Читать книгу Boat People - Sharon Bala - Страница 9
INSCHALLAH, MR. GIGOVAZ
ОглавлениеGigovaz’ Subaru stand mit laufendem Motor vor dem Eingang des Wohnhauses, als Priya um vier Uhr morgens aus ihrem Apartment herunterkam. Ein Streifenwagen der Polizei war herangefahren und hatte sich danebengestellt, beide Fahrer hatten die Fenster heruntergekurbelt, wie die Typen in einer Polizeiserie.
Priya stand unter der verschlissenen grünen Markise und zog kräftig an der Tür, um sicher zu sein, dass sie richtig zu war. Dann ging sie zur Bordsteinkante. Der Wind trieb den Regen schräg über das Pflaster, so dass die Tropfen in kleinen weißen Spritzern vom Asphalt zurücksprangen. Die Polizei fuhr weg, als sie in Gigovaz’ Auto einstieg.
Nette Gegend, sagte er.
Priya wusste nicht, was sie antworten sollte, und schwieg, während sie ostwärts die Hastings entlangfuhren, vorbei an zusammengeschobenen Einkaufswagen und leeren Geschäften, an zusammengedrängt in Hauseingängen schlafenden Gestalten. In der einen Hand hielt sie ihren Thermobecher, mit der anderen mühte sie sich ab, den Sicherheitsgurt zu schließen.
Gigovaz hatte das Radio auf einen Sender für leichte Unterhaltungsmusik eingestellt.
Avishai Cohen, sagte er.
Der Name sagte Priya nichts, aber weil sie Gigovaz keinen guten Morgen entboten hatte, sagte sie: Sehr schön.
Er drehte die Lautstärke hoch und Priya war erleichtert, dass kein Small Talk von ihr erwartet wurde. Der Regen trommelte in gleichmäßigem Rhythmus aufs Autodach. Innen roch es nach abgestandenem Kaffee und nassem Hund. Einwegbecher lagen vollgestopft mit Big-Mac-Tüten herum, eine verschlissene Decke war über den Rücksitz ausgebreitet worden, auf dem Armaturenbrett lag eine feine Staubschicht, auf dem Boden eine Plastiktüte mit zur Hälfte zerkrümeltem Hundekuchen. Priya saß zum ersten Mal in Gigovaz’ Auto und war in keiner Weise überrascht.
Als sie an Richmond vorbei nach Süden fuhren, ließ der Regen nach. Containerschiffe und Baukräne kamen in Sicht, goldene Lichttupfen drangen durch den Nebel. Im Radio kündigte ein melodischer Dreiklang die Nachrichten an. Top-Story: die Flüchtlinge.
Das Schiff wurde zwölf Seemeilen vor der Vancouver-Insel von uns aufgegriffen, berichtete ein Sprecher der Königlichen Kanadischen Berittenen Polizei. Die Migranten wurden in Gewahrsam genommen, eine gründliche Durchsuchung des Schiffs ist zurzeit im Gang.
Der Nachrichtensprecher warf ein: Das Schiff führte keine Flagge und keine Registrierungsnummer – ein Zeichen dafür, so die Küstenwache, dass es unbemerkt in Kanada habe landen wollen.
Gigovaz schaltete das Radio aus. Ein Riesenfrachter mit hunderten von Leuten, sagte er. Ich bin sicher, die wollten sich klammheimlich einschleichen.
Am Fährhafen wurden sie in die Schlange hinter einen blauen Camry gewinkt. Eine kanadische Flagge war an dessen Antenne geheftet und wehte leicht in der Brise. Der Himmel hatte sich zu einem milden Grau verfärbt, es war richtig Morgen geworden. Der Parkplatz war fast leer, nur ein paar Pendler waren an diesem Feiertag, einem Mittwoch, unterwegs. Gigovaz leierte das Fenster nach unten, um den Seitenspiegel abzuwischen. Priya machte dasselbe auf ihrer Seite, trocknete dann die Hand an ihrem Rock ab und unterdrückte ein Gähnen.
Heute hätte man ausschlafen sollen, Pulled Pork und Pancakes essen und vom Kitsilano-Strand aus das Feuerwerk des Nationalfeiertags anschauen – ohne Flüchtlinge, ohne Gigovaz und ohne diese Fahrt zur Vancouver-Insel, mitten in der Nacht.
Gigovaz war total abgedriftet, als Priya ihn auf einer Sitzung der ganzen Belegschaft zum ersten Mal wahrnahm. Die Partner von Elliot, McFadden, and Lo beglückwünschten sich bei einer Power-Point-Präsentation anlässlich fünf stolzer Zahlenreihen. Priya stand an die Hinterwand gelehnt und versuchte, ihre eingezwängten Zehen zu ignorieren, wobei ihr eine eidesstattliche Erklärung durch den Kopf ging, die sie auftreiben musste. Da bemerkte sie ihn. Gigovaz saß zusammengesackt in seinem Sessel, das Kinn auf der Brust, an den Fingern baumelte eine Kaffeetasse. In der Gesellschaft tadellos sitzender Nadelstreifenanzüge und scharf gespitzter Schreibstifte gab er eine konturlos schwammige Gestalt ab, die in weichen Falten nach allen Seiten überschwappte.
McFadden sagte: Die in Rechnung zu stellenden Stunden sind um 47 Prozent gestiegen, und erntete dröhnenden Applaus. Gigovaz fuhr erschrocken hoch, und Priya starrte unwillkürlich in ein verschlafen schielendes Augenpaar. Sie wandte sich ab und klatschte mit, aber blickte möglichst unauffällig kurz darauf noch einmal zu ihm hinüber. Gigovaz musterte sie immer noch.
Nach der Sitzung folgte er ihr in den Aufzug und bat sie, ihm die Silben ihres Nachnamens auszusprechen.
Raja, sagte sie.
Raja, wiederholte er.
Ein paar andere Personen waren im Aufzug, aber die sagten kein Wort.
Say-kar.
Say-kar.
An.
Rajakaran, sagte er.
Raja-se-kar-an, korrigierte sie ihn.
Sie fand ihren eigenen Namen ziemlich dumm. Die einzelnen Silben verloren durch die Wiederholung ihre Bedeutung, klangen peinlich.
Sie sind Sri-Lankerin?, fragte er.
Ich bin Kanadierin, sagte sie und hob den Kopf ein wenig höher.
Gigovaz verdrehte eine zerknitterte Hand in der Luft und sagte: Ja, ja. Aber Ihre Familie kommt ursprünglich aus Sri Lanka, nicht wahr?
Der Aufzug hielt an und eine Person stieg aus.
Ja, sagte sie. Sie waren zehn Etagen von ihrem Schreibtisch entfernt, und alle Knöpfe auf der Schalttafel leuchteten.
Tamilen?, fragte er.
Ja.
Sie biss sich auf die Lippen und presste die Hände zusammen.
Gigovaz war Senior Counsel, also einer der ranghöheren Anwälte in der Firma, aber an seinem Kragen war auch ein Schmierfleck von Schokolade. Man wusste nicht so recht, wie man sich in seiner Gegenwart verhalten sollte. Noch eine einzige blöde Frage, und Priya würde aussteigen und die Treppen nach oben gehen.
Sie sind Jurastudentin im letzten Jahr? Und bevor sie antworten konnte, fragte er, ob sie Flüchtlingsrecht belegt habe.
Die Tür ging auf und sie traten beiseite, damit eine Frau sich von hinten zwischen ihnen durchquetschen konnte.
Ich spezialisiere mich auf Körperschaftsrecht, sagte Priya.
Mit IFPA haben Sie sich nicht befasst?, fragte er.
IFPA. Sie wusste nicht mehr, was dieses Akronym genau bedeutete, und reimte sich zusammen: Immigrations-Flüchtlings-und-Noch-was-Akt.
Wir haben Scheidungsrecht gemacht.
Wer ist Ihr Tutor?
Joyce Lau. Fusionierung und Erwerb.
Joyce Lau trug ihr Haar in einem Knoten zusammengesteckt und fuhr einen Audi. Sie war der jüngste Senior Counsel in der Geschichte der Firma, und Priya hatte für diesen Job fünf Kommilitonen ihres Jahrgangs aus dem Feld geschlagen.
Gigovaz strich sich übers Kinn. Joyce Lau, sagte er. Beachtlich, beachtlich.
Als sie Priyas Etage erreichten, stieg Gigovaz mit ihr aus und steuerte direkt auf Joyces Büro zu. Packen Sie Ihre Sachen, Miss Rajakaran, sagte er. Sie ziehen um in die siebte Etage.
Kochend vor Wut betrat Priya die Fähre. Sie verwünschte ihre Hautfarbe, sie verwünschte den Augenblick, in dem sie bei der Kanzleisitzung noch einmal zu Gigovaz hinübergeschaut hatte. Als sie Joyce Lau gefragt hatte, warum Gigovaz nicht jemanden haben wollte, der sich im Einwanderungsrecht auskennt, hatte Joyce nur die Achseln gezuckt und geantwortet: Peter will Sie haben. Niemand hatte sich zum Praktikum bei Gigovaz eingetragen, und jetzt hatte er Priya auf diese hinterhältige Art und Weise eingefangen.
Die Motoren sprangen an, der ganze Schiffskörper begann zu vibrieren, rüttelnd und knackend setzte die Fähre sich in Bewegung. Gigovaz legte die Hände ineinander, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und dozierte über die Relevanz der Glaubwürdigkeit. Die Wahrheit ist belanglos, sagte er. Entscheidend ist, ob die Kläger den Anschein geben, die Wahrheit zu sagen.
Er hatte seine Professorenstimme aufgelegt, gelehrt und herablassend. Du bist nicht mein Mentor, dachte Priya.
Gigovaz sah auf seine Armbanduhr. Wahrscheinlich werden die jetzt gerade von den Einwanderungsbeamten ausgefragt.
Moment mal. Die werden ohne uns befragt?, wollte Priya wissen. Haben sie kein Recht auf einen Anwalt?
Es gibt keine Anklage gegen sie, sagte Gigovaz. Technisch gesehen haben sie keinerlei Rechte.
Über ihnen klapperte eine Heizungsöffnung. Die Fähre zerteilte das Wasser und schob sich nach vorn in ein glattes, graues, vernebeltes Nichts. Touristen an Deck fröstelten in ihren Regenmänteln und schossen unnütze Fotos.
Vor zehn Jahren sind fünfhundert Flüchtlinge aus China gekommen, fuhr Gigovaz fort. Vier Schiffe innerhalb von zwei Monaten. Meine Klienten vom ersten Schiff waren schnell abgefertigt und ins Land entlassen, mit Krankenversicherung, Wohnzuschlägen, Arbeitsvermittlung, dem ganzen sozialen Willkommenspaket. Ein paar Monate später kamen die Anhörungen vor der Flüchtlingskommission. Die übliche Routine.
Priya fragte sich, wie schnell dieser Fall hier durchgebracht werden kann. In einem Monat, höchstens. Er erwartete bestimmt nicht von ihr, dass sie bis zum Abschluss des Ganzen für ihn arbeiten wird.
Gigovaz dozierte immer noch: Aber was, glauben Sie, passierte, als ein Schiff nach dem andern aufgekreuzt ist? Plötzlich waren die Asylsuchenden Kriminelle. In Prince George wurde ein Gefängnis wiedereröffnet, nur um sie erst mal aufzunehmen. Dann kamen die endlosen Haftüberprüfungen und Zulassungsanhörungen. Monat für Monat zog sich das hin. Um alles und jedes mussten wir kämpfen. Übrigens war das in demselben Jahr, in dem wir fünftausend Menschen aus dem Kosovo ausgeflogen haben.
Das Flüchtlingsgesetz ist also ganz schön launisch, dachte Priya. Umso wichtiger wäre es, einen Experten hinzuzuziehen. Dann aber hätte er niemanden, dem er seine Weisheit predigen könnte.
Dieses eine muss man begreifen, sagte Gigovaz, im Einwanderungsgesetz können die Richtlinien und ihre Ausführung weit auseinanderklaffen. Er löste die Hände aus ihrer Umklammerung und hielt ihr diesen Abstand demonstrativ vor Augen. Wenn es um Flüchtlinge geht, hat unser Land eine gespaltene Persönlichkeit.
Dreihundert Menschen an Bord eines Schiffes, das rund um die Welt im Kollisionskurs auf Kanada zuschaukelt. Sie wurden gesichtet, sagte Gigovaz. Geheimdienste, Satelliten, Sichtungsberichte aus internationalen Häfen. Wochenlang haben sie allesamt gewartet. Jetzt sind die Leute hier.
Und was wird aus ihnen?, fragte Priya. Ich meine, werden sie bleiben dürfen?
Eine Lautsprecheransage wies die Passagiere noch einmal an, ihre mitgeführten Haustiere in den Autos zu lassen. Gigovaz fixierte den Lautsprecher an der Decke, bis die geisterhafte Stimme verstummte.
Mein allererster Klient war ein Rohingya. Wissen Sie, wer die Rohingya sind?
Als Priya kopfschüttelnd verneinte, erhob Gigovaz seine Zeigefinger, die wie zwei Kirchtürme nach oben wiesen, und dann brachte er die Spitzen zusammen.
Das ist eine Minderheit in Myanmar – Muslime in einem buddhistischen Land. Staatenlos und unterdrückt. Ibrahim Mosar. Er hatte keine rechte Hand mehr. Brandflecken von Zigaretten auf der ganzen Brust.
Priya zuckte zusammen und Gigovaz sagte: Ich war heißblütig und ungehalten wie jeder andere junge Flüchtlingsanwalt, und hier war mein Klient, ruhig und gelassen. Inschallah, Mr. Gigovaz, sagte er immer. So Gott will.
Que será, será, sagte sie. Vermutlich eine Möglichkeit, sein Schicksal zu akzeptieren.
Wir tun unser Bestes, sagte Gigovaz. Unsere Klienten tun ihr Bestes. Alles andere liegt an …
Er hob seine Hände so, als balancierte er eine Servierplatte.
Allah?, fragte sie.
Dem Entscheider, sagte Gigovaz. Er griff blind mit einer Hand unter seinen Sitz. Sie näherten sich dem Fährhafen.
Und was ist aus Ibrahim geworden?, fragte Priya.
Gigovaz war aufgestanden und hielt seine Aktentasche in der Hand. Der Antrag wurde abgelehnt. Sie haben ihn zurückgeschickt.