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Kapitel 6
ОглавлениеDie letzten Akkorde aus Franz Léhars Die lustige Witwe: Lippen schweigen, ’s flüstern Geigen: Hab mich lieb! … verklangen. Das ungarische Kurorchester verbeugte sich und nahm seinen verdienten Applaus entgegen. Die Zuhörer, viele grauhaarig, erhoben sich, manche schwerfällig und nur mithilfe eines Stockes oder einer Begleitung, um sich in Richtung ihres Hotels zu begeben. Daneben junge Eltern, die ihren Sprösslingen hinterherliefen, um sie einzufangen. Auch Lilli und Bresniak hatten den Musikern gelauscht.
»Das hat meine Oma immer gesummt, und dabei ganz verklärte Augen bekommen, wenn sie dem Plattenspieler lauschte. Ich mit meinen sechs oder sieben Jahren und in Lederhose habe mich damals gefragt, was die nur hat, dass die so komisch guckt.«
»Bei diesem Gassenhauer hat Oma vielleicht ihren ersten Kuss gekriegt.«
»Wie du das sagst, so sachlich, ohne jede Romantik.«
»Na, ich bin halt aus einer anderen Zeit. Selbst die Beatles und Janis Joplin gehören vor meine Zeit. Obwohl, ich höre beide immer mal wieder.«
»Jetzt mach’ mich nicht älter, als ich bin. Ich glaube, ich brauche ein kleines Pils.« Damit wandte er sich ab. Lilli folgte ihm, und an der Ecke des Kurplatzes fanden sie direkt den Weg in die Spelunke. Der rote Backsteinbau nahm zwei Straßenzeilen ein, das Untergeschoss weiß gekalkt. Ein paar Fahrräder standen vor den verblendeten Fenstern und versprachen bereits Besucher. Drei Stufen führten zu der geöffneten Tür hinunter und luden die Gäste ein. Raucherkneipe, kein Eintritt unter 18 Jahren und keine Speisen wies ein Schild an der Tür die Besonderheit der hiesigen Kneipen aus: Hier durften sich die Wirte unter bestimmten Bedingungen Raucherkneipe nennen; hier durfte wie früher geraucht werden, und die Anwesenden mussten sich nicht mit ihren Zigaretten vor der Tür treffen. Lilli und Bresniak stiegen die drei Stunden hinab und betraten die schummerige Bar, Lilli vorneweg. Sie zog sofort alle Blicke auf sich. Es geschah nicht oft, dass eine so grazile Frau mit feenhaften Bewegungen und mit einer Ausstrahlung, die Sonne mitbrachte, in die Kneipe stolperte.
Kaum wurden die Männer gewahr, dass ihr ein Begleiter folgte, machte sich auf ihren glänzenden Augen Enttäuschung breit. Die Bar, einer Seemannskneipe nachempfunden, trug zu Recht den Namen Spelunke. Der Raum war ein schmaler Schlauch. Auf der einen Seite ein langer Tresen, dessen Bierzapfhahn zwischen dem dunklen Holz kaum hervortrat und ab und zu zischte. Vor dem dunklen Holz standen fest montierte Bänke in der Höhe von Barhockern. Ähnliche Sitzgelegenheiten mit einem schmalen Tisch, der gerade reichte, um sein Glas abzustellen, zogen sich an der Wand entlang. Hier konnten sich die Gäste auch anlehnen, was nach einigem Bier- und Schnapskonsum hilfreich sein konnte.
Ja, das sah alles so aus, dass, wenn der Abend fortgeschritten war, man mehrreihig vor dem Tresen stand und sich zuprostete. Deti, der Wirt, lud die Neuankömmlinge ein, es sich gemütlich zu machen. Lilli und Bresniak fanden einen Platz und bestellten sich ein Pils. Lilli schaute sich um. Gleich neben dem Eingang war eine Aussparung, fast ein Erker, in dem der einzige runde Tisch seinen Platz fand. Wahrscheinlich der Ort, an dem die Stammtischdiskussionen regelmäßig stattfanden, ging es ihr durch den Kopf.
Bresniak nahm sein Bier, das der Wirt ihm inzwischen mit einem Prosit vor ihn hingestellt hatte, und schlenderte den schmalen Gang entlang bis an das Ende der Bar. Dabei warf er einen Blick auf die nautischen Devotionalien, die an der Wand hingen: Kompass, Fernrohr, Barometer und ähnliche Dinge, alles aus Messing, das an eine Zeit erinnern sollte, als hier noch Seeleute lebten, oder besser gesagt deren Familien, die wochen- oder monatelang auf die Rückkehr ihrer Männer warteten. Der Raum erweiterte sich und führte links um die Ecke in einen Raum, in dem Einheimische dabei waren, an Spielautomaten ihr Glück zu versuchen. War einer der Automaten gerade nicht in Gebrauch, forderte ein Pling die Umstehenden auf, ihr Spiel erneut zu versuchen.
Deti, genauer Detlef, breitschultrig, ein ganzer Mann, der gerade so hinter seinen Tresen passte, polierte Gläser und prüfte mit seinen grauen Augen, ob auch keine Schlieren mehr den Glanz störten. Ihm schien sein Job Spaß zu machen. Er war akzeptiert bei den Einheimischen, obwohl er aus dem Münsterland stammte. Lilli beobachtete den Wirt bei seinen Aktionen. Währenddessen gesellte sich ein Mann zu ihr. Er sah aus, wie man sich Seebären vorstellt: groß, kräftig und breitschultrig. Seine weißen Haare hatte er kurz geschoren und sein Schnurrbart setzte einen harmonischen Akzent in sein sonst bronzefarbenes Gesicht. Seine Jeans und sein dunkelblaues Shirt vermischten sich mit dem Dunkel des Raumes, in den nur wenig Licht hineinschien. Die Fenster, die zwar an der Straßenfront verliefen, waren von innen verschlossen und in die Verkleidung der Inneneinrichtung integriert.
»Moin, wo kommt ihr denn her?«, begann er das Gespräch mit Lilli, die sich gerne darauf einließ, denn das war eine Möglichkeit, Inselinterna zu erfahren. Lilli schaute ihn mit ihren bernsteinfarbenen Augen an. Sie wusste, welche Wirkung sie damit beim männlichen Geschlecht erzielte. Sie erzählte, woher sie kamen und dass sie Urlaub machten – keine spektakuläre Geschichte für eine Ferieninsel.
»Sagen Sie mal, was ist denn hier auf einmal los? Es scheint, als wenn die Insulaner total aufgeregt sind. Was war das denn für eine Leiche, die die hier aus dem Wasser gefischt haben?«, fragte Lilli ihre neue Bekanntschaft.
»Jo, Deern, da kann ich dir was sagen, die erzählen hier schon, Jack the Ripper ist auf die Insel geschwappt worden.«
»Der Tote war ein Mann?«, fragte Lilli neugierig, wohlwissend, dass die Rechtsmedizin noch keine DNA nachgewiesen hatte.
»Kennen Sie nicht Jack the Ripper, der im 19. Jahrhundert in London sein Unwesen getrieben hat? Der soll seinen Wohnsitz hierher verlegt haben«, grinste der Seebär.
»Ja, doch …?«
»Das hier ist Töwerland, da passieren manchmal Dinge, die es woanders nicht gibt, und da wird geunkt, dieser Jack the Ripper sei auf die Insel gekommen und sticht Frauen ab, auf unserer Insel, wo nie etwas passiert, außer wenn sich mal einer ein paar Schnäpse zu viel hinter die Binde gekippt hat und dann eher torkelnd meint, eine Schlägerei anfangen zu müssen.«
»Dann ist es eher ein Opfer dieses Engländers? – Wo findet man diesen Jack?«, versuchte Lilli mit neugierigen Fragen den Einheimischen weitererzählen zu lassen.
»Wenn man das wüsste, hätte die Polizei hier nichts mehr zu tun.«
»Was waren das für Frauen, die der auf seiner Liste hat?«
»Alle von unserem schönen Töwerland.«
»Muss ich mir da Sorgen machen? Welche Sorte verfolgt er denn besonders gerne? Was wird denn so erzählt?« Lilli blickte ihn dabei mit großen Augen an.
»Na, so hübsche Frauen wie Sie sollten sich in Acht nehmen – nicht nur wegen Jack. Aber Sie haben ja einen Beschützer dabei«, und er wies mit einer Kopfbewegung in Richtung Hinterzimmer, wohin sich Bresniak zurückgezogen hatte. Der Kommissar hatte sehr rasch gemerkt, dass dieser alte Insulaner – er machte den Eindruck eines Alteingesessenen – bereitwillig Lilli das ein oder andere erzählen würde und dass in seinem Beisein diese Quelle sehr rasch versiegen würde. Genug hatten sie sich über den Fall schon unterhalten, dass Bresniak ernsthaft hoffen konnte, dass Lilli die richtigen Fragen stellen würde.
»Ja, gut. Aber ich kann meinen Schutzgeist ja nicht überall mit hinschleppen, außerdem hat er manchmal andere Interessen als ich. – Wenn ich dann alleine unterwegs bin, wo sollte ich mich auf gar keinen Fall aufhalten?«
»Im Zauberwald, da haben sie vor ein paar Hundert Jahren schon einmal angebliche Hexen verbrannt. Sie wissen ja: Hexen waren oft besonders schöne Frauen, die die Männer verzaubert haben …, wenn ich Sie mir so betrachte, könnten Sie gut eine Hexe sein.«
»Ne, jetzt mal im Ernst. Vermissen Sie hier auf der Insel nicht eine Frau?«
»Eine? Wir vermissen einige Frauen, nicht wahr Deti?«, zog er den Kneipenwirt mit in das Gespräch, »wir könnten es schon vertragen, wenn wir von Frauen umschwärmt werden.«
»Lass mal gut sein, mit deiner Anmache vertreibst du mir hier noch Gäste. Nicht jeder hört dich gerne so schnacken«, entgegnete der Wirt, und der gerade Angesprochene zog eine Flunsch. Er griff nach seinem Glas, leerte es in einem Zug und schob es Deti erneut hin, der die Aufforderung verstand und ihm einen erneuten Klaren einschenkte.
»Also, dem Vries ist die Frau weggelaufen. Seitdem sitzt er jeden Abend in einer anderen Kneipe und lässt sich volllaufen.«
»Weggelaufen? Wohin kann man denn hier auf der Insel weglaufen? Außer ins Meer natürlich.«
»Das Schlimmste wäre, wenn sie nach Norderney ausgebüxt wäre! Sie müssen wissen, die Bewohner von Juist und Norderney lieben sich wie die Kölner und die Düsseldorfer. – Nein, es wird gemunkelt, sie sei nach Deutschland gefahren und nicht wiedergekommen.«
»Davon wird man aber nicht in Teilstücken hier an Land gespült.«
»Was erzählst du da für ein Zeug?«, mischte sich Deti wieder ein, »lass doch die Geschichten ruhen. Der arme Vries, der hat mit sich genug zu tun.«
»Jetzt haben Sie mich aber endgültig neugierig gemacht. Bitte, erzählen Sie weiter. Sie können leise sprechen, dann hört der Wirt es nicht.« Dabei rückte Lilli etwas näher an ihren Gesprächspartner heran und animierte ihn so, weiterzuerzählen.
»Die Krista, die Frau von dem Vries, die ist immer wieder nach Deutschland gefahren. Sie wissen, das geht oft nur einmal pro Tag und nur mit Übernachtung.«
»Was hat die da gewollt?«
»Die hat das Bridge-Spielen für sich entdeckt. Entweder hat sie Lehrgänge besucht – wieso man zum Kartenspielen einen Lehrgang besuchen muss, ist mir schleierhaft oder sie hat … nun ja, was auch immer …. Wenn einer mal die Regeln erklärt hat, sollte man das doch spielen können. Aber sie hat immer wieder behauptet, das sei kompliziert, da bräuchte man Unterricht, und dann hat sie an Turnieren teilgenommen. Immer wieder fuhr sie zu einem Clubturnier, wie sie das nannte. Ich glaube, da ist sie eines Tages nicht mehr wiedergekommen, aber das kann der Vries natürlich nicht zugeben, dass sie ihm weggelaufen ist.«
»Hat der das denn so akzeptiert, dass seine Frau immer alleine rübergefahren ist und über Nacht dortblieb?«
»Die Fähre fährt nur einmal pro Tag.«
»Und was ist mit dem Flugzeug? Man kann doch auch fliegen.«
»War ich dabei, wenn sie ihrem Mann etwas erzählt hat und welche Begründungen sie hatte, warum sie wieder nach Deutschland musste? Allerdings, gemeckert hat er schon, besonders, wenn er mal wieder dem Korn zu sehr zugesprochen hatte, aber was sollte er machen? Er konnte seine Krista nicht anbinden. Andere munkeln, die hätte ein Techtelmechtel in Deutschland, aber so gut kenne ich die beiden nicht, alles nur Gerüchte.«
»Und, welche Gerüchte erzählt man sich?«
»No, Dern, bist ganz schön neugierig; aber wie soll ich solchen Augen widerstehen. – Bei den beiden hatte sie die Hosen an – und das Geld. Da konnte er nicht so viel ausrichten. Na, manchmal ist er auch ziemlich aufbrausend und cholerisch, der Vries. Mit dem ist nicht immer gut Kirschen essen, obwohl – hier bei uns auf der Insel wachsen keine Kirschen«, grinste er über seinen eigenen Witz. »Auch heute nicht, besonders wenn er wieder getankt hat, dann sollte man ihn nicht zu sehr reizen, und wer ihn auf seine Krista anspricht, hat gute Chancen, am nächsten Morgen ein Veilchen zu haben.«
»So schlimm?«
»Hmm«, brummte er.
»Und, wo ist sie wirklich hin?«
»Es wird gemunkelt, sie habe einen Lover in Deutschland.«
»Und, hat sie?«
»Ich weiß nicht. Die Krista ist eigentlich eine treue Tomate. Aber alles lässt die sich auch nicht gefallen, irgendwann macht die auch die Schotten dicht. Ob da was dran ist an der Liebesgeschichte? Der Jörg will die mal drüben in einem Lokal bei einem Tête-à-Tête gesehen haben. Aber vielleicht hat er das auch überinterpretiert.«
»Welcher Jörg?«
»Wenn Sie noch etwas warten, dann kommt der auch noch. Der trinkt sich regelmäßig freitags einen.«
»Dass der nur so etwas erzählt hat, weil er Unfrieden stiften will?«
»Normal ist der ganz manierlich.«
»Wer ist ganz manierlich?«, wollte Bresniak wissen, der sich zu den beiden wieder hinzugesellte und die letzten Worte mitbekommen hatte.
»Das ist mein Freund Charly – das ist der, der aufpasst, dass mir kein Inselgeist ein Messer in den Rücken rammt.« Dabei lächelte Lilli ihn an und griff Bresniak um die Taille, und er legte seinen Arm auf ihre Schulter, was sie mit einem fast unhörbaren Schnurren beantwortete. Um Lillis Gesprächspartner nicht mürrisch werden zu lassen, forderte er Deti auf, eine Runde Klaren einzuschenken, womit er in das weitere Gerede über die Inselneuigkeiten einbezogen wurde.
»Schau, wir sitzen auf dem Platz der Familie Wirtz, oder wie soll ich diese Plakette verstehen?«, machte Lilli Charly auf das kleine Messingschild aufmerksam, das am Tresenrand fixiert war, und versuchte auf diese Weise, den Wirt einzubeziehen.
»Ja, da hat einer mal damit angefangen; der hat gefragt, ob er sein Schild hier antackern darf, und dann kam noch einer und noch einer …«, erklärte der Wirt, der sich schon wieder am Zapfhahn zu schaffen machte. Das schien eine Kneipe zu sein, in der man sich traf; hier wurde man besser und schneller darüber informiert, was im Dorf wichtig war, als wenn man auf die Inselzeitung wartete.