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Ein Tag beginnt

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Unser Tag beginnt um halb sechs Uhr früh – nach einer Nacht, die mindestens zwei, eher dreimal unterbrochen worden ist. Zu dieser frühen Morgenstunde verlangt mein dreijähriger Sohn seine Milch – so laut, dass auch sein knapp einjähriger Bruder wach wird. Todmüde haste ich in die Küche, wärme Milch, bringe sie den hungrigen Kindern ins Bett. Dann mache ich Frühstück, setze Kaffee auf, wickle das Baby, ziehe es an, räume das Geschirr weg, die Küche auf, beschäftige den grossen Bub, klaube die Playmobil-Pistole unter dem Bett hervor, verabschiede meinen Mann, der es immer eilig hat, ziehe mich an, kämme mir die Haare, durchwühle den Kasten nach sauberen Strumpfhosen für das Baby, packe die Kinder in die Winteroveralls, binde ihre Stiefel, ihre Mützen und suche nach einem verlorenen Handschuh, damit ich die beiden trotz des Schnees möglichst unversehrt in die Kita bringen kann. Stehen wir draussen vor der Tür, bin ich trotz der Kälte nass geschwitzt. «Wo ist der Nuggi, Mama?», fragt mein dreijähriger Sohn und ich renne nochmals hoch, um den Schnuller zu su­chen. In der Kita angekommen, jammert der Grosse, weil er lieber bei mir bleiben möchte. Ich tröste ihn, verabschiede mich dann mit einem klammen Gefühl, eile zum Tram, das mich ins Büro bringt.

Schon wieder bin ich eine halbe Stunde zu spät dran, als ich die Tür zum Büro aufstosse. Meine Kollegen grüssen zwar höflich, blicken aber auf die Uhr. Es wird nicht gern gesehen, wenn jemand nach neun Uhr morgens im Büro auftaucht – obwohl jeder seine Arbeitszeit selbst einteilen kann und ich durch meine Abwesenheit niemandem zusätzliche Arbeit aufbürde. Trotzdem gilt die ungeschriebene Regel: Der Erste im Büro ist der Fleissigste. Und der, der als letzter Feierabend macht, gilt als «gewissenhaft» und «unentbehrlich» – ganz egal, was während der Anwesenheit im Büro tatsächlich gemacht wird. In manchen grossen Unternehmen sehe man Leute, die bis zum Gehtnichtmehr in ihrem Büro bleiben, um dort persönliche Te­­le­fongespräche zu führen, im Internet zu surfen, gratis Fotokopien zu machen und Zeitung zu lesen, schreibt die französische Schriftstellerin Corinne Maier in ihrem Buch «Die Entdeckung der Faulheit». «Es macht in Frankreich und in vielen anderen Ländern einen guten Eindruck, wenn man bis 20 Uhr oder gar 21 Uhr im Büro bleibt, wenn man ‹einge­spannt› ist. Das beweise, dass man seine Arbeit liebt.»1

Auch bei uns im Büro ist es so. Als Mutter gehöre ich aber zu den ständigen Verliererinnen in diesem Wettlauf um Präsenzzeit – selbst wenn ich mich seriös um die wenige Arbeit kümmere, die mir bleibt. «Pech gehabt, wenn die berufstätige Mutter ihre Arbeit besser macht als andere und effektiver ist, was meiner Erfahrung nach oft der Fall ist – nicht sie diktiert die Spielregeln, sondern die Männer tun es», schreibt Corinne Maier.2 Das Familienleben sei ein Handicap für die Karriere der Frau, während es sich positiv auf die der Männer auswirke. «Warum? Ganz einfach, weil man sie nach 18 oder 19 Uhr kaum noch sieht … Sie ist also kaum verfügbar in den strategisch bedeutenden Arbeitszeiten, in denen das Unternehmen zusammenrückt und seine blind ergebenen Gefolgsleute zählt.»

Was mich fast noch mehr stört, ist die unangenehme Stimmung, die im Büro herrscht. Im Grunde genommen sitzen wir alle im gleichen Boot, verdienen hier unser Geld, langweilen uns mehr, als uns lieb ist. Aber keiner gibt das vor den anderen zu oder fragt sich: «Was machen wir hier eigentlich?» Alle – selbstverständlich auch ich – tun so, als ob die Arbeit das Höchste der Gefühle sei. Ganz offensichtlich ist das aber nicht der Fall. Weil wir keine Arbeit haben, die uns befriedigt und deren Sinn wir sehen, gehen wir uns gegenseitig auf die Nerven: Gnadenlos wird über die «Unfähigkeit» jener getratscht, die nicht anwesend sind; Mütter, die nicht zur Arbeit kommen können, weil das Kind krank ist, werden verdächtigt, «blauzumachen», Notizen, die einen Anruf in Abwesenheit melden, kehren rot korrigiert (wegen eines grammatikalischen Fehlers) auf das eigene Pult zurück. Und wenn es tatsächlich einmal et­was zu tun gibt, wird versucht, diese Arbeit möglichst auf die Kollegen abzuschieben. «Kann irgendetwas stärker demoralisieren, als während seines ganzen Erwachsenenlebens an fünf von sieben Tagen morgens aufzuwachen und dann eine Arbeit zu verrichten, von der man insgeheim glaubt, dass sie nicht verrichtet werden muss – dass sie einfach nur Zeit- und Geldverschwendung ist oder die Welt sogar schlechter macht?», fragt David Graeber, Professor für Anthropologie, in seinem Buch «Bullshit-Jobs».3 In un­serem Büro führt die Bedeutungslosigkeit unserer Jobs dazu, dass wir uns gegenseitig misstrauisch beäugen und uns kaum über den Weg trauen.

Schluss mit gratis!

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