Читать книгу Der Tod in der Salzwiese - Sibyl Quinke - Страница 8
Kapitel 5
ОглавлениеEs gab nur eine Richtung: Westen. Es dauerte nicht lange, und er hatte Lilli mitten in der Salzwiese ausgemacht. Sie mit ihrem Adlerblick hatte ihn auch bald erkannt, obwohl sie ihn nicht auf einem Fahrrad vermutete. Schwieriger wurde der Weg in das salzige Habitat hinein. Das Fahrrad stellte er am Deichdurchbruch ab. Nicht alle Exkursionsteilnehmer waren schon gegangen. Eine Gruppe von fünf Touristen hatte es sich in der Sonne gemütlich gemacht und diskutierte. War es jetzt wirklich ein Arm? Dann würden sie echt etwas versäumen, wenn sie jetzt gingen. Außerdem war das Wetter angenehm. Die Sonne streichelte sanft ihren Teint, dabei ein Wind, der es nicht zu heiß werden ließ. Die Salzwiesenbesucher trieb nichts; so konnten sie miteinander fachsimpeln. Bresniak grüßte kurz.
»Sind Sie von der Polizei? Sie haben gar keine Uniform an!«, bemerkte einer von Ihnen.
»Glauben Sie mir, auch Polizisten haben mal Urlaub; dass mir dann gleich eine Leiche über den Weg läuft, damit muss ich nicht rechnen.«
»Laufen ist gut, ha, ha …«, bemerkte einer der Umstehenden, »die läuft nicht mehr.«
Bresniak ging auf die Bemerkung nicht ein, folgte dem ausgetrampelten Pfad durch die nasse Vegetation und erreichte Lilli mit Jens.
Jens hatte inzwischen wieder sein Leben zurückgewonnen und versuchte aufzustehen. Obwohl … seine Knie waren immer noch weich, und so war er froh, dass Lilli ihm erneut deutlich zu verstehen gab, er solle besser sitzen bleiben. Bresniak schaute beide neugierig an und fragte dann: »Wo ist das Corpus Delicti, das hier so für Aufregung sorgt?«
Lilli brachte Bresniak auf den neusten Stand der Ereignisse. Daraufhin näherte er sich dem Ast oder dem Arm, was immer es denn war, was zwischen den Salzpflanzen herausragte.
»Vorsicht!«, warnte Jens, »testen Sie den Untergrund erst, bevor Sie Ihre Schritte machen! Sonst stehen Sie gleich bis zu den Knien im Salzschlamm!«
Die Warnung kam zu spät. Die scheinbar stabile Oberfläche, die die verdickten und verholzten Ausläufer von Strandflieder oder Meerstrandbinse gebildet hatten, hielten keinen 90-Kilo-Mann, und schon war Bresniak bis zu dem Knien zwischen Wattschlamm und Sedimente gerutscht.
»Scheiße«, fluchte er, zog sein Bein heraus, musste aber seinen Schuh verloren geben, »was für ein Tag. Ich dachte wirklich, ich hätte hier Urlaub.« Unbeschuht, zumindest was seinen rechten Fuß anging, bewegte er sich nun vorsichtig zu diesem merkwürdigen Fund. Nein, Lilli hatte nicht übertrieben, wenn sie von einem Arm gesprochen hatte. Es war tatsächlich ein menschlicher Arm, mit Hand. Bresniak war ein erfahrener Kriminalhauptkommissar und arbeitete schon lange in der Mordkommission, doch so etwas hatte er bisher nicht gesehen. Er schaute sich diesen Fund erst einmal an. Die Haut hatte angefangen, sich abzulösen, wie er es bei Wasserleichen gesehen hatte. Außerdem erkannte er Fraßspuren. Offensichtlich hatten schon ein paar Fische daran geknabbert. Er griff nach diesem Leichenteil. Der Fundort selbst, das gab das Ambiente her, war kaum der Tatort und kaum der Ort, wo der Täter den Arm abgelegt hatte. Den musste der Sturm gestern Nacht an das Ufer getrieben haben. Normalerweise hätte sich Bresniak wieder entfernt. Aber bei diesem unzugänglichen Gelände unterdrückte er sein Ekelgefühl, zog sein Oberteil und Unterhemd aus, um Letzteres dazu zu benutzen, nach dem Arm zu greifen und diesen aus dem Salzwiesengestrüpp herauszuziehen, und brachte es zu den beiden Wartenden. Jens und Lilli schauten ihn nur mit großen Augen an.
»Und jetzt?«, fragte Jens zaghaft. »Was mache ich jetzt damit?«
Jens fühlte sich für den Fund verantwortlich. Schließlich war es sein Terrain, um das er sich pflichtbewusst kümmerte. Er war der Chef des Nationalpark-Hauses, und es gehörte zu seinen Aufgaben nicht nur, Touristen und andere Interessierte über das UNESCO-Weltnaturerbe zu informieren, er musste alles tun, damit die Natur keinen Schaden nahm.
»Nichts für ungut. Sie müssen nur wieder Farbe in Ihr Gesicht bekommen und sich für polizeiliche Ermittlungen bereithalten. Alle, die heute Morgen hier waren, kommen als Täter nicht infrage, dafür ist die Leiche, besser das Leichenteil, nicht frisch genug«, ergänzte Bresniak sarkastisch. Während dieser Erklärung fingerte er sein Handy aus der Hosentasche und rief Polizeikommissar Weine an. Er gab einen knappen Bericht und forderte ihn auf, die Informationen zum Festland weiterzugeben und eine Plastiktüte nebst Kühlbox mit Kühlelementen zu besorgen, damit der Arm für einen Transport in die Rechtsmedizin vorbereitet werden konnte. Bresniak stellte sich darauf ein, länger warten zu müssen. Der Kollege vor Ort hatte auf ihn nicht den schnellsten Eindruck gemacht. Zu Jens und Lilli gewandt, ermunterte er sie, nach Hause zu gehen, sie könnten hier weiter nichts ausrichten.
Jens folgte dieser Aufforderung gerne; dieser Morgen hatte genug Aufregung gebracht. Lilli allerdings blieb bei ihrem Freund:
»Charly, ich lasse dich hier nicht alleine hocken.«
Wider Erwarten tauchte Weine rasch auf, mit Kühlbox und Kühlelementen. Er hatte die Feuerwehr informiert, die ihn mit einem der wenigen Fahrzeuge, die sich auf der Insel befanden, hergefahren hatte.
»Danke, Kollege! Ich darf Kollege sagen, wenn wir auch ganz andere Aufgabenbereiche zu bearbeiten haben?«
Bresniak schwieg und Weine nahm sein Schweigen als Zustimmung.
»Ich fahre gleich zum Flugplatz. Aus Wittmund schicken sie den Kollegen Puschkin, der die Untersuchung leiten soll. Der ist angekündigt. Sie halten sich für eine Befragung zur Verfügung?«
Bresniak grinste über den formellen Ton: »Wohin sollte ich weglaufen? Die heutige Fähre hat schon abgelegt. Ich könnte nur noch zum Festland schwimmen.«
Weine schaute ihn hilflos an. Solch einen Leichenfund, genauer Fund eines Leichenteils, hatte er noch nicht erlebt. Es sprengte alles, was er in seinem beruflichen Dasein bisher erlebt hatte, er fühlte sich überfordert und konnte der Ironie Bresniaks nicht folgen. Linkisch packte der Polizeikommissar den Arm in die Tüte. Es wollte nicht so richtig klappen. Der Arm war glitschig und alles andere als appetitlich. Er tat Bresniak leid. So half er ihm und ergänzte, die Rede von vorhin wieder aufnehmend: »Villa Charlotte bin ich untergebracht. Da erreichen Sie mich.«
»Ach, bei der Inka«, kommentierte er tonlos.
Die Kühlbox war gefüllt. Weine fuhr mit ihr zur Polizeistation, und Bresniak, den linken Fuß beschuht, den rechten nur mit einem Socken bestückt, machte sich mit Lilli – ohne Fahrrad – auf den Weg in ihr Hotel.