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Kapitel 3

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Der Morgen versprach einen schönen Tag. Noch war es diesig. Die meisten Feriengäste saßen beim Frühstück und schauten neugierig durchs Fenster. Was würde der heutige Tag bringen? Die Sonne machte sich schon bemerkbar, und man spürte, dass sie bald die Oberhand über die Wolken gewinnen würde. Das war das Wetter für Entspannung pur: Einen Strandspaziergang, und für Hartgesottene versprach es auch ein Bad im Meer.

Bresniak hatte sich seine Leggins angezogen, die er immer zum Joggen trug, ein dickeres T-Shirt – er traute der Septembersonne nicht so recht – und ein Stirnband, dazu seine Laufschuhe. Er wollte sich erholen, total, und auch etwas für seine Fitness tun. So ein Läufchen würde ihm guttun, es musste ja nicht gleich am Meer sein, wo man nie wusste, ob man nicht wieder von Tümpeln zurückgebliebenen Meerwassers ausgegrenzt würde – so hatte er das Meer in Erinnerung. Er wäre viel lieber in den Schwarzwald gefahren, aber von dieser Idee war Lilli überhaupt nicht zu begeistern gewesen. Sie hatte sich Juist in den Kopf gesetzt.

Diese Insel musste es sein, und er mochte die Nordsee überhaupt nicht. Er erinnerte sich an einen Urlaub, den er vor Jahren in Hage verbracht hatte. Dazu hatte ihn auch eine Frau überredet hinzufahren. »Das Meer, das Meer ist einzigartig, du wirst es lieben lernen!« – Nur was hätte er lieben lernen sollen? Immer wieder hatte er das Meer vergeblich gesucht. Immer wieder, wenn sie zur Küste gefahren waren, gab es zwar Wind, aber das Wasser hatte sich zurückgezogen. Es war Ebbe. Ihm bot sich nur Matsche. Wie man sich dafür begeistern konnte, war ihm schleierhaft. So kam für ihn damals auch keine Wattwanderung infrage. Nun, erholt hatte er sich dennoch: Er hatte viel gelesen und Tee getrunken, Ostfriesentee mit Klontjes, der war ihm in guter Erinnerung geblieben.

Dieses Mal würde es anders werden. In Lilli war er verliebt, unsterblich, musste er zugeben, wenn er ehrlich zu sich war. Er hatte nicht mehr geglaubt, dass ihm so etwas noch einmal passieren würde. Da hatte sie vor ihm gestanden, wie aus dem Nichts. Sie hatte ihn angeblickt mit ihren bernsteinfarbenen Augen und dem strubbeligen und dennoch gebändigten schwarzen Haar und hatte ihn verwirrt. Sie war der Grund, warum er Tango lernte, und inzwischen konnte er es recht gut. Lilli war ihm ebenfalls sehr zugetan, und die Wahl des Urlaubsziels, es war ihr erster gemeinsamer Urlaub, war ihr erster echter Zwist. Doch Bresniak war nicht gewillt, dieses Zerwürfnis länger zwischen ihnen zu lassen. Doch es fiel ihm schwer. Die Nordsee war nicht seins. Aber so ein Läufchen, wie es ihn in Wuppertal regelmäßig durch die Gelpe führte, das machte seinen Kopf frei und schaffte Platz für neue Gedanken und Ideen, und das konnte er auch hier auf der schönsten Sandbank der Welt, wie so manche Juist-Liebhaber die Insel bezeichneten, machen.

Lilli spazierte derweil in Richtung Westen. Der Deichdurchbruch Billstraße war ihr Ziel. Dort sollte der Gang durch die Salzwiesen beginnen, die das Nationalpark-Haus anbot. Die Nacht vorher hatte es heftig gestürmt. Windgeschwindigkeiten von über 100 km/Stunde hatten in der Nacht das Meer aufgepeitscht, dazu Vollmond, der dem Wasser zusätzliche Energie verschafft hatte. Sie hatten die warme Stube genossen, denn bei dieser Windstärke und bei einbrechender Dunkelheit war nicht mehr an einen ruhigen Spaziergang zu denken. Und während des Frühstücks erzählte die Wirtin, dass der Küstenschutz bereits ausgerückt war, um die Deiche und besonders die Dünen zu inspizieren, wie weit sie den Naturgewalten standgehalten hatten oder wo eventuell Abbrüche zu verzeichnen waren.

Da hatte die Natur mithilfe der Insulaner Senken aufgefüllt und diese bepflanzt. Strandhafer, der den Sand halten sollte. Es dauerte mehr als zwei Jahre, bis er sich so verfestigt hatte, dass das ungeübte Auge diese Neuanpflanzungen als natürliche Flora auf dem Sand betrachtete, und dann, eine heftige Sturmflut, und die Einwohner blickten ihren Nordstrand kritisch an: Hatten ihre Bemühungen den Erfolg gezeigt, den sie sich von ihren Maßnahmen versprochen haben? – Aber auch die Südseite der Insel, die ein völlig anderes Bild abgab, zeigte den Einfluss des nächtlichen Sturms.

Das Erste, was Jens, der Vertreter des Nordparkhauses, berichtete, bevor er mit der Führung begann, war, dass er zeigte, wie hoch das Wasser in der heutigen Nacht gestiegen war: so hoch, dass die Insulaner froh waren, einen Deich zu haben, denn die Salzwiesen waren, auch wenn sie heute für den Besucher endlos weit in das Meer zu reichen schienen, total überflutet. Die Deichdurchbrüche waren geschlossen worden, und das war auch gut so. So war Schlimmes verhindert worden.

Jens begann seinen Weg durch das feuchte Land und forderte die Gäste auf, das Gelände aufmerksam zu betrachten. Neben besonderen Pflanzen, die er im Einzelnen beschreiben und deren Lebensweise er erläutern wollte, versprach er auch Strandgut. »Nach solchen Stürmen findet man so einiges zwischen den Pflanzen, meist ist es eine Flaschenpost, die auf Borkum aufgegeben wurde und sich dann hier zwischen unseren Salzpflanzen verfängt.«

Die Gruppe folgte Jens, den Blick streng auf den Boden gerichtet, denn heute war der Untergrund besonders feucht und zahlreiche Pfützen verbargen sich unter den Pflanzennarben, bis Jens einen Platz gefunden hatte, an dem alle gut stehen konnten, und er seine Ausführungen begann. Zunächst wies er darauf hin, dass alle im Moment auf dem ursprünglichen Bahndamm der Juister Eisenbahn standen, ein Stück Land, das sich die Natur noch nicht wieder ganz zurückgeholt hatte, ihnen, den Besuchern, aber die Möglichkeit gab, hier fast trockenen Fußes zu stehen.

Er erhob seine Stimme; Lilli und die anderen Besucher nutzten die Gelegenheit, den Blick schweifen zu lassen, bis, ja bis eine Frau fragte: »Was ist das dort für eine merkwürdige Pflanze? Ist das ein Strauch oder ein Baum? Wächst so etwas hier?«

»Das wird Strandgut sein. Nach solch heftigen Unwettern verfängt sich so einiges hier in den Salzwiesen.« Die Antwort hatte Jens gegeben, ohne sich umzuschauen, und die Frau, wie auch andere der Gruppe, die auf diesen merkwürdigen Ast aufmerksam geworden waren, hörten ihm gar nicht mehr zu.

»Das sieht aus wie eine Hand.«

»Ja, die Natur, hier der Wind und das Salz formen die Äste manchmal sehr bizarr. War von Ihnen schon jemand in unserem Zauberwald in Richtung Domäne Bill? Dort können Sie sehen, wie sich die Bäume den Witterungsbedingungen anpassen.«

Seine Zuhörer gaben sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden, im Gegenteil, sie wurden mehr und mehr unruhig. Nein, das war kein Ast, aber auf die Entfernung ließ sich dieses braune Teil nicht richtig identifizieren; dennoch, es hob sich von seiner Umgebung ab. Es war bestimmt keine originäre Pflanze der Salzwiese.

»Wenn es Sie beruhigt – ich wage mich vor und bringe es her. Sie bleiben bitte, wo Sie sind. Quer durch das Gebiet darf man hier nicht gehen, nicht nur die Vegetation leidet darunter, es kann auch sein, dass Sie dann plötzlich bis zu den Knien im Boden stecken.« Jens versuchte, diesen merkwürdigen Fund zu erreichen. Er kam näher, und dieses angeschwemmte Gut sah nicht nur aus wie ein Arm, dessen Hand sich nach oben herausstreckte, es war tatsächlich ein menschlicher Arm. Jens schluckte. Er begann hektisch zu atmen. »Einatmen – ausatmen – einatmen – ausatmen«, versuchte er sich leise zu kommandieren und sich damit zu beruhigen. In seinem Mund fing der Speichel an zu sprudeln, der bis in den Magen zog und diesen zusammenkrampfte. Musste er sich übergeben, oder konnte er es noch abfangen? Tief einatmen – ausatmen – einatmen – ausatmen. Er schaute über die Weite des Meeres, um seine Psyche zu beruhigen.

»Was ist es denn?«, schallte die Frage aus seiner Gruppe.

»Gleich, das Gelände ist schwierig hier«, versuchte Jens für sich Zeit zu gewinnen. Was sollte er jetzt tun? Hingehen und den Arm aus dem Morast herausziehen? Der Gedanke ließ weiteren Ekel in ihm heraufsteigen, und wenn eine ganze Leiche an dem Arm sein sollte, dann würde er sowieso nichts herausziehen können, schon gar nicht, wenn er sich das so ansah: Dieser Arm schien sehr glitschig. Was konnte er machen? Was sollte er seiner Gästetruppe sagen? Musste er die Polizei rufen? Zu viele Fragen für diesen kurzen Moment des Überlegens. Er tat etwas hilflos, so als wenn er festen Halt unter seinen Füßen suchen würde. Er drehte sich um und ging zu seinen Gästen zurück. »Ich komme da nicht hin.« Allerdings vibrierte seine Stimme und sein Gesicht war aschfahl, fast ein wenig grün geworden. Seine Hände zitterten, er konnte es nicht verbergen. Lilli, die die ein oder andere Mordgeschichte von Bresniak her kannte und zudem sehr gute Augen hatte, gab sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden.

»Jens, das ist ein Arm von einem Menschen. Da beißt die Maus keinen Faden ab, und das haben Sie auch gesehen, sonst würden Sie jetzt nicht so zittern.« Lilli hatte es kaum ausgesprochen, als Jens’ Beine nachgaben und ihn zusammensacken ließen. Es half nichts. Sie mussten ihn auf dem ganz kleinen Stück Boden hinlegen, das die ehemalige Eisenbahnlinie ihnen zur Verfügung stellte. Lilli zog ihr Handy heraus und wählte die 112.

Die Notrufzentrale meldete sich.

»Bitte kommen Sie. Wir haben einen kollabierten Mann hier und einen Arm.«

»Bitte noch einmal, Sie haben einen kollabierten Mann am Arm? Es ist ihr Gatte?«

»Nein, wir sind eine Gruppe. Einer ist kollabiert und anderen ist auch schlecht, wir brauchen Hilfe. Außerdem haben wir einen Arm gefunden, oder es sieht aus wie ein Arm von einem Menschen. Bitte schicken Sie Hilfe.«

»Gut, wo sind Sie?«

»Wir sind in den Salzwiesen gleich direkt hier vorne.«

»Bleiben Sie bitte, wo Sie sind. Wir kümmern uns.«

Jens war inzwischen wieder zu sich gekommen. Einer der Gäste packte aus seinem Rucksack eine Jacke aus und legte sie in seinen Nacken. Jens wehrte sich, aber Lilli verbot ihm, aufzustehen, in einem Ton, den man einer solch zierlichen Person nicht zugetraut hätte und der keinen Widerspruch erlaubte.

»Sie bleiben noch eine Viertelstunde liegen. Dann dürfen Sie wieder aufstehen, sonst klappen Sie uns gleich wieder zusammen. Hilfe kommt gleich. Es ist allemal besser, wenn Sie dann das Stück selbstständig wieder zurücklaufen können, als wenn die Sanitäter hier mit einer Liege durch dieses Moor, oder was das auch ist, stiefeln müssen.«

Jens ließ sich gerne überreden, denn ihm war es alles andere als wohl und ihm war es nur recht, dass eine andere Person das Kommando übernommen hatte. Die anderen Teilnehmer der Salzwiesenexpedition wussten nicht so recht, was sie nun tun sollten. Einerseits war es ein Ausflug, den sie in dieser Form nicht wieder erleben würden, andererseits passierte weiter nichts. Sie warteten nur. Lilli befürchtete, dass ihr Eindruck, dass das angeschwemmte Strandgut wirklich ein menschlicher Arm war, stimmte. Sicherheitshalber wählte sie die Nummer von Bresniak. Sie wollte die örtliche Polizei soweit unterstützen, indem sie vor Ort möglichst alles richtig machte. Wie oft hatte sie ihn fluchen hören, dass selbst ernannte Detektive schon einmal mit dem Ermitteln begannen und die Polizei nachher die Leidtragenden waren, wenn sie Spuren von veränderten Gegebenheiten unterscheiden mussten. Sie erreichte ihn, denn – Macht der Gewohnheit – auch bei seinen Läufen trug er sein Handy immer bei sich. Lilli hatte ihm empfohlen, sich der Erholung ganz hinzugegeben, dazu gehörte auch, dass er sein Handy ausschalten und im Zimmer deponieren sollte. Aber Bresniak konnte nicht anders. Er hatte es in seiner Hosentasche.

»Charly, ich brauche dich!«

»Wirklich? Das glaube ich nicht. Du bist so tough. Aber es ist schön, dich zu hören. Was gibt es denn so Wichtiges, was nicht warten kann?«

Lilli schilderte ihm, was sich in den Salzwiesen zugetragen hatte. Das war nichts, womit Bresniak hier auf der Insel gerechnet hätte. Hier, wo alles so einen friedlichen und ausgeglichenen Eindruck machte. Hatte Frau Extra ihnen nicht gesagt: »Hier kann die Tür ruhig offen bleiben, hier passiert nichts!«? Und jetzt eine tote Hand mit Arm! Lilli unterbrach seine Gedanken: »Charly, bitte mach was …«, mit dem Nachsatz: »… wozu habe ich dich?«, was ein Schmunzeln in sein Gesicht zauberte.

Der Tod in der Salzwiese

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