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5.

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Ich wusste nicht, was mit mir passieren sollte. Als ich als Kind meinen Vater als gefährlich empfunden hatte, hatte ich ihn mit den Augen eines Kindes gesehen, und war die möglichen Strafen mit dem Hirn eines Kindes durchgegangen. Wie leicht ist es, ein Kind zu bestrafen!

Heute war ich erwachsen, und meine Ängste galten nicht mehr einem Schlag aus seiner Hand, einem versagten Abendessen oder einer Woche Fernsehverbot. Ein Blick auf seine Mauer konnte mich nicht mehr schrecken. Meine Welt war größer geworden. Doch er kam mir noch immer gefährlich vor.

Er konnte mir noch immer gefährlich werden.

Ich krallte die Finger um das kalte Metall des Schreibtischstuhls meines Bruders und versuchte, mir kalt und nüchtern zu überlegen, was unser Vater mir antun konnte. Ich sortierte in GAU und Super-GAU. Ich versuchte es wenigstens, gab mir Mühe. Ganz unten stand, dass es heute nichts zu essen geben würde, aber das blieb unnotiert.

Sollte ich die ganze Nacht lang hier sitzen? Und was würde morgen geschehen? Wäre es nicht lästig, mich hier länger festzuhalten – ich merkte, ich fiel drauf rein: Ich überlegte, was mir lästig wäre, und hoffte, für ihn wäre es ebenso.

Was konnte er mir antun?

Mich hier in der Wohnung einsperren? Wie lange? Wozu?

Ich war kein Kind mehr. Und das war ein Problem. Ich kannte nur die Dimension, die er für Kinder gesetzt hatte, sie war hoch genug – für Kinder. Ich konnte mir nicht vorstellen, welche Latte er für mich heute setzen würde. Was würde er mir antun?

Es machte mir Angst, dass mir nichts einfiel. Meine Fantasie reichte nicht aus, mir die Fantasien meines Vaters vorzustellen.

Wie sehr ich damit recht hatte, das wusste ich damals nicht.

*

Der Rollladen vor dem Fenster ließ durch die ovalen Löcher das Restlicht der Straßenlaternen herein. Ab und zu wurde es etwas heller im Zimmer, weil unten ein Auto gefahren kam.

Ich stellte mir vor, wie sie nach Hause kamen: Gute Familienväter, die oben von ihrer Rasselbande in Empfang genommen wurden. In seiner Selbstdarstellung war mein Vater immer wie sie gewesen, und wir stellten seine glückliche Familie dar. Ich habe nie verstanden, warum niemand je bemerkt hatte, dass es nicht stimmt. Oder ist es sehr wohl aufgefallen, und es hat nur nie jemand darüber ein Wort verloren? Weil man sich nicht einmischt in fremder Leute Angelegenheiten… ist es das?

Oder schlimmer? Hat nie jemand etwas gesagt, weil es normal ist – so zu leben wie wir? Ist es in Wirklichkeit in jeder dieser Familien, deren Väter drunten ihr Auto abstellten, während ich hier gefangen saß, ebenso wie in unserer? Vielleicht war die schöne Welt, in die ich meinte, hinauszusehen, im Grunde genauso hässlich wie meine eigene…

Der Stuhl, auf dem ich fest saß, war ein alter Schreibtischstuhl mit vier Rollen. Ich versuchte, mich mit den Füßen Richtung Fenster zu stoßen. Es war möglich, war aber sinnlos, denn wir wohnten im vierten Stock.

Ich träumte davon, das Fenster aufzustoßen und hinauszurufen… aber dort drunten würde mich eh keiner hören. Außerdem bekam ich das Fenster nicht auf, nicht mal den Rollladen. Ich war gefesselt. Ja, echt!

Ich war gefesselt. Ich konnte es selber kaum glauben – an irgendetwas musste es liegen, dass ich es immer wieder vergaß. Jedenfalls meinte ich, dass es so wäre. Bis die Fessel an der linken Hand mir plötzlich irgendwie lose erschien. Ich rüttelte daran und hatte auf einmal den Rundbügel der einen Seite im Handballen stecken. Der Kreis, der mein Handgelenkt einsperrte, er hatte sich gelöst.

Die Handschellen waren lose. Irgendwie lose.

(Sei nicht dumm: das kann nicht sein! dachte ich mir. Das ist nicht möglich. Wenn es möglich wäre, dass Handschellen sich so leicht lösen – wie viele Straftäter würde unserer Polizei auf dem Transport in Gewahrsam verloren gehen?)

Tatsächlich, sie waren lose. Einen Moment lang dachte ich, dass sie vielleicht verrostet wären, es war ja lange her, dass mein Vater die Polizei verlassen hatte. Ich weiß noch, dass ich den Gedanken verwarf und dachte, Blödsinn, Handschellen rosten nicht…, aber diese Warnung hinderte mich nicht daran, mir die Handgelenke frei zu schaukeln. Ich nahm die Hände aus den Fesseln und war frei.

Ich sprang auf und ans Fenster. Ich holte tief Luft und zog, ganz ganz langsam, am Rollladengurt. Nur kein Geräusch machen. Bloß keinerlei Sound!

Der Rollladen hob sich langsam und gab den Blick auf die Straße und die autobestandene Vorderseite unseres Wohnblocks frei. Vier Stockwerke tiefer standen all die Autos und Sträucher, die Mülleimer und Fahrräder. Was für eine wahnsinnige Idee, hier oben aus dem Fenster zu klettern… Ich weiß nicht, warum ich den Gedanken dennoch nicht mehr aus dem Kopf bekam!

Ich öffnete das Fenster und sah hinaus. Seit vielen Jahren kannte ich, was ich draußen sah, und die ganze Zeit über waren die Chancen, sich dort kletternd herumzubewegen, nicht besser geworden.

Einen Moment lang dachte ich, dass die Lage der Wohnung vielleicht Absicht gewesen war: Mein Vater hatte den Ausbruch seiner Kinder lang im Voraus kommen sehen und ihn eingeplant. Er wollte uns zu Tode stürzen sehen. Perfide Idee. Sähe ihm ähnlich. Ich tu dir nicht den Gefallen, dachte ich. Nein bestimmt nicht! Du hast nicht eingeplant, wie gut ich klettern kann.

Ich konnte schon gut klettern, aber was half das, wenn an diesem Haus nichts zum klettern dran war? Nebenan im reichlich verwilderten Park hatte ich mich mit meinem Bruder auf den Bäumen herumgetrieben – da waren Äste, wohlsortiert führten sie den Stamm hinauf. Wie ordentlich die Natur doch war. Wie affenliebend.

Gleich neben dem Fenster war eine Regenrinne, daneben der kleine Küchenbalkon der Nachbarwohnung. Alle drei Wohnungen darunter verfügten über denselben. Aus dem ersten Stock hätte man es spaßeshalber mal probieren können, sich draußen zu bewegen, aber doch nicht von hier aus…?

Ich hob mein linkes Bein über das Fensterbrett und setzte mich darauf. Dann zog ich das rechte nach. Ich rückte so weit es ging nach rechts und versuchte, mit den Beinen die Regenrinne zu erreichen. So funktionierte das nicht.

Wie dann, mit den Händen?

Denk nach! Denk nach… Wenn ich die Regenrinne drüben umfasste und die Beine nachzog, dann würde es klappen oder nicht. Ich würde fallen oder nicht.

War ich wirklich so panisch, so erpicht, meinem Vater aus den Augen zu gehen? Oder steckte noch ein Stück Abenteuerlust daran, dieses Wissenwollen, ob es geht? Ob man es hinkriegt?

Oder nicht war mir zu viel. Ich rutschte zurück und drehte mich Richtung Zimmer. Meine Fußsohlen berührten Linoleum. Festen Grund. Das war’s: sicher und unsicher zugleich.

Draußen vor der verschlossenen Zimmertür hörte ich meinen Vater aufbrüllen. Ich fuhr zusammen. Holz splitterte, etwas knallte gegen die Wand. Ein Stuhl? Ein Esszimmerstuhl? Hektisch sah ich hinüber zum Schreibtischstuhl meines Bruders. Wenn ich hier drin blieb und nicht floh, was sollte ich eigentlich machen? Sollte ich mich wieder auf den Stuhl setzen und so tun, als ob die Handschellen noch hielten?

Ich wusste, selbst wenn ich noch brav auf dem Sitz säße, sobald mein Vater wieder hereinkäme – der Fluchtversuch würde mir angelastet, allein deswegen, weil ich nicht mehr gefesselt war. Ich konnte mich nicht selber fesseln. Diese Handschellen waren nun mal ab! Und Gewalt ist nicht logisch. Mein Vater reagierte nie logisch. Ich war frei, das brachte mich erneut in Gefahr.

Hastig kletterte ich noch einmal aus dem Fenster. Gehetzt saugte ich Luft ein, streckte die Hände aus und stieß mich vorwärts. Die Regenrinne gab ein metallisches Stöhnen von sich, als ich sie erreichte. Ich klammerte mich fest, doch ich rutschte am runden Metall ab. Die Regenrinne war zu dick, zu glatt – nicht zum Klettern gedacht!

Die Panik in mir stieg, während es Stückchen um Stückchen mit mir abwärts ging.

Es gab keinen Weg mehr zurück. Das Fenster der elterlichen Wohnung war schräg über mir. Ich sah meinen Bruder oben am Fenster stehen, er streckte mir die Hand entgegen, fiel beinahe selbst aus dem Fenster im Bemühen, meine Hand zu erreichen, die sich ihm verzweifelt entgegenstreckte. Meine Schwester kreischte, warum nur bist du zurückgekommen? Jetzt bist du tot!, und ich rutschte Zentimeter um Zentimeter abwärts, die Rinne glitschte mir aus den Händen, ich fiel. Fiel Meter um Meter die Hauswand hinab, während mein Vater oben aus dem Fenster schrie da siehst du, du entkommst mir nicht!, und ich wurde schneller und schneller und…

Nein, da war niemand über mir. Keiner lehnte sich aus dem Fenster, um mir beim Fallen zuzusehen. Und meine Finger hakten plötzlich fest. Es war die Befestigung der Regenrinne an der Wand, die mich stoppte. Genau genommen und von der Hauswand aus betrachtet war ich nicht allzu weit gerutscht, aber im vierten Stock fühlt sich ein jeder Zentimeter abwärts weit an.

Unter meinem linken Bein gab es plötzlich einen Halt. Ich spähte hinunter: Ich stand auf einem Abzweig der Regenrinne, die vom daneben liegenden Balkonabfluss herüberführte. Unter mir gähnten immer noch drei Stockwerke Luft. Mir wurde schlecht. Mein Körper taumelte. Bloß nicht weiter hinabsehen!

Ich zwang mich gegen die Wand, die Augen nach oben. Da siehst du, alles in Ordnung, alles klar. Jetzt nur nicht aufgeben!

Blitzartig hatte ich das hässliche Gesicht meines Vaters vor Augen – er war nicht hässlich, das nicht, oh doch, er war es schon! – und das aufblinkende Bild gab mir genug Kraft zurück, nicht geschehen zu lassen, was ihm gefiele.

Wenn es mir jetzt noch gelänge, hinüber zu den Balkonen der Nachbarwohnung zu kommen… Die Balkone waren im Zuge einer Sanierung nachträglich eingebaut worden, daher führten durchgehende Stützen von ersten bis in den obersten Stock. Die waren meine Chance, hinunter zu kommen. Allerdings auch meine einzige!

Als ich versuchte, mein rechtes Bein hinüber zum linken zu stellen, gab die schräg verlaufende Regenrinne plötzlich nach.

Verrostet, verdammt!

Oder nicht? Rosten Regenrinnen? Rosten Handschellen? Wie hatte ich nur dran glauben können – an zu meinem Glück verrostete Handschellen! Ich war so naiv, das sah mir ähnlich…

Nein, verrostet war die Regenrinne nicht. Ich war nur zu schwer.

Das mit den Handschellen musste Absicht gewesen sein. Mein Vater hatte sie geöffnet, als er mich auf dem Schreibtischstuhl meines Bruders festgesetzt hatte. Er hatte meinen Ausbruch vorhergesehen, ja er hatte ihn geplant.

Nur zu schwer! Die Regenrinne bog sich unter meinem Gewicht durch wie eine Liane. Eine Brücke, die sich im Urwald über einen reißenden Fluss windet… Sie quietschte, und als ich am Balkon festhing, gab sie nach und fiel polternd hinunter.

Mein Vater wollte, dass ich es war, der dort fiel. Er hatte alles getan, was er dafür tun konnte.

Meine Finger waren für solche Klettertouren nicht im Training. Sie fühlten sich an, als ob sie reißen wollten. Wenn ich nicht drei Stockwerke Luftraum unter mir gefühlt hätte – zum ersten Mal ergab sich ein Vorteil daraus – dann hätte ich losgelassen. Und so kämpften meine gequälten Finger gegen mein wütendes Hirn.

Doch ehe sie endgültig nachgaben, fanden meine unten herumschlenkernden Füße Halt. Die Balkonstützen fühlten sich himmlisch an. Ich war auf meiner ganz privaten Leiter angekommen und stieg und rutschte an ihr hinunter in die Freiheit.

*

Der Schwung allerletzter verspäteter Familienväter war längst durch, als ich zwischen den Mülleimern hindurch ging. Kein einziger Autostellplatz war leer geblieben, und ich konnte im Schutze der Autos gebückt davonschleichen. Nicht mal von oben würden meine Leute mich sehen.

Ich überlegte, ob ich die Zufahrtstraße nehmen sollte, die von der Siedlung in die Stadt führte. Ich könnte dort entlang gehen, wie sonst auch, und fände mit Glück trotz der späten Stunde noch eine Mitfahrgelegenheit. Früher waren wir oft auf diesem Wege in die Stadt und zurück gereist.

Ich war schon dabei, die Straße zu betreten, da wurde sie mir unheimlich. Der glatte Asphalt, die Straßenlaternen… Ich dachte an meine Schwester, die vorhin vom Sportplatz aus davon gegangen war, und das Auto meines Vaters hatte sie doch eingeholt. Mein Vater war ausgestiegen und hatte sie ins Innere der Familie zurück gezerrt.

Wer sagte denn, dass das nächste Auto, das käme, um mich mitzunehmen, nicht von meinem brüllenden Vater oder meinem Bruder mit der platten Nase chauffiert werden würde? Wenn sie bemerkten, dass ich in der Wohnung fehlte, dann wäre das sogar die wahrscheinlichste Version…

Und ich lag nun mal nicht mit zerschmetterten Knochen auf dem Betonweg.

Ich verließ die Straße und schlug mich zwischen die Büsche des daneben liegenden Parks.

Park ist ein wenig zuviel gesagt – vielleicht war es mal einer gewesen. In der guten, guten alten Zeit. Wege führten hindurch, das war das, was am meisten an einen Park erinnerte. Sonst war er ein wenig zu wild, um als Park zu gelten. Grünfläche. Grün gab es darin, viel Grün.

Ich durchquerte mit Hilfe meiner vorwärts tastenden Hände den Buschgürtel, der den Park umgab. Zu sehen war darin nichts, es war einfach zu dunkel. Ich trat, erleichtert über das Mondlicht, das mich erwartete, auf einen der Wege hinaus. Der Mond war beinahe voll, aber sein Licht reichte gerade mal aus, im gerodeten Bereich den Weg zu erhellen. Im Wald hatte er versagt.

Es gab hier viele verschlungene Wege. Und einen, der geradeaus in die Stadt führte. Wenn ich den nahm, dann wäre ich bald in der rettenden Stadt.

*

Ich hatte geglaubt, dass hier niemand wäre, nicht um diese Zeit. Aber so allein war ich nicht. Als ich auf einem ganz bestimmt geradeaus führenden Weg schnell voranschritt, bemerkte ich plötzlich einen Mann. Lag es am diffusen Licht oder an meiner Eile – als ich ihn sah, war ich schon reichlich nah an ihm dran.

Oder aber – er an mir.

Schocker (Herzallerliebst)

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