen Teller. Was können die Tigers schon mit Schulen anfangen, sagte sie. Je eher die Jungs und Mädels da raus sind, desto eher können sie mitkämpfen. Eine Sünde, nicht?
Die Hälfte der Unterrichtsmaterialien für Physik und Chemie ist kaputt und nicht mehr zu reparieren, sagte Rama.
Als Vergeltungsmaßnahme für den Rückzug der Tigers vom Verhandlungstisch hatte die Regierung den LTTE-kontrollierten Gebieten Embargos auferlegt. In den Häfen wurden die Schiffe festgehalten, an den Straßenkontrollpunkten die Fahrzeuge, um jede Kiste und jeden Kofferraum zu durchsuchen. Das führte dazu, dass in diesen Regionen kaum noch etwas zu bekommen war, sei es Milch oder eine Verlängerungsschnur.
Ich kriege für die Werkstatt fast gar nichts mehr, sagte Mahindan und wandte die leicht geballte linke Hand nach oben. Bremsflüssigkeit, Motorenöl … fast unmöglich!
Allerdings war das Dieselembargo von Vorteil für Mahindan. Der Preis hatte sich über Nacht verdoppelt, und alle wollten ihre Motoren auf Kerosin umbauen lassen. Die Fahrer bliesen dann mit einem Rohr ein paar Tropfen Benzin hinein, und wenn die Motoren angesprungen waren, liefen sie auch mit dem billigeren Treibstoff. Das war eine übelriechende Arbeit für Mahindan, aber sie brauchten das Geld, ganz besonders jetzt, wo das Baby bald kam.
Und seht doch mal, was in den Krankenhäusern los ist, sagte Ruksala finster. Ich werde mir wahrscheinlich eine Hebamme nach Hause holen.
Chithra schlug sich an die Stirn. Bloß das nicht! Denk doch mal nach, was da alles passieren kann.
Mahindan dachte für sich, dass das gar keine schlechte Idee sei. Ihr Krankenhausbesuch am Vormittag war nicht sehr ermutigend gewesen. Patienten lagen auf Tragen in den Korridoren, die Entbindungsstation war zur Hälfte mit Plastikplanken abgesperrt. Die Renovierungen, die von der UNICEF finanziert wurden und während des Waffenstillstands begonnen hatten, waren auf ungewisse Zeit eingestellt worden. Das Embargo hatte den Preis für einen Sack Zement von 600 auf 6 000 Rupien hochgetrieben.
Sie hatten zwei Stunden warten müssen, und dann war kein Arzt gekommen, sondern eine Krankenschwester in Ausbildung. Letzten Monat sind gleich zwei Ärzte gegangen, erklärte sie ihnen, während sie mit dem Zeigefinger die Gewichte an der Personenwaage zurechtschob. Ein großer Teil des Krankenhauspersonals – allen voran die Ärzte, die ihr Geld von der Regierung bekamen – war nach Trincomalee und Batticaloa abgewandert: in mehrheitlich tamilische Regionen, in denen die LTTE keinen festen Fuß gefasst hatte und die deshalb auch nicht von den MiGs der Armee überflogen wurden.
Selbst als sie es endlich in den Untersuchungsraum geschafft hatten, mussten sie warten, bis das Ultraschallgerät gebracht wurde. Chithra saß zitternd vor Kälte in ihrem Papierumhang, und Mahindan hatte die halbleeren Medikamentenschränke hinter ihr gesehen.
Wie viele Frauen haben jetzt schon ihr Baby zu Hause bekommen?, fragte Ruksala, riss einen String Hopper auf und tränkte ihn mit Currysoße. Ich denke ernsthaft darüber nach.
Mahindan zog die Augenbrauen hoch und blickte zu Rama, der nur die Achseln zuckte. Er sagte: Zwanzig Ärzte für eine Bevölkerung von wie vielen? Hundertfünfzigtausend? Das reicht nicht.
Man kann’s ihnen nicht verübeln, dass sie weggehen, sagte Chithra und fischte ein paar Kardamomkapseln aus ihrem Curry. Manchmal will ich auch hier weg.
Wohin?, fragte Ruksala, ehe sie sich den nächsten Happen in den Mund steckte.
Keine Ahnung, sagte Chithra. Sie strich sich abwesend mit der freien Hand über den Bauch. Kaum drei Monate schwanger, und diese Geste war ihr schon zur Gewohnheit geworden, wenn sie über schwierige Dinge sprach. Mit dem Baby … Ich weiß nicht … Wenn es nur irgendwo Sicherheit gäbe.
Indien?, sagte Rama. Da bleibst du nur in so einem Lager hängen.
Mahindan drückte Chithras Schulter. Sie hatte angefangen, vom Weggehen zu reden, als sie erfuhren, dass sie schwanger war.
Es macht keinen Sinn, irgendwohin zu gehen, sagte Mahindan. Wir haben hier unser Haus und unsere Arbeit und unsere Eltern.
Wir nehmen unsere Eltern mit, sagte Chithra. Sie legte ihre Hand auf den Tellerrand und lehnte sich zurück.
Mahindan streckte die Finger nach einem kleinen Happen String Hopper und Curry aus. Dann geht es uns wie allen Vertriebenen und wir ziehen ohne ein festes Zuhause hierhin und dorthin. Willst du das deinem Baby antun?
Trinco und Batti. Das sind noch tamilische Gebiete, sagte Chithra.
Ruksala nahm den Deckel vom Wasserkrug, hielt den Krug am schmalen Hals und füllte ihre Metallbecher mit Wasser auf. Embargos und Bombardierungen, sagte sie. Das haben wir alles schon einmal überlebt.
Mit dem Unterschied, dass jetzt Kinder dazukommen, sagte Chithra. Als das Feuer eingestellt wurde, habe ich mir was vorgemacht und geglaubt … aber jetzt …
Jetzt sind wir wie unsere Eltern geworden, sagte Ruksala. Und in zwanzig Jahren, wer weiß? Unsere Kinder werden wahrscheinlich genau dieselben Gespräche führen.
Das darfst du nicht so sagen! Chithra schlug auf den Tisch. Mit bebenden Lippen legte sie eine Hand über die Augen.
Die Hormone, dachte Mahindan. Die Schwangerschaft hatte Chithra, die sonst immer so stark war, reizbar und weinerlich gemacht.
So schlimm ist das ja gar nicht, sagte Rama beruhigend. Nur eine Bombe, und niemand wurde verletzt.
Wir haben uns daran gewöhnt, nicht?, fügte Mahindan hinzu und strich Chithra über den Rücken. Solange unsere Region in den Händen der Tigers bleibt, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.
Aiyo, tut mir leid. Ruksala reichte Chithra über den Tisch die Hand. Chithra schniefte hörbar und wehrte Ruksalas Hand ab. Mrs. Ramamoorthy im Büro sagt, dass Männer rekrutiert werden.
Bauarbeiter, erklärte Mahindan, arbeitslose Kerle, die nichts Besseres zu tun haben.
Mahindan ärgerte sich über Chithras Chefin. Diese Frau stopfte ihr den Kopf mit unnötigen Ängsten voll. Während der ganzen Besatzungszeit, als die singhalesischen Soldaten die Straßen patrouillierten, war Chithra erhobenen Hauptes und mit ihrem bis zu den Hüften schaukelnden Zopf an ihren anzüglichen Blicken vorbei gegangen. Mahindan war jedes Mal erschrocken, wenn sie ihm erzählte, was ihr passiert war. Wie sie zum Beispiel einem Soldaten den Marsch geblasen hatte, als er einem alten Mann auf den Leib rücken wollte. Chithra sagte immer: Ich kann nicht in Angst leben.
Jetzt gab er ihr ihre Worte zurück. Angst bringt nichts, Chithra.
Besser hier bleiben als im Osten leben, fügte Ruksala hinzu. Unter der LTTE sind wir sicher, das muss man schon sagen. In Kilinochchi kann man sich frei und ohne Furcht bewegen, auch allein in der Dunkelheit. Aber im Osten, unter der Regierung? Frauen werden dort im eigenen Haus attackiert.
Ich weiß nicht. Chithras Augen wanderten zu einem Gecko, der mit dem Kopf nach unten an der Decke hing. Sie schob ihren Stuhl zurück, ohne die Hand zu rühren, die flach und fest auf ihrem leeren Teller lag.
Mahindan wusste, dass sie in Gedanken bei ihrem Termin im Krankenhaus war: als die Schwester endlich das Ultraschallgerät ins Zimmer brachte und der Schalter nicht anging, weil kein Diesel im Generator war.
Diese Embargos bringen uns noch um, sagte Chithra.
Sie standen vom Tisch auf und gingen hinters Haus, um sich an der Pumpe die Hände zu waschen und den Mund auszuspülen.
Wir haben schon mal mit Embargos gelebt, sagte Mahindan. Wir werden sie jetzt auch überleben. Er schüttelte das Wasser von den Händen und blinzelte in die Sonne.
Sie gingen wieder hinein. Apropos Embargos – eine komische Geschichte, sagte Rama und schob seine Brille auf dem Nasenrücken nach oben. Vorige Woche bin ich auf dem Rückweg von Anuradhapura beinah auf der singhalesischen Seite steckengeblieben.
Bewegungsfreiheit war auch etwas, das sie seit dem Ende des Waffenstillstands verloren hatten. Die je von der Regierung und von der LTTE kontrollierten Gebiete waren jetzt durch Stacheldraht und einen meilenbreiten Streifen Niemandsland voneinander abgetrennt. Wer von der einen Seite auf die andere kommen wollte, musste die Kontrollposten der Armee und der Tigers passieren.
Und ob ihr’s glaubt oder nicht, sagte Rama, um sechs machen die Typen alles dicht und fahren für die Nacht nach Hause. Auf der A 9 musste ich Tempo zulegen und habe die ganze Strecke lang geschwitzt. Und nicht nur die Zeit lief mir aus, auch das Benzin. Er unterstrich das mit seitlicher Kopfbewegung und erzählte weiter: Bin gerade noch am Schlagbaum angekommen, und die Soldaten mussten sich natürlich das Motorrad anschauen, ob ich nicht irgendwas Verbotenes einschmuggeln wollte.
Chithra schnaufte.
Der Kerl hat mich schief angeglotzt und sich die Batterien aus meiner Taschenlampe rausgenommen.
Mahindan verschluckte sich an einem Stückchen Toffee. Nein, das gibt’s doch nicht!
Rama äffte den Soldaten mit drohendem Zeigefingerfinger nach: Die wollen wir doch nicht den Rebellen schenken.
Was für ein Unsinn, sagte Ruksala. Die Tigers beziehen ihre Munition und Raketenwerfer aus Nordkorea, trotz diesem sinnlosen Embargo. Und diese Dussel regen sich auf wegen ein paar AA-Batterien.
Rama lachte vor sich hin. Wenigstens hat der Typ halbwegs Tamil gesprochen. Das erste Mal, dass mir ein Soldat begegnet ist, der es wenigstens versucht hat.
Mahindan schaute auf die Uhr und sagte: Ah! Gehen wir zum Tempel?
Mahindan und Rama hatten gerade noch Zeit für eine Puja, ehe sie zur Arbeit zurückmussten. Die beiden Frauen, die sich den ganzen Tag freigenommen hatten, sagten, dass sie zu Hause bleiben und ein Nickerchen machen wollten. Danach wollten sie Tee trinken, alte Liebesromane verschlingen und zum Spaß die unzüchtigen Passagen laut rezitieren. Mahindan hoffte, dass ein Nachmittag mit ihrer besten Freundin Chithra aufheitern würde.
Als sie den Weg herunterradelten, sagte Rama: Ich wollte es Ruksala nicht erzählen, aber auf unserer Seite ist mir auch etwas Komisches passiert. Der Mann hat sich meinen Personalausweis angesehen und mich über meinen Beruf ausgefragt. Welches Fach ich unterrichte? Wie viele Jahre schon? An welcher Schule?
Mahindans Gesicht verdüsterte sich. Er musste manchmal auch durch die Kontrollpunkte, wenn er, was nicht oft geschah, zu den Großhändlern im Süden fuhr. Machst du dir Sorgen?, fragte er.
Gewöhnlich fragen einen die Singhalesen aus. Unsere Leute winken mich einfach durch, wenn sie sehen, dass ich Tamile bin.
Aber sie haben dich durchgelassen, nicht?
Ja, ja. Die Sache ist bestimmt harmlos. Aber sag Ruksala nichts davon.
Der Murugan-Tempel war ein schlichtes Gebäude mit einer überdachten Kolonnade und einem wunderschönen Sandsteinturm, der von oben bis unten mit Schnitzereien und Skulpturen verziert war. Auf der linken Seite befand sich ein freistehender Glockenturm, unter dem der Tempeljunge das gestraffte Seil hielt. Als sie sich näherten, ertönte die riesige Messingglocke, und sie beeilten sich, die Schuhe auszuziehen, die Hemden abzustreifen und ihre Füße unter den Wasserhähnen zu waschen.
Im dunklen Tempelinneren schlug ihnen der berauschende Duft von Kampfer und Sandelholz entgegen. Mit freiem Oberkörper und gekreuzten Beinen saßen Mahindan und Rama mit anderen Männern im Kreis auf dem Fußboden, vor ihnen Messingschalen mit Obst und Blumengirlanden. Das innere Heiligtum war Murugan geweiht, der obersten Gottheit des Tempels. Von seinem Thron aus überschaute er die Gläubigen, während der Priester Sanskrit-Verse anstimmte. Mahindan faltete die Hände, schloss die Augen, entspannte und überließ sich dem Weihrauch und dem vertrauten rhythmisch beschwörenden Gesang.
Seit ihre Frauen schwanger waren, kamen er und Rama in der Mittagspause ein oder zwei Mal in der Woche zum Tempel. Mahindans Gebete waren immer dieselben: eine gesunde Schwangerschaft, eine unkomplizierte Entbindung, ein kluges Kind. Es hatte sich so eingespielt, dass Chithra vor dem Einschlafen ihr Nachtgewand hochzog und Mahindan den Mund auf ihren Bauch legte und ein närrisches, selbstausgedachtes Liedchen sang. Wenn Chithra dann lachte, spürte er das Vibrieren in ihrem Bauch und stellte sich vor, wie das Baby darin umherschwamm, wie es Ammas Lachen von innen und Appas Schmachtgesang von außen hörte. Wir lieben dich, sagte er dem Baby jeden Abend. Wir lieben dich so sehr.
Das Wunder, welches Chithras Körper vollbrachte, war nicht zu fassen: Jeden Tag wurden Hände und Füße, Wimpern und Fingernägel etwas länger. All die winzigen Einzelheiten, die sich ins Dasein entfalteten.
Wem wird das Baby ähneln? Wird es so schallend lachen wie Ammachi? Tante Nilas fotografisches Gedächtnis bekommen? Ganze Abende füllten sie mit glückseligen Spekulationen, stundenlang malten sie sich ihre werdende Familie aus. Fast konnten sie darüber die Wirren der Außenwelt vergessen.
Der Priester war rund wie ein Fass. Seine Stirn war gezeichnet von drei mit weißer Asche gezogenen Linien und einem gelben Sandelholztupfen mit rotem Kumkum in der Mitte. Weiße Streifen liefen ihm vom einen Arm zum andern Arm quer über den breiten Brustkorb. Auf einem Tablett balancierte er eine Öllampe und schwenkte die Flamme vor dem Thron des Murugan hin und her, sang Mantras, auf dass die Gottheit herabsteige und diese Statue mit ihrer heiligen Macht erfülle. Zu seiner Linken schlug der Tempeljunge einen Gong.
Mahindan fiel in einen Trancezustand. Seine Lippen bewegten sich kaum. Die Verse waren so tief in ihm verwurzelt, dass sie sich wie von selbst formten. Wie viele werdende Väter waren schon vor ihm hierher gekommen, um dieselben Gebete zu sprechen? Er empfand eine tiefe innere Ruhe und nahm seinen Platz in der uralten Bruderschaft ein.
Eine sichere Entbindung. Ein gesundes Baby. Sein Vater musste dieselben Gebete gesprochen haben und vor ihm sein Großvater, in den Tempeln von Colombo. An Orten, wohin sein eigenes Kind eines Tages, wenn Freiheit herrscht, vielleicht zur Andacht gehen wird. Seine größte Hoffnung für sein Baby war: ein Leben unbehelligt von Krieg.
Es gab ein Foto von Mahindans Großvater aus der Zeit, als er stellvertretender Leiter der Abteilung für landwirtschaftliche Bewässerung war. Auf diesem Bild sieht man Appappa in westlicher Kleidung mit Jackett und Schlips, einer dicken, schwarzgerahmten Brille und glatt zurückgekämmtem Haar. Damals besaß die Familie einen Bungalow in Colombo 7, sie hatten Dienstpersonal und vollständige Essbestecke. Wenn es nicht den Terror von 83 gegeben hätte, wären sie jetzt vielleicht noch in der Hauptstadt.
Aber Mahindan wollte gar kein Dienstpersonal haben, und auch kein Haus in Colombo. Das Essen schmeckte ihm besser, wenn er es mit den Händen aß. Er liebte seine Arbeit und das einfache Leben mit Chithra, er liebte die Familie, die sie jetzt gründeten. Aber er wünschte seinen Kindern mehr und bessere Möglichkeiten. Möglichkeiten, die sein Großvater hatte, ehe die Singhalesen von Neid getrieben Quoten einführten, die die Rechte der Tamilen immer weiter beschnitten.
Der Priester ließ die Öllampe sinken und die Männer verneigten sich kniend vor der Gottheit. Mahindan bat mit zu Boden gewandtem Gesicht: Lass diese Nöte enden. Als die heilige Flamme ihm dargeboten wurde, stand er auf, berührte die Öllampe mit den Händen, schöpfte mit schneller Geste den heiligen Rauch und fächelte ihn über Gesicht und Kopf. Unartikulierte Bitten schwirrten ihm durch den Kopf. Für mein Kind. Für mein Kind.
Die Sakramentschale wurde herumgereicht, und Mahindan tauchte den Mittelfinger in die rote Kumkum-Paste, drückte sich einen Punkt auf die Stirn und verrieb den Rest auf beiden Seiten des Halses. Als die Puja beendet war, lud der Priester sie zum Mittagessen im hinteren Tempelraum ein.
Willst du dableiben? Rama war immer für eine Mahlzeit zu haben. Er schaute auf die Uhr und sagte: Wir haben noch etwas Zeit.
Mahindan fasste sich unwillkürlich an den roten Punkt auf der Stirn. Er war unruhig, ihm war gar nicht nach Geselligkeit.
Komm, sagte Rama, du musst deinen Kopf freikriegen.
Sie schritten mit zusammengelegten und zur Stirn geführten Händen den inneren Kreis des Tempels ab und verbeugten sich vor jeder Gottheit in ihrer je eigenen Nische. Als sie zu Ganescha kamen, blieb Rama stehen. Er ließ die Hände auf die Brust sinken.
Ooooooommmmmm.
Rama hatte eine schöne Stimme. Tief und klangvoll, schien sie aus dem innersten Kern seines Seins zu strömen. Mahindan stimmte ein, und gemeinsam hielten sie die heilige Silbe, bis sie anschwoll und den Raum füllte und sich mit dem Kampfer und Weihrauch mischte.
Ooooooommmmmm.
Mahindans Herz schlug kräftig und regelmäßig. Sein Körper kribbelte, jedes Chakra belebte sich, wurde aufnahmebereit.
Ooooooommmmmm.
Om. Ganzheit. Vollkommenheit. Alles. Sie hielten den Ton, bis ihnen der Atem ausging und Mahindan spürte, wie der Nachhall das Ohr jeder Gottheit im Tempel berührte, auch das Ohr des Murugan im Innersten des Heiligtums.
Da begann Rama zu singen. Om Gam Ganapataye Namaha. Seine Stimme war fest und sicher. Der Klang des Gan vibrierte weit hinten in seiner Kehle. In einem anderen Leben mochte er ein Brahmane gewesen sein. Om Gam Ganapataye Namaha. Mahindan stimmte ein, und mit den Füßen den Rhythmus schlagend, vereinten sie sich in einem Wechselgesang, dessen langsam ausgehauchtes Om Mahindan von Mal zu Mal beruhigte.
Om Gam Ganapataye Namaha. Mahindan hörte, wie seine Stimme sich beim Singen ausdehnte, kräftiger und sicherer wurde. Die Unruhe schwand, sein Geist war still und klar, sein Körper ein reines Gefäß für die heiligen Klänge. Om Gam Ganapataye Namaha. Er war eins mit Rama, eins mit aller Kreatur. Eins mit der Gottheit.
Sie beendeten ihre Meditation mit drei abschließenden Oms. Dann wandte Mahindan sich seinem Cousin zu, strahlte ihn an.
Besser?, fragte Rama.
Weißt du, Machan, sagte Mahindan, das ist für mich immer Ramas Lied.
Lord Ganeschas Lied, nicht meins, sagte Rama. Hör jetzt auf mit dem dummen Gerede. Wir müssen zurück zur Arbeit.
Aber sie nahmen sich Zeit und blieben noch eine Weile an dem heiligen Ort unter der Obhut der Gottheiten. Rama sang ganz leise noch ein Lied aus dem Thiruvasagam. In weltvergessenem Wohlgefühl zog Mahindan sein Hemd aus der Gesäßtasche und steckte die Arme in die Ärmel.
Vor dem Tempel befand sich eine lange Kolonnade, von deren unterer Decke Girlanden aus Orangenblüten in der Brise schaukelten und ihren Duft verströmten. Rama sang jetzt die beschwingten Verse und trommelte auf seinen Oberschenkeln den Rhythmus dazu.
Komm her, Täubchen, rief er und schlenderte mit nach außen gekehrten Füßen durch die Kolonnade.
Die Tempelglocke schlug und Mahindan, der immer noch mit seinen Hemdknöpfen beschäftigt war, schaute nach oben. Rama blieb urplötzlich stehen. Vor dem Tempel, auf der anderen Straßenseite, stand ein Lastwagen, auf dessen Ladefläche eine Gruppe finster dreinschauender junger Männer saß. Daneben standen zwei bewaffnete Kommandanten in Tarnuniform.
Mahindan blieb völlig ruhig. Das Dunkel des Tempels war direkt hinter ihm. Ich könnte jetzt noch zurücklaufen und verschwinden, dachte er. Die Kommandanten winkten ihnen scheinbar freundlich zu, doch Mahindan wurde übel vor Schreck, als er Arun erkannte. Mahindan war klar, dass sie nicht in die Kolonnade kommen würden. Aber Rama konnte dort auch nicht versteinert stehenbleiben.
Die Glocke schlug ein zweites Mal und Mahindan sah, wie ein Teenager mit beiden Händen wild am Strick zog. Das war keiner von den asketischen, zartgliedrigen Tempeljungen. Die Hosenbeine hatte er über die Knöchel hochgerollt, das offene Hemd flatterte um ihn herum.
Rama ging, als wäre er hypnotisiert, auf die Kommandanten zu. Schuldgefühl zwang Mahindan, ihm barfuß über die Kieselsteine zu folgen, die sich scharf in seine Fersen bohrten. Er und Rama waren zusammen mit Arun in die Schule gegangen. Schon als Kind hatte Arun sich ein Vergnügen daraus gemacht, seine Schulkameraden zu drangsalieren. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die für den Krieg lebt. Als die Rekrutierungen begannen, war er der Erste gewesen, der sich einschrieb, noch ehe er die Schule abgeschlossen hatte.
Mr. Ramachandran, Sri-Lehrer, rief Arun über die laut tönende Glocke hinweg. Seit Jahren hatten sie ihn nicht gesehen, und er hatte inzwischen sein linkes Ohr verloren. Wir bringen dir eine Einladung, sagte er. Im Namen des Führers.
Der Junge unter dem Glockenturm kicherte. Mahindan, der die halbe Kolonnade hinuntergelaufen und nur noch wenige Schritte hinter Rama war, sah seine gläsernen Augen, sein unsicheres Gebaren. Er hatte den Glockenstrick losgelassen und hielt mit beiden Händen einen Cricket-Schläger, den er wie einen Krückstock auf den Boden setzte.
Mir? Ramas schrille Stimme verriet seine Erregung. Mahindan konnte sehen, wie sein Rücken bebte, auch sein feingliedriges, ungeschütztes Genick. Aber ich bin doch ein … ein … Lehrer … meine Schüler …
Jeder Dummkopf kann Mathe geben, sagte Arun. Tamil Eelam braucht dich für eine höhere Sache.
Eine höhere Sache, gackerte der betrunkene Junge. Er ging, den Schläger schwingend, auf Mahindan zu.
Die gefangengenommenen Männer auf dem Lastwagen starrten stumpf geradeaus. Mahindans Blickfeld verschwamm, ihm wurde schwindelig und er musste stehenbleiben, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sie hatten die Kolonnade passiert und waren jetzt gnadenlos der Sonne ausgesetzt und dem heißen Boden, der ihnen die Füße verbrannte.
Was ist los mit dir, Machan? Arun ging auf Rama zu und schlug ihm leicht auf den Rücken. Du bist doch Lehrer, nicht? Du musst uns helfen, diesen singhalesischen Kerlen eine Lehre zu erteilen.
Mahindan musste hilflos zusehen, wie sein Cousin abgeführt wurde, vorbei an ihren Fahrrädern, die sie zusammen mit den Sandalen im kühlen Schatten einer Palmyrapalme hingeworfen hatten.
Währenddessen hatte der andere Kommandant mit geschultertem Gewehr dagestanden und zugeschaut. Jetzt ließ er das Gewehr sinken und fasste Mahindan am Arm.
Bist du auch Lehrer?, fragte er freundlich. Er war älter als Arun und hatte offensichtlich nichts dagegen, dass Arun den Befehl führte.
Mahindan merkte, wie er nach vorn geschubst wurde. Noch hatte er Ramas Gesang in den Ohren. Om. Gam. Ganapataye. Namaha.
Seine Knie fingen an zu zittern. Kaum konnte er das Wort Nein herausbringen. Da kam ihm, wie ein Geschenk Gottes, eine Idee. Me… Mechaniker, stammelte er. Ich … bin … Autos, Busse, Lastwagen … Ich …
Sein Mund war total ausgetrocknet. Er glaubte, an seinen eigenen Worten zu ersticken, stattdessen hustete er.
Ich repariere sie … in meiner … meiner … (Husten) …Werkstatt.
Du kannst Motoren umbauen?, fragte Arun.
Von Diesel auf Kerosin? Er spürte Erleichterung, und mit ihr kam der Mut. Ja. Das mache ich dieser Tage für alle. Motoren, Bremsen, neue Reifen … alles. Das kann ich machen.
Er hörte, wie ihm die Worte aus dem Mund sprudelten, und er hasste sich dafür.
Arun winkte seinen Komplizen zur Seite, und Mahindans Arm war wieder frei. Gott sei gelobt! Er wollte auf die Knie fallen.
Lass den Mechaniker laufen, sagte Arun. Er gab Rama einen heftigen Stoß, so dass er auf den Laster zustolperte. Einsteigen! Mach schon!
Rama versuchte, sich auf den Laster zu hieven, kam aber nur zur Hälfte hoch und rutschte rückwärts wieder auf den Boden. Seine Beine gaben nach. Mahindan wandte sich voller Scham ab und sah aus dem Augenwinkel, wie Arun ihn brutal nach oben bugsierte.
Sag es Ruksala, rief Rama, und seine Stimme brach.
Mahindan konnte Ramas Blick nicht standhalten. Das mache ich.
Wo ist deine Werkstatt?, fragte Arun, und Mahindan, der sich hilfsbereit zeigen wollte, erklärte ihm den Weg. Er versuchte, nicht auf das gekräuselte Stückchen Haut zu schauen, wo Aruns Ohr hätte sein müssen.
Gut, einen Automechaniker zu haben, sagte Arun und setzte sich auf den Fahrersitz. Dann steckte er die Hand aus dem Fenster, schlug zweimal ungeduldig auf die Tür und rief dem Jungen: Na mach schon, du Idiot!
Er schaltete den Motor an. Der Junge lehnte sich schwer auf seinen Schläger und blickte zu Boden.
Dann kommst du eben allein nach, rief Arun.
Die Tür auf der Beifahrerseite wurde zugeschlagen und Rama hob die Hand.
Mahindan tat das Gleiche, und für einen kurzen Moment hielten sie sich fest im Blick. Dann fuhr der Lastwagen ab.
Der betrunkene Junge schwankte und torkelte nach vorn. Er sah sehr jung aus, und verängstigt. Alles, was Mahindan spürte, war sein heftig schlagendes Herz, und Erleichterung. Ihre Blicke trafen sich in dem Moment, als der Junge den Mund aufriss und sich erbrach.