Читать книгу Appeasement und Überwachung - Shimona Löwenstein - Страница 5
1. Die „gewaltfreie Erziehung“
ОглавлениеDie Idee einer „emanzipatorischen Pädagogik“ ging von einem Menschenbild aus, in dem Aggressivität kein angeborener Trieb ist, sondern die Folge von gesellschaftlichen Übeln. Da es immer genug gesellschaftliche Mißstände gibt, mit denen oft viele Arten von Kriminalität – zu recht oder zu unrecht – gerechtfertigt werden, scheint sie auf den ersten Blick plausibel. Diese Vorstellung paßte auch gewissermaßen zu der Tatsache, daß es in den Ostblockländern, in denen ja die Klassenunterschiede und die „soziale Ungerechtigkeit“ angeblich beseitigt worden waren, weniger gewöhnliche Kriminelle gab als im freien Westen. Daß dieser Umstand auf eine Unterdrückung der ganzen Bevölkerung und ihre ständige Überwachung zurückzuführen war, spielte in den Postulaten der Theoretiker der „antiautoritären Erziehung“ keine Rolle.
Die Vorstellungen von einer anderen, besseren Erziehung waren nicht immer in diesem Sinne ideologisch geprägt, sondern gingen vor allem von der negativen Erfahrung mit einer autoritären Gesellschaft und Familie aus, die in Deutschland als Nährboden für den Nationalsozialismus gilt. Das eigentliche Motiv war die Befreiung des Einzelnen von autoritären Zwängen, einschließlich der familiären. Nichtsdestoweniger wurde dabei kaum in Erwägung gezogen, daß die Befreiung von zunächst autoritär vermittelten Vorstellungen und Werten erst dann erfolgen kann, wenn das Individuum zu einer reifen Persönlichkeit herangewachsen ist. Um zu einer reifen, d.h. „moralischen“ Persönlichkeit zu werden, muß der Mensch die Moral als solche verinnerlichen. Dies ist aber ohne Erziehung nicht möglich, selbst wenn sich der Zögling später gegen die überlieferten moralischen Vorstellungen und Werte seiner gesellschaftlichen Umwelt auflehnt. Die Schlußfolgerung war somit in Wirklichkeit ein Kurzschluß: Aus Abscheu vor den Auswüchsen einer extrem autoritären Gesellschaft wurde gefolgert, daß man auf erzieherische Maßnahmen ganz verzichten könnte; aus einer problematischen Erziehung durch nicht hinterfragte Autoritäten und extreme Züchtigung wurde gewissermaßen auf Nichterziehung überhaupt geschlossen.
Die unrealistischen Vorstellungen der „antiautoritären Erziehung“ sind inzwischen umgewandelt, ergänzt, korrigiert worden. „Starke Kinder brauchen starke Eltern“ oder „Grenzen setzten muß sein“ lauten beispielsweise die Leitsätze einer ziemlich spät gekommenen Relativierung der antiautoritären Erziehung. Dennoch blieben die Kernthesen der ursprünglichen Annahmen, wenn auch in gewandelten Formen, präsent. Die scheinbar vorbeugende, ausschließlich friedlich-freundliche, also positive Erziehung suggeriert letztendlich, daß das Kind im Grunde genommen nur ein willenloses Produkt der Umstände ist und eine harmonische Umgebung schon zu seinem gesellschaftlich erwünschten Verhalten führt. In pädagogischen Büchern, Broschüren, Elternbriefen und Beratungsstellen erhält man eine Menge solcher harmonisierenden Vorstellungen und Ratschläge, wie mit Kindern friedlich und freundlich umzugehen sei, und wenn ihr Verhalten den Wunschvorstellungen nicht entspricht, daß man sich immer erst fragen müsse, was man selbst in der Erziehung falsch gemacht habe. Was bedeutet aber in dieser Hinsicht, etwas richtig oder falsch gemacht zu haben? Gibt es dafür überhaupt einen objektiven Maßstab? Und ist es wirklich so wünschenswert, immer dafür zu sorgen, daß dem Kind kein Anlaß zur Unzufriedenheit gegeben wird? Ist Verdrossenheit und Aggression tatsächlich nur eine Reaktion auf Mängel oder Widerstände oder möglicherweise auch auf das Nichtvorhandensein von Widerstand? Niemand fragt mehr danach.
Was von dem Postulat der antiautoritären Erziehung schließlich übrig blieb, ist der auch in anderen Zusammenhängen gern verwendete Slogan, daß man „Gewalt nicht mit Gewalt bekämpfen“ dürfe. In Deutschland wird überdies gern auf die Verherrlichung von Gewalt im Nationalsozialismus hingewiesen und aus ihr gefolgert, Gewalt als solche abzulehnen. Die Konsequenz aus den nationalsozialistischen Verbrechen war auch in bezug auf die Erziehung nicht Humanität, sondern Pazifismus. Das einfache erzieherische Prinzip, nach dem Strafe auf Vergehen und Belohnung auf Verdienst folgen, wurde im Konzept einer „gewaltfreien Erziehung“ so relativiert, daß es jede Wirksamkeit verlor. Aus ihren Forderungen nach Harmonie, Vermeidung von Konflikten und Versöhnung folgen (mit einigen Ausnahmen) die „friedlichen“ Mittel der Gewaltbekämpfung, also Bevormundung der Eltern, wie sie ihre Kinder erziehen sollen, sowie diverse Aktionen zur Gewaltbekämpfung: „Mediation“, „Antigewalttraining“ usw.
Der Verzicht auf Strafen überhaupt gilt zwar nicht mehr als allgemein anerkanntes Erziehungsmittel, die Art der Strafen hat sich aber derart gewandelt, daß sie geradezu eine Art Belohnung geworden sind. Ein Kind, das Ärger macht, wird beispielsweise damit „bestraft“, ein Puzzlespiel zusammenzulegen. Wird das Kind aggressiv, so muß es nicht mit entgegengerichteten Maßnahmen auf demselben Niveau rechnen. Es wird als „ungerecht“ bezeichnet, gegen das gewaltsame oder hysterische Kind tätlich vorzugehen, da man ja körperlich überlegen ist. Hier verwechseln die alternativen Pädagogen offensichtlich Strafmaßnahmen mit (ungleichem) Kampf. Oft erweist sich dadurch kindliche Gewalttätigkeit geradezu als lohnend, weil darauf keine Strafe, sondern die Suche nach Ursachen des Ärgers, Versöhnungsrituale und manchmal sogar Vergünstigungen folgen, die die vermeintlichen Ursachen für den Gewaltausbruch beheben sollen. Ein Kind deutet aber die Versuche nicht in dem Sinne, wie es die Psychologen wünschen, nämlich aus der Sicht eines einsichtigen Erwachsenen, sondern als Schwäche der Erwachsenen, die sich ausnutzen läßt.
Damit setzt die „neue Erziehung“ von Anfang an falsche Signale. Die ursprüngliche Orientierung an den Reaktionen anderer auf eigene Verhaltensweisen, die für die Entwicklung des Gewissens notwendig ist, wird durch den bewußten Verzicht auf alle negativen Reaktionen verzerrt und die Einsicht in eigenes Fehlverhalten vereitelt. Wird diese Erziehung über Jahre hinweg beibehalten und den unerwünschten Verhaltensweisen nichts entgegengesetzt als hilflose Überredungsversuche, gutes Zureden, etwas Versprechen, auf nicht vorhandene Einsicht pochen, kann sich keine reife Persönlichkeit entwickeln. Das Ausbleiben von Belohnung nach guten Taten mag langfristig Frustrationen, Wut und Ärger bewirken, das Ausbleiben von Strafen führt aber zu Deformationen der Selbsteinschätzung eines Menschen und letztendlich seines Charakters. Aus verzogenen Kindern werden narzißtische Jugendliche, aus aggressiven Buben rücksichtslose Schläger, je nach sozialem und familiärem Hintergrund auch kleine oder große Kriminelle, deren Frustrationen allein darin gründen, in der großen Welt auf Widerstände zu stoßen, die ihnen aus ihrer Kindheit unbekannt waren.
Der zweite Fehler der alternativen Erziehungsmethoden ist sodann der bewußte Verzicht auf klare Orientierung und Vermittlung von Werten. Die einfachen Begriffe Gut und Böse sind nicht nur in der Politik verpönt, [4] sondern auch aus der Pädagogik verschwunden, da sie für die zu ermittelnden Ursachen gesellschaftlicher Übel für irrelevant gehalten werden. Ein Kind kann aber noch nicht verstehen, daß Gut und Böse relative Begriffe sind, sondern braucht klare Hinweise. Bewußt zu machen und klar zu stellen, was richtig und falsch ist, ist aber gerade Aufgabe der Erziehung. Erfolgt sie nicht, bleibt der junge Mensch für jede Art Verführung zugänglich. Und das ist auch die zweite Stufe dessen, worin die harmonisierende relativistische Erziehung versagt, daß sie jungen Menschen keine echten Werte vermittelt, die sie etwa vor Rechtsextremismus oder Islamismus bewahren könnten. Stattdessen setzt man verspätet auf restriktive Mittel, die ohne den notwendigen Rückhalt wirkungslos, ja kontraproduktiv bleiben. Wenn weder Familie noch Schule moralische Normen vermitteln, so sind immer noch religiöse oder ersatzreligiöse Lehren da, die nach Orientierung und Sinngebung suchende junge Menschen verführen.
Um ethisch bewußte Menschen zu erziehen, ist es angebracht, den Kindern zu zeigen, was falsch und was böse ist, und wie sie mit ihren Gefühlen, Neigungen und Trieben umzugehen lernen, anstatt die angeborene Kampflust oder Aggression an sich zu verpönen oder zu verleugnen. (Man könnte sich fragen, ob die Antigewalt-Verkünder jemals Märchen oder Sagen gelesen haben, die von Gewalt voll sind und wo sie oft die einzige Möglichkeit bildet, das Böse zu bekämpfen.) Eigentlich müßten es die Psychologen besser wissen, daß unsere Triebe, auch die aggressiven, nicht verdrängt werden dürfen, da sie sonst zu einem späteren Zeitpunkt unkontrolliert wiederkehren. Somit müssen auch Kampfhandlungen (Raufereien oder Kampfspiele) auf irgendeine Art ausgelebt werden, um später bewußt kontrolliert zu werden. Eine Erziehung, die Kinder von jeder Form auch spielerischer Kampfhandlung fernhält und alles, was irgendwie mit „Gewalt“ zu tun hat (wie Spielzeugwaffen, elektronische Kriegsspiele oder Filme mit Gewaltszenen) völlig unterbindet, programmiert Spätfolgen, die auf verdrängte, nicht bewußt gewordene und damit unkontrollierte Aggressionen sowie auf Frustrationen zurückzuführen sind, die im wirklichen Leben zwangsläufig auftreten, mit denen das Kind aber nicht umzugehen gelernt hat.
Überdies unterstellt die Vorstellung, daß Gewalt an sich das eigentlich Böse sei, das man mit allen Mitteln vom Kind fernhalten müsse. Nicht mehr Selbstsucht, Hab- und Machtgier, Hinterhältigkeit, Feigheit und sonstige traditionell als schlecht oder böse geltende Eigenschaften oder Verhaltensweisen werden in der neuen Pädagogik thematisiert, sondern allein Gewalt als Übel schlechthin bekämpft. Mit der Behauptung, daß jede Gewaltanwendung falsch ist, ignoriert aber die alternative Erziehung, trotz der allmählichen Abschwächung des ursprünglichen antiautoritären Aufbegehrens, auch die angeborenen Instinkte und Eigenschaften, deren Sinn sie mißversteht: In ihrer Sicht stellt Gewalt nur eine falsche Reaktion auf vorhergehende Gewalt dar, auf die niemals mit Gleichem reagiert werden darf. Gewalt als Abwehr oder Gegenmaßnahme gilt dagegen als verfehlt. Daß Gewalt nur ein Mittel ist, etwas zu erreichen oder zu bekämpfen, über dessen geeignete Verwendung sich diskutieren läßt, liegt jenseits des Denkmusters der „gewaltfreier Erziehung“. Die Verteufelung von Gewalt stellt hier nur das negative Spiegelbild deren früheren Verherrlichung dar: In beiden Fällen wird nicht ausreichend zwischen Mittel und Zweck unterschieden. Mit der Gleichsetzung des Guten mit dem Friedlichen und dem Bösen mit Aggression nach dem Deutungsmuster dieses reduzierten Menschenbilds erfährt aber die herkömmliche Vorstellung von Gut und Böse eine Umdeutung, die weiter geht als zur bloßen Relativierung. Sie hat unvorhergesehene Folgen, wie eine Verzerrung des Gerechtigkeitssinns und Diskrepanzen in der Rechtspraxis. Dadurch bekommt der ursprünglich relativistische Verzicht auf Wertevermittlung ein ideologisches Gesicht; dementsprechend kann sich die Antigewalt-Pädagogik aus hilfloser Duldung oder Bekehrungsversuchen zum Gewaltverzicht in eine neue Art von Hexenjagd verwandeln. Vor diesem Hintergrund der Gewaltbekämpfung um jeden Preis erwachsen Maßnahmen, die aus einer anderen Tradition stammen, nämlich dem Rückgriff auf gesetzliche Einschränkungen des Elternrechts, auf Verbote, Überwachung und Zensur.
Die „gewaltfreie Erziehung“, die sich zwar in der pragmatischer denkenden Bevölkerung keineswegs immer durchgesetzt hat, weist schwere theoretische Fehler auf, die in der Praxis zu unerwünschten, ja dem Anliegen entgegengesetzten Folgen führen können. Ihr Versagen gründet darin, daß sie
1 bestimmte Teile der menschlichen Natur, deren Funktion sie nicht versteht oder mißdeutet, ignoriert oder bekämpft,
2 erzieherische Maßnahmen mit Gewalttätigkeit verwechselt,
3 durch Vermeidung von Konflikten, Abwesenheit von Widerständen und Verzicht auf Strafen falsche Signale setzt und damit
4 das einzige Prinzip, das eine angemessene Selbsteinschätzung, eine realistische Bewertung der eigenen Handlungen und damit Gewissens- und Persönlichkeitsbildung ermöglicht, mißachtet,
5 keine Orientierung liefert und ethische Wertvorstellungen durch kulturellen Relativismus oder Ideologie ersetzt.
Das bedeutet zwar nicht, daß der Verzicht auf (körperliche) Strafen in der Praxis Gewalt selbst herbeiführt; die Dogmen der „neuen Erziehung“ verhindern aber eine unvoreingenommene Einsicht in die tatsächlichen Ursachen von Gewalt, Kriminalität und Extremismus und den Umgang mit ihnen. Mit den damit verknüpften Tabus versetzt man die ganze Gesellschaft in eine prekäre Lage, in der sie außerstande ist, der vorhandenen Gewalt der Jugendlichen, einschließlich der Neonazis oder der jungen Islamisten, etwas entgegenzusetzen oder ihr effektiv entgegenzuwirken.