Читать книгу Dein Licht durchbricht die Dunkelheit - Sharon Garlough Brown - Страница 9
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Sie schenkten ihm Myrrhe
Epiphanias
In genau so einem Wartezimmer, in dem sie jetzt darauf wartete, dass Wrens Therapiesitzung zu Ende war, hatte sie mit Robert gestritten. Kit hatte ihn gebeten, nicht so laut zu sprechen – bitte –, was sollten die anderen Patienten denken? Sie konnten doch mit dem Therapeuten unter sich darüber sprechen, welches Entzugsprogramm für Micha am besten wäre. Aber Robert hatte von solchen Programmen gehört. Geldverschwendung sei das, sagte er. Es sei doch völlig normal, dass Teenager mal Drogen probierten. Er habe das in Michas Alter auch getan und es habe ihm auf lange Sicht nicht geschadet. Sie sei überbehütend und kontrollierend, hatte Robert gesagt, und wenn sie nicht so verurteilend und moralisierend wäre – oder vielleicht auch, wenn sie doch nur mal aufhören würde, sich einzumischen, und Micha Raum geben würde, die Dinge für sich selbst zu klären, und, ja, notfalls auch damit zu scheitern –, würde er schon aus dieser rebellischen Phase herauswachsen, wie Robert es schließlich auch getan hatte.
Von dieser Position konnte man Robert mit keinen Argumenten der Welt abbringen, schon gar nicht, als der Therapeut sich „auf ihre Seite stellte“ und ihr zustimmte, dass es klug sei, ein bestimmteres Vorgehen zu wählen, das auch im Blick auf Michas zugrunde liegende Depression hilfreich sein könnte. Robert hatte sich geweigert, zu einem weiteren Treffen mit dem Therapeuten mitzukommen. Und seine abschätzigen Bemerkungen über Therapie im Allgemeinen und Michas Therapeuten im Besonderen – die er im Übrigen besonders gern vor ihrem Sohn machte – hatten Michas ohnehin schon schwachem inneren Engagement für seine Therapiestunden gänzlich den Garaus gemacht. Kit konnte ihn nicht zwingen hinzugehen. Sie hatte es versucht – vergeblich.
Wren ging zum Glück ohne Widerstände zu ihren Therapieterminen, und ihre Therapeutin hatte ihr in weiser Voraussicht mehrere Termine im Voraus gegeben, um Wren die Mühe zu ersparen, jedes Mal erneut anzurufen. Kit musste sie nur noch erinnern, wann sie losmusste, und sie hinfahren. Und dann Jamie Bescheid geben, ja, Wren sei bei Dawn. Jamie hatte gelernt, nicht mehr nach Einzelheiten zu fragen, auch wenn sie es kaum aushalten konnte, es nicht zu tun. Kit verstand das. Und sie verstand auch die Angst.
Sie blätterte eine Zeitschrift durch und sah sich die Fotos an. Nachher würde sie die Sprechstundenhilfe fragen, ob sie einige alte Ausgaben mitnehmen könnte. Sie würde die Bilder ausschneiden, um sie heute Abend im Einkehrzentrum für eine Collage zum Thema Gebet zu verwenden. Wren müsste sie nach New Hope begleiten – allein konnte sie nicht zu Hause bleiben. Und während Kit ihren Kurs gab, würde Wren wahrscheinlich in einem der Gästezimmer schlafen. Nicht in dem, in dem Casey eigentlich hatte wohnen sollen. Kit hatte die Tür verschlossen in der Annahme, es wäre wohl besser, wenn Wren diesen Raum nicht betreten konnte. Aber Kit hatte Wren jetzt schon ein paarmal in der Kapelle sitzen sehen, den Kopf auf den Stuhl gelegt, auf dem Casey seinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Vincent hatte den Stuhl eines Freundes gemalt – leer. Das hatte Wren in einem ihrer lichteren Momente gesagt. Leere Stühle brachten sie zum Weinen.
Kit ließ ihre Gedanken schweifen – zu ihrem alten Küchentisch, wo Michas Stuhl lange Zeit genau in der Position gestanden hatte, wie er ihn verlassen hatte. Wenigstens, dachte sie, war alles so, wie er es zurückgelassen hatte. Es hatte kein denkwürdiges letztes gemeinsames Mahl gegeben, nur ein gewöhnliches Abendessen, bei dem die Gabeln auf den Tellern kratzten, was umso hörbarer war, als ein Gespräch am Tisch fehlte. Hätte sie gewusst, dass sie ihren geliebten Jungen am nächsten Morgen tot in seinem Bett auffinden würde, welche letzten Worte hätte sie ihm dann noch zu sagen versucht? Und welche letzten Worte hätte sie sich von ihm gewünscht?
Wren hatte zumindest einen handgeschriebenen Brief von Casey. Eine Notiz, eher. Seine Absichten waren verworren, ja, aber seine Liebe und sein Bedauern waren unverkennbar. Das war ein Geschenk.
Die Tür zu Dawns Sprechzimmer öffnete sich und Wren erschien. Auf ihrem dunklen, ungewaschenen Haar saß ein wenig schief Caseys Mütze. Wenn Kit sie nur dazu bringen könnte, ihr diese Mütze mal für eine Stunde zu überlassen, könnte sie sie waschen. Wren war vermutlich nicht klar, welchen Geruch ihre Klamotten verbreiteten. Sie hatte kaum genug Energie, mal ein neues T-Shirt anzuziehen. An Duschen war überhaupt nicht zu denken.
„Dann bis nächste Woche“, sagte Dawn, die Hand auf Wrens Schulter gelegt. Wenn Wren reagierte, hörbar oder sonst wie, dann entging das Kit. Aber für einen Augenblick traf ihr Blick den von Dawn, und Dawn nickte ihr zu, als wolle sie sagen: „Danke“ und „Bitte, tun Sie das, was Sie tun, auch weiterhin.“
Kit legte die Zeitschrift zurück auf den Tisch. Sie hatte bereits genügend Fotos für die Collagen. Um überschüssige Zeitschriften würde sie ein andermal bitten.
„Es wird nicht lange dauern, bis ich den Abend vorbereitet habe“, sagte sie, als sie zum New Hope-Einkehrzentrum fuhren. „Dann können wir noch nach Hause fahren und uns etwas ausruhen, bevor wir für den Kurs zurückkommen.“ Klare und kurze Ansagen erwiesen sich als hilfreicher als Fragen. Wren zu fragen, wozu sie sich imstande fühlte oder was sie tun wollte, schien sie im Moment zu überfordern.
Kit warf einen Blick auf den Beifahrersitz, wo Wren mit geschlossenen Augen saß, den Kopf ans Fenster gelehnt. Die Therapiestunden waren notwendig, zweifellos, aber danach war Wren erschöpft. Kit hatte nach Michas Tod auch therapeutische Hilfe in Anspruch genommen; sie erinnerte sich an nichts mehr, außer, dass Robert sie hingefahren hatte, weil sie sich nicht zutraute, selbst zu fahren. Er hatte sie auch in die psychiatrische Klinik gefahren, als ihr Therapeut darauf bestanden hatte, dass sie sich in stationäre Therapie begab. Kit hatte nicht genug Energie gehabt, um zu widersprechen, weder dem Therapeuten noch Robert, der ihren Koffer hineingebracht hatte, nachdem die Aufnahmeformalitäten erledigt waren. Schon seltsam, wie manche Bilder sich in ihr Gedächtnis eingegraben hatten, unauslöschlich, während andere keinen Eindruck hinterlassen hatten. Er hatte den burgunderroten Koffer auf den grünen Teppich mit Parsleymuster gestellt, sie auf die Wange geküsst und gesagt, er werde später in der Klinik anrufen, um zu fragen, wie es ihr gehe. Er hatte Wort gehalten. In dieser Hinsicht.
Beim New Hope-Einkehrzentrum angekommen parkte Kit vor dem Haupteingang und öffnete die Beifahrertür für Wren, die keine Anstalten machte auszusteigen. „Komm doch mit rein“, sagte Kit und streckte ihr die Hand hin. „Pass auf mit der Stufe. Ja, genau. Wir sagen nur schnell Gayle Hallo und schauen, was noch vorbereitet werden muss.“ Noch vor ein paar Wochen hätte Wren die Waschräume geputzt, die Flure gesaugt und die Kapelle aufgeräumt. Jetzt war es schon ein Sieg, wenn sie ein Staubtuch handhaben konnte. Glücklicherweise machte es Gayle, die ein paar Stunden in der Woche am Empfang saß, nichts aus, Überstunden zu machen und auszuhelfen. Sie kannte die Situation: Sie hatte eine erwachsene Tochter, die an Depressionen litt.
Gayle begrüßte sie herzlich und reichte Kit eine Teilnehmerliste und ein paar Aktenordner. „Ich hab mal die Fotos herausgelegt, von denen ich meine, sie könnten für die Collagen brauchbar sein.“
Kit überflog rasch die Kategorien: Lebensmittel, Architektur, Natur. Das waren vermutlich Gayles persönliche Vorlieben. „Wir sollten noch die zum Thema ,Hände und Füße‘ und ,Wege‘ dazunehmen“, sagte Kit. „Dann haben wir eine größere Auswahl.“ Sie zögerte und versuchte, ihren nächsten Schritt abzuwägen. Sie entschloss sich, der Sache nicht zu viel Gewicht zu geben. „Fragen wir doch die Künstlerin“, sagte sie und berührte sachte Wrens Jackenärmel, um sie in das Gespräch mit einzubeziehen. „Wren hat auch schon Collagen gemacht und sie hat ein gutes Auge für solche Dinge. Komm, wir sehen die Ordner mal da vorn am Tisch durch.“ Kit ging zum Aktenschrank und holte auch noch die restlichen Foto-Ordner heraus. „Oh, hier gibt es ja auch eine Sammlung mit Kunstmotiven – das wusste ich gar nicht mehr. Und dann haben wir noch ,Objekte‘, ,Menschen‘ und ,Gesichter‘.“ Sie legte die Ordner nebeneinander auf den Tisch, ohne sie zu öffnen. „Komm, Wren, schau mal mit drüber. Nur die Titel. Und du sagst Ja oder Nein. Was eignet sich gut für ein Neujahrsthema? Kunst?“
Sie wartete auf Wrens Reaktion. Nach einem langen Schweigen nickte Wren schließlich.
„Okay, gut“, sagte Kit. „Was ist mit Lebensmitteln?“
Diesmal kam die Antwort ein klein wenig rascher – ein leichtes Kopfschütteln. Das war nicht überraschend. Seit Caseys Tod hatte Kit nicht viel Essbares auf den Tisch bringen können, das Wren verlockt hätte. „Okay, den legen wir erst mal zur Seite. Aber der hier ist vielleicht geeignet: ,Hände und Füße‘. Würdest du ihn mal durchsehen und mir sagen, was du denkst?“
Zu Kits Freude ergriff Wren selbst den Ordner und öffnete ihn. Sie schwieg einen Moment und murmelte dann: „Ja.“
Das war so ein gutes Wort. Ja. „Okay. Und vielleicht noch ein Ordner? Würdest du die Wegebilder nehmen oder lieber ,Menschen und Gesichter‘?“
Wren zögerte, dann sagte sie ruhig: „Du könntest sie alle auslegen.“
Kit lächelte. „Ja, da hast du recht. Es gibt keinen Grund, sie nicht alle bereitzulegen. Dann haben die Teilnehmer eine große Auswahl und können das nehmen, was sie anspricht. Gute Idee.“ Sie sammelte die Ordner wieder ein und stupste Wren sanft die Schulter. „Vielleicht sogar auch den mit den Lebensmitteln, oder? Vielleicht möchte ja jemand ein Bild von einem Kuchen oder Pudding oder so etwas verwenden.“
Wren nickte wieder. Kit reichte ihr die Ordner. „Ich hole noch schnell die Klebestifte und das Tonpapier. Wenn du diese Ordner bitte für mich in den großen Seminarraum bringst und vorn auf den Tisch legst? Wir können entweder die Ordner auslegen oder bereits Fotos herausnehmen. Würdest du das für mich tun, Wren? Die Ordner schon mal auslegen?“
„Okay.“
„Prima. Ich bin in einer Minute bei dir.“ Wren verschwand um die Ecke und Kit bedankte sich bei Gayle.
„Ist doch selbstverständlich.“ Gayle senkte die Stimme. „Heute scheint sie ein bisschen munterer zu sein, meinst du nicht?“
„Vielleicht ein bisschen.“
Es war eine Versuchung, gegen die sie ankämpfen musste, dachte Kit, als sie wenig später durch den Korridor lief – die Versuchung, Wren ständig auf das kleinste Zeichen von Besserung hin zu überprüfen. Genau davor hatte sie auch Jamie gewarnt und ihr gesagt, es sei wichtiger, langfristigere Entwicklungen in Richtung Genesung in den Blick zu nehmen, als jeden Tag zu fragen: „Hat sie gegessen? Geduscht? Hat sie frische Sachen angezogen? Ist sie überhaupt aufgestanden? Hat sie mit irgendjemandem geredet?“ Nicht, dass all das nicht wichtige Anzeichen für Wrens Heilungsprozess wären. Aber man durfte die Hoffnung nicht darauf gründen, dass sie all das tat. Es gab nur einen, der die Last menschlicher Hoffnung tragen konnte: Christus – der gekreuzigte und auferstandene Christus. Alles andere würde unter dieser Last zerbrechen. Zumindest alles Irdische, wie es schien.
Als Kit den großen Seminarraum betrat, stand Wren an einem Tisch mitten im Raum über einen Stapel Fotos gebeugt. Es sah aus, als hätte sie einfach alle Fotos aus den Ordnern ausgeschüttet. Na, egal. Kit konnte sie ja nachher wieder sortieren. „Hast du etwas Interessantes gefunden?“
Wren legte beide Hände an ihre Mütze und beugte sich noch tiefer über den Tisch. Dann ergriff sie ein Foto, zerknüllte es und steckte es unter leisem Gemurmel in ihre Hosentasche.
„Was sagst du, Liebes?“ Kit trat näher, um zu hören, ob eine Antwort käme.
„Zu traurig“, sagte Wren.
Kit ließ den Blick über den Tisch schweifen. Was mochte Wrens Reaktion ausgelöst haben? „Ja, manche Fotos sind traurig, nicht?“ Sie griff nach einem Bild, das ein älteres Ehepaar auf einer Parkbank zeigte, das Vögel fütterte. „Sogar solche, die eigentlich etwas Schönes zeigen, können traurig sein, meinst du nicht?“ Besonders dann, wenn sie zerbrochene Träume oder unerfüllte Sehnsüchte abbildeten. „Wenn du magst, können wir irgendwann einmal Gebetscollagen von allem machen, was traurig ist.“
Wren wandte sich zu ihr um. Ihre großen braunen Augen waren stumpf und müde. Dann griff sie in die Hosentasche, glättete das zerknitterte Bild und reichte es Kit.
„Ja“, sagte Kit leise, „ich verstehe, was du meinst. Das ist sehr traurig.“ Mit einem tiefen Atemzug gab sie Wren das Foto zurück. Es zeigte einen jungen Vater, der ein schlafendes Baby in den Armen wiegte.