Читать книгу Dein Licht durchbricht die Dunkelheit - Sharon Garlough Brown - Страница 11
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Er nahm den Kelch
Januar
Hannah kam zur gewohnten Zeit am Sonntagnachmittag, und Kit begrüßte sie mit einer Umarmung, während sie nach oben lauschte, ob irgendetwas von Wren zu hören war. Aber alles war still. Nicht einmal ein Matratzenknarren als Reaktion auf das Läuten der Türklingel.
„Komm rein. Ich koche uns eine Kanne Tee, wenn du dafür Zeit hast.“
„Ich wünschte, das hätte ich. Aber ich muss nachher noch wegen einer Beerdigung zurück zur Kirche.“
Kit hängte Hannahs Mantel und Schal in den Garderobenschrank. „Dann hast du einen langen Tag.“
„Ja, aber dafür nehme ich morgen frei.“ Hannah folgte Kit in die Küche. „Wie geht es ihr?“
„Unverändert. Vorhin konnte ich sie dazu bringen, ein wenig Suppe zu essen, das ist schon mal ein kleiner Sieg. Für uns beide.“
Hannah öffnete ihre Tasche und nahm das Abendmahlsgeschirr heraus. „Ist sie wach?“
„Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war sie es. Ich habe ihr gesagt, dass du kommst, wir können also hochgehen.“
Als sie oben ankamen, stand Wrens Zimmertür offen und Wren saß in eine Decke gehüllt auf dem Bett. Sie hatte die Hände um Caseys Mütze geklammert, und die Van-Gogh-Drucke, die Kit ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, lagen auf ihrem Schoß.
Hannah begrüßte sie und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. „Das eine kenne ich“, sagte sie und zeigte auf die Sternennacht. „Wie heißt das andere?“
Wren zögerte einen Moment, dann sagte sie: „Olivenbäume.“
„Sie sind wirklich schön“, sagte Hannah. „Ist es dir recht, wenn ich sie für einen Moment zur Seite lege, damit wir nicht aus Versehen etwas darauf verschütten?“
Als Wren etwas Zustimmendes murmelte, stellte Hannah die Drucke auf die breite Kommode, wo sie vom Bett aus gut sichtbar waren.
Kit zog sich den Schreibtischstuhl heran. Wenn Wren sich ganz bewusst Vincents Bilder ansah, war das ermutigend. Während Hannah den Traubensaft in den Kelch aus gedrechseltem Olivenholz goss, sah Kit sich die Bilder an – beides Kunstwerke voll aufgewühlter Emotionen – und fragte sich, ob Wren wohl in ihnen den Trost finden konnte, den das Betrachten der Bilder ihr früher immer gegeben hatte. Vielleicht würden ihre Gedanken ja zu Jesus in Gethsemane gehen, und sie würde sich erinnern, dass es sie getröstet hatte, sich vor Augen zu führen, welch große Angst er dort erlebt hatte. „Mich ärgern diese friedvollen Darstellungen“, hatte sie Kit anvertraut und meinte die bekannten Gemälde, die einen heiteren, einwilligenden Jesus in sanftem Mondlicht zeigten, der die Augen fromm zum Himmel wandte. „Sie haben überhaupt nichts Tröstliches an sich.“
Kit stimmte ihr zu. Man sollte darstellen, wie er in seiner Angst bebte, darum flehte, dass der Kelch an ihm vorübergehen möge. Das Wort, das Mensch geworden war – ebendasselbe Wort, das alles ins Dasein gerufen hatte –, das sollte man darstellen, wie es dem Vater Bitten entgegenstöhnte, die nicht erhört werden würden. Man sollte Jesus darstellen mit Schweiß, Tränen, in seinem Ringen. Und dann – und erst dann – auch so, dass er sich dem Willen des Vaters beugte.
„Ebenso“, sagte Hannah, „nahm er nach dem Mahl den Kelch …“
Er nahm den Kelch. Es waren diese Worte, über die Kit nachdachte, während Wren wie ein kleines Kind den Mund öffnete, um das Brot zu empfangen, dass Hannah ihr auf die Zunge legte.
Er nahm den Kelch. Und er reichte ihn auch seinen Freunden, um daraus zu trinken, damit sie am neuen Bund teilhatten, der mit seinem Blut besiegelt werden sollte. Er nahm den Kelch.
Aber ebenso bat er den Vater, den Kelch zu nehmen. Er bat den Vater, ihm den Kelch des Leidens, des Gerichts, des Zorns und der Bedrängnis zu ersparen. Doch am Ende würde Jesus auch diesen Kelch nehmen. Und er würde ihn leer trinken.
Hannah setzte den Kelch an Wrens Lippen, damit sie einen Schluck nehmen konnte. Etwas in Wrens Blick, wie sie Hannah ansah, während sie trank – eine ergreifende Mischung aus Kummer, Vertrauen und einer Sehnsucht nach Hoffnung –, ließ eine Erinnerung in Kit aufsteigen. „Nimm ihn“, hatte sie gesagt und den Becher an Michas Lippen gehalten. „Das wird dir helfen.“ Er hatte sie angestarrt, und in seinen Augen hatte eine ähnliche Mischung aus Schmerz, Vertrauen und, ja, einem Verlangen nach Linderung gelegen. Und er hatte den Becher leer getrunken.
„Katherine.“
Kit schrak auf, als sie ihren Namen hörte. Hannah hielt ihr Brot und Traubensaft hin. „Tut dies zu meinem Gedächtnis.“
Kit nahm das Brot. Sie nahm den Kelch. Aber die Erinnerung war ihr wie ein Schwert durchs Herz gedrungen.
Als Hannah gegangen war und Wren wieder im Bett lag, kniete sich Kit in ihrem Arbeitszimmer vor ein Regal und ergriff eine Schachtel mit Fotos, die sie nie in Alben geklebt hatte. Wenn der Heilige Geist sie bat, den Kelch der Erinnerung zu nehmen und bis auf den Grund zu leeren, dann musste sie ihren Sohn auf einem seiner letzten Fotos ansehen.
Diese Bilder, dachte sie, während sie die Fotos durchsah, würden auch eine gute Collage ergeben: Micha an seinem zehnten Geburtstag, wie er mit Kuchen und Luftballons im Restaurant am Tisch saß, neben ihm Sarah und eine Freundin von ihr, weil sein bester Freund doch kein so guter Freund war, als dass er gekommen wäre. Micha bei einem Basketballspiel in der Mittelstufe, wie er allein auf der Bank saß, in dem viel zu weiten Trikot um seine schlaksige Gestalt, und zusah, wie die älteren Jungs ihre Ballmanöver vorführten. Micha im Anzug neben Sarah und ihrem Tanzpartner beim Abschlussball, weil seine Verabredung ihm im letzten Moment eine Abfuhr erteilt hatte.
Wäre es denn so schwer gewesen, Herr, ihm auch nur einen Freund zu schenken?
Kit strich über der traurige Gesicht ihres einsamen Jungen; dann schaute sie den Stapel weiter durch, bis sie das Foto fand, das sie gesucht hatte: Micha mit einem Gips am Bein, der ein weiterer Beleg seiner Einsamkeit war, denn die wenigen Unterschriften und „Gute Besserung“-Wünsche waren nicht von Schulkameraden oder Freunden gekommen, sondern von seiner Familie. Sie nahm das Foto aus der Schachtel. Wenn es Fotos von ihrem letzten gemeinsamen Thanksgiving gegeben hatte, waren sie abhandengekommen. Oder vielleicht in irgendeiner von Roberts Kisten gelandet, die er nach ihrer Scheidung aus dem Haus getragen hatte. Es war seine Seite der Verwandtschaft gewesen, die sich an Thanksgiving immer zum Essen und zu einem Footballspiel getroffen hatte, sogar, wenn Schnee lag. Sie trafen sich im Haus von Roberts Schwester, die alle bewirtete und sich Mühe gab, niemanden merken zu lassen, dass sie Dylan und Patrick, die beide älter waren als Micha, ermahnt hatte, ihren Cousin mitmachen zu lassen. Mehr als einmal hatte Kit mitgehört, wie die beiden protestiert hatten.
Aber an diesem letzten Thanksgiving hatten Dylan und Patrick Micha von sich aus gebeten mitzuspielen. Er hatte nicht gewollt, das hatte Kit gesehen. Er hätte viel lieber mit einem Buch in irgendeiner Ecke gehockt, wo ihn niemand störte. Aber Robert und seine Neffen hatten ihn bedrängt – sie brauchten noch einen Mitspieler, damit die Teams gleich stark waren –, und Kit hatte ihn überredet, sein Buch für ein Weilchen wegzulegen und mitzuspielen. Ein bisschen Spaß zu haben.
Aber es war kein Spaß gewesen. Ein harter Angriff von einem der Nachbarsjungen, ein schreckliches Splittergeräusch, ein schriller Aufschrei, dann eine Fahrt ins Krankenhaus, um einen offenen Bruch zu behandeln, ein Bein in Gips, eine Dosis Schmerzmittel. Eins hatte zum anderen, das wieder zum nächsten geführt. Und als das leichtere Schmerzmittel nicht mehr wirkte, tat es das Morphium. Es war am Ende nicht Michas Experimentieren mit illegalen Drogen gewesen, das ihn umgebracht hatte. Es waren die legalen Drogen.
Und sie war es gewesen, die ihm den Kelch gereicht hatte.