Читать книгу Appeasement und Überwachung - Shimona Löwenstein - Страница 6

1.1. Sündenböcke: Soziale und familiäre Umstände, Unterhaltungsindustrie

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Auch bei der Suche nach Ursachen der Gewalt tauchen dieselben Schemata und Sündenböcke auf wie beim Schulversagen: Es sind entweder schlechte soziale oder familiäre Umstände (Arbeitslosigkeit, mangelnde Integration von Ausländern, zerrüttete Familien bzw. autoritäre, mit körperlicher Züchtigung verbundene Erziehung) oder eine übermäßig konsumierte Unterhaltungsindustrie (Gewalt in Film und Fernsehen, elektronische Kriegsspiele).

Die soziale Lage ist ein übliches Erklärungsmuster, das zwar auch heute von Bedeutung ist, aber in einem wohlhabenden Land kaum Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Auf jeden Fall stammen die Täter nicht immer aus der Unterschicht, sondern haben oft einen ordentlichen familiären Hintergrund. Da Hunger und Armut als Ursache für Kriminalität nur in seltenen Fällen in Frage kommen, wird heute eher allgemein von „Orientierungslosigkeit“ gesprochen, die gerne bei Jugendlichen im Osten diagnostiziert wird. Daß diese Orientierungslosigkeit ebensogut eine Folge „antiautoritärer Erziehung“ sein könnte, also des Unvermögens, auf bestimmte Verhaltensweisen deutlich und angemessen zu reagieren und bestimmte Werte als gültige Maßstäbe fürs Leben zu postulieren, wird nicht in Betracht gezogen. Meist wird nur in entrüstetem Ton über die Notwendigkeit einer Bekämpfung von Gewalt und Rechtsextremismus der Jugendlichen gesprochen, ohne diese Orientierung selbst bieten zu können. Erst allmählich dämmert es den Verantwortlichen, daß man der orientierungslosen Jugend doch bestimmte Wertvorstellungen oder zumindest eine Leitvorstellung vom richtigen Handeln vermitteln müsse. Das Mittel dazu glaubt man in der Einführung des Ethik- bzw. Werteunterrichts gefunden zu haben.

Zum Schuljahr 2006/2007 wurde z.B. in Berlin an öffentlichen Schulen in den Klassenstufen 7-10 das Pflichtfach Ethik eingeführt. Die Entscheidung wurde im allgemeinen akzeptiert, ohne sich bewußt zu werden, daß man Sittenlehre mit den Schulreformen längst als spießig abgeschafft hatte; man stritt lediglich darüber, ob sie mit oder ohne Zensuren unterrichtet werden sollte, da es möglich ist, daß hier statt „Leistung“ die „korrekte Meinung“ benotet wird. [5] In vielen Fächern (wie Geschichte, Sozialkunde, Politische Weltkunde u.a.) ist Leistung ebenso strittig und nicht eindeutig meßbar. Nichtsdestoweniger wurden Verfassungsbeschwerden gegen die Einführung von Ethik als Pflichtfach eingereicht. Die Initiative Pro Reli e.V. brachte einen Volksentscheid zuwege, über den am 26. April 2009 abgestimmt wurde. [6]

Die Argumente der Initiative waren für die Mehrheit der Bevölkerung wenig überzeugend. In ihrem Gesetzesentwurf sollten Religion, Weltanschauungsunterricht und Ethik, wie in anderen Bundesländern, als gleichberechtigte Pflichtfächer in der Schule gelten. In der Praxis bedeutete es jedoch, daß die Möglichkeit, beide Fächer zu belegen, wegfallen würde, und daß Kinder aus religiösen Familien, also auch die meisten muslimischen Kinder, in der Regel überhaupt nicht am Ethikfach teilnehmen würden. Behauptungen, daß man mit der Einführung des Ethikunterrichts „die Chance, ein ganzheitliches Konzept der Schule als werteorientierter Lebens- und Erfahrungsraum für unsere Kinder zu gestalten“, verpasse, und das Fach Ethik ein umfassendes Religionswissen von verschiedenen Religionen nicht bieten könne, sind umstritten. Die Forderung nach strikter Trennung von Kirche und Staat als überholt und die Mitwirkung von Religionsgemeinschaften in öffentlichen Schulen als Vorbeugung gegen Radikalisierung war der Mehrheit (insgesamt 51,3 %, in östlichen Bezirken sogar über 70 %) nicht zu vermitteln. [7]

Im Unterschied zu Frankreich wurde eine klare Trennung der Religion vom Staat in Deutschland allerdings nicht konsequent vorgenommen. Einerseits erklärt sich der Staat in bezug auf Religion für neutral, andererseits gibt es politische Parteien, die sich als „christlich“ bezeichnen, und auch diverse Verflechtungen zwischen Staat und den Kirchen, die trotz der im Grundgesetz festgelegten Unabhängigkeit [8] einen privilegierten Status genießen. [9] Der Staat garantiert ihnen laut Staatskirchenrecht insbesondere in finanzieller Hinsicht gewisse Vorrechte, Zuschüsse und Finanzierungshilfen für diverse Kirchendienste. [10] Dazu gehören sogar Ausgleichs- und Entschädigungszahlungen für erlittene Verluste an Kirchensteuern durch vorgenommene Kirchenaustritte – eine absurde Forderung, für Kirchenmitglieder zu zahlen, die gar keine mehr sind. [11] Vertreter beider großen Kirchen beteiligen sich oft an politischen Diskussionen und erheben Anspruch auf Einflußnahme in ethischen Problemen. [12] Religion ist zwar kein Pflichtfach, wird jedoch in staatlichen Schulen unterrichtet und vom Staat (mit 47,5 Millionen Euro jährlich) vollständig finanziert. Schon allein diese Tatsache bedeutet in einem säkularen Staat eine unzulässige Vermischung der Aufgaben. Im sog. „Kruzifixstreit“ gelang es Bayern zwar nicht, vor dem Verfassungsgericht durchzusetzen, daß in jeder bayrischen Schule ein Kruzifix an der Wand hängen muß (wie in Italien), was aber nicht heißt, daß dort keine Kreuze hängen dürfen (wie in Frankreich). Eine Gleichstellung des Religionsunterrichts mit anderen Fächern bedeutet jedenfalls den Erhalt des kirchlichen Einflusses auf die Schule. Aber eine religiöse Indoktrination der Kinder (dazu noch auf Kosten des übrigen Unterrichts) [13] sollte in staatlichen Schulen eigentlich nicht stattfinden. Daß die Trennung von Staat und Kirche bzw. Religion als unerwünscht empfunden wird, weist jedenfalls nach meiner Meinung auf eine problematische Entwicklung des öffentlichen Bewußtseins hin.

Dennoch bedeutet die Ablehnung des Religionsunterrichts als gleichberechtigte Alternative seitens der Mehrheit der Berliner keineswegs, daß sich diese für Ethik entschieden habe. Die Einführung des Faches Ethik selbst ist kein Erfolgsmodell. Es handelt sich eher um unverbindliches Plaudern über Vorstellungen von Liebe, Freundschaft, Toleranz im Alltag u.ä. mit zum Teil politisch korrekten Inhalten, was sich möglicherweise zum ideologischen Kanon einer „richtigen Weltanschauung“ entwickeln sollte. Echte Orientierung bietet diese Schulethik jedenfalls nicht. Nach Ansicht des Biologen Hubert Markl sollte auch nicht Werteerziehung, sondern Charakterbildung im Vordergrund der Erziehung stehen, mit der man früh anfangen sollte. Übermäßig geschonte und verwöhnte Kinder sind demnach keine glücklichen Kinder, weil ihnen die Voraussetzungen für die Entwicklung ihrer Fähigkeiten vorenthalten werden. [14] Wohlgemerkt: insbesondere die Fähigkeit zur Selbstkritik.

Daß Lebensorientierung und Charakter nicht durch bloßes Proklamieren von ausgelaugten Begriffen, wie Gewaltlosigkeit, Friede, Toleranz usw. gebildet werden können, sondern andere Erziehungsmittel erfordert, wird von der vermeintlich wissenschaftlichen Psychologie übersehen und von der politisch korrekten Pädagogik geradezu tabuisiert. Stattdessen wird auf Sündenböcke zurückgegriffen, in der ebenso naiven Annahme, daß Gewalt immer nur die Folge von Gewalt selbst ist, ob durch Erleben am eigenen Körper oder durch Spiele, die mit Gewalt zu tun haben.

Obwohl keineswegs zutreffend, gilt immer noch das vom Gros der Psychologen festgehaltene Dogma, die Ursache für Gewalt liege in der Gewalt selbst: die Jugendlichen würden folglich gewaltsam, weil sie Gewalt in der Familie erfahren. Einzelfälle dienen als Beweise für das ständig wiederholte Muster, bis die ganze Bevölkerung daran glauben muß. In dieser Argumentationsweise werden z.B. alle Arten von Körperstrafen für die Ursache von Gewalt angesehen. Weiter gehört zu einem häufigen Erklärungsmuster für Gewalttaten der Jugendlichen der Konsum von Filmen mit Gewaltszenen. Nur haben diese scharfsinnigen Beobachter nicht bemerkt, daß man in diesen „Gewaltfilmen“ (zu denen sie meist auch alle Arten von Thriller, Kung-Fu-Filme u.ä. zählen) oft für Freiheit und gegen Unrecht kämpft. Der Kampf schlechthin gilt als Gewalt und wird für weitere Gewalt verantwortlich gemacht.

Gleiches gilt auch für Computer- und Videospiele, insbesondere bestimmte beliebte Kampf- und Actionspiele, die als Sündenbock herhalten müssen. Nach dem „Amoklauf“ des neunzehnjährigen Schülers am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt im April 2002, der 16 Menschen erschoss, unterbreitete man in der Öffentlichkeit (außer ständig wiederholter Fassungslosigkeit, Betroffenheit und tiefer Trauer) Mutmaßungen über Computerspiele, insbesondere das Spiel Counter Strike als mögliche Ursache für den Mord. Nicht angezweifelt wurde dagegen der legale Besitz von Waffen nur aufgrund der Mitgliedschaft in einem Schützenverein. Dabei war das Tatmotiv mehr als offensichtlich: Der betreffende Schüler wurde nicht zum zweiten Mal zum Abitur zugelassen, sondern von der Schule verwiesen, erhielt nicht einmal einen Abschluß der mittleren Reife, wie in allen anderen Bundesländern üblich, lernte stattdessen schießen und plante sorgfältig einen Mord an denjenigen Lehrern, die er für seine verdorbene Zukunft verantwortlich machte. Es handelte sich insofern um keinen wirklichen Amoklauf, sondern einen wohldurchdachten Racheakt. [15]

Ein wütender Leserbrief in der Berliner Zeitung prangerte die Heuchelei der veranstalteten Trauerfeier an, die eine Parallele zum Anschlag auf das WTC in New York zog: „Das außerhalb Erfurts zur Schau getragene Entsetzen über den Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium sehe ich, wenn es die Ermordung der Lehrer betrifft, zum Teil lediglich als ‚Show‘ an. In einem Land, in dem es gesellschaftlicher Konsens ist, begrenztes Leistungsvermögen und unvermeidbare Frustrationen ausschließlich Lehrern anzulasten, in einem Land, in dem die Prügelknaben der Nation an kaputtgesparten, von Bürokratie eingeschnürten Schulen Wissen vermitteln müssen und Mängel reparieren sollen, die die Gesellschaft schneller produziert, als es Schultage auffangen können, in einem Land, in dem Schule als Zwangsort und Freizeitkonsum als das wahre Leben gilt, in so einem Land soll das Entsetzen über das Massaker an zwölf Lehrern ehrlich gemeint sein?“ [16] Inwiefern die Behauptung, daß die Schule Mängel repariert, die die Gesellschaft produziert, zutrifft, bleibt angesichts der bereits behandelten Problematik fraglich, ebenso die vermeintliche Schuldzuweisung an die Lehrer. Daß das Schulsystem an der Verzweiflung des Täters mitverantwortlich gewesen sein könnte, indem man diesem eine zweite Chance verwehrte, wurde tatsächlich während der Trauerreden nicht ein einziges Mal erwähnt. Stattdessen wurde nur über Gewalt allgemein (Frage an einen jüngeren Schüler: „Gibt es Gewalt an eurer Schule?“, und die verblüffende Antwort: „Nein, überhaupt nicht.“) und Gewalt in Computerspielen insbesondere spekuliert.

Selbst wenn Angriffe auf Lehrer oder gar Massaker ähnlicher Art (in den letzten Jahren gab es mehrere solche Fälle) selten sind, stellen Frustration und Langeweile in der Schule bekanntlich die häufigste Ursache für das Schulschwänzen dar. Manchmal ist dann das Absinken in Kriminalität (Diebstahl, Erpressung, Gewalt) programmiert. [17] Dieser Zusammenhang gilt aber nicht als das politisch korrekte Erklärungsmuster, das statt der naheliegenden und häufig selbst genannten Motive lieber nach Ursachen in einem ganz anderen Bereich sucht. Sog. „Ballerspiele“ stellen wieder einen der beliebtesten Sündenböcke dar. Auch in den Medien wird oft über die Brutalität der Computerspiele als mögliche Ursache, zumindest für Abstumpfung und Desensibilisierung der Jugend gemutmaßt. [18] Beweise fehlen freilich.

Auch wenn es bestimmte „Verdachtsmomente“ für einen Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten und entsprechenden Spielen gibt, sind die ermittelten Werte nicht nur deutlich geringer als nach dem Anschauen von Filmen mit Gewaltszenen, sondern wirken auch nur kurzfristig. Über längerfristige Auswirkungen auf das alltägliche Verhalten lassen sich kaum eindeutigen Aussagen machen. Jedenfalls sind aus dem Spielgeschehen keine kausalen Rückschlüsse auf das Handeln in der Realität abzuleiten, zumindest nicht in dieser simplen Form, wie Hartmut Gieselmann in seinen Überlegungen über die Auswirkungen von aggressiven Computerspielen festgestellt hat. [19] Eine australische Studie von Kevin Durkin und Kate Aisbett [20] weist vielmehr das Gegenteil nach, was den Überlegungen von Gisela Wegener-Spöring oder auch der psychoanalytischen Theorie von der sublimierenden Funktion von Gewalt im Spiel (nach Klaus Hartmann) entspricht. [21] Normalerweise hat das Spiel keinen oder eher positiven Einfluß auf das reale Leben, es sei denn, es kommt zu bestimmten unbewußten Transferprozessen zwischen Realität und Spiel. Auch nach Gerard Jones Buch Kinder brauchen Monster besteht kein Zusammenhang zwischen Killerspielen und Schulmassakern. [22] Die Firma Electronic Arts klagte gegen die Indizierung des Spieles Command & Conquer: Generals: Diese stehe selbst zu dem neuen Jugendschutzgesetz im Widerspruch. Hinter den Indizierungen von Computerspielen wegen ihrer Gewalt- oder Kriegsverherrlichung vermutete man eher politische Motive (Einstellung zum Irak-Krieg) als moralische bzw. jugendgefährdende Gründe. [23] Die Verteufelung der Spiele beruhe jedenfalls auf vorschnellen Urteilen des psychologischen Establishments, das verdammt, ohne je gespielt zu haben. [24]

Appeasement und Überwachung

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