Читать книгу Rose, Linde und Silberner Stern: Erzählung für die Jugend - Siebe Josephine - Страница 9
Viertes Kapitel.
Im Silbernen Stern.
ОглавлениеDie Sternbuben finden eine Zigarre. Frau Sektretär Schmidt ärgert sich, und Herr Häferlein kommt dazu und gibt guten Rat. Gundel Hinz muß eine Geschichte erzählen, und das schlimmste Teufele heißt Herr Häferlein. Käthle läßt sich auf keine Verhandlungen ein, und die Sternbuben drohen dem Kaufmann.
Drei Augenpaare hatten lange den Grills und Alette Amhag nachgesehen, als die durch die Löwengasse schritten, um spazierenzugehen. Neidisch und sehnsüchtig waren die Blicke gewesen, wie solche sind von Kindern, die gern auch dabei wären.
Am Ende der Löwengasse, halb schon am Untermarkt, lag das Gasthaus zum Silbernen Stern, das Heimathaus der schlimmen Sternbuben. Es war ein uralter, wohlangesehener Gasthof. Der Silberne Stern prangte schon zweihundert Jahre im Torschild, und viele, auch vornehme und reiche Gäste waren im Laufe der Zeit darin eingekehrt. Zwei Täfelchen an der Mauer, dicht neben dem Tor, verkündeten, daß einstmals ein König und später ein sehr berühmter Mann im Silbernen Stern gewohnt hatten. Das Haus hatte innen weite Flure und große Zimmer, viele Kammern und Bodengelasse, und wenn die Sternbuben darin Versteckens spielten, fanden sie sich beinahe selbst nicht zurecht.
Den Gasthof verwaltete allein nach dem Tode ihres Mannes Frau Marianne Hinz. Das war eine umsichtige, fleißige Frau, die von früh bis spät im Hause schaffte. Die Gäste im Silbernen Stern spendeten ihr reiches Lob; wer einmal einkehrte, vergaß selten das Wiederkommen. Eins vergaß Frau Marianne aber mehr und mehr über ihrer Arbeit, das waren ihre Kinder, nicht deren leibliches Wohl, aber ihre Erziehung. Die Kinder wurden satt, wurden gut gekleidet und litten keinerlei Mangel, was sie aber sonst den lieben langen Tag taten, danach fragte die Frau wenig. Am Zeugnistag gab es freilich immer Schelte, mitunter griff Frau Marianne auch zum Stock, damit war es jedoch abgetan. In der übrigen Zeit fragte die Mutter nie, wie es in der Schule ging, sie merkte nicht einmal das Nachsitzen. Sie wußte wohl, ihre beiden waren rechte Wildlinge, aber sie dachte leichtherzig, das gibt sich, Buben sind nun einmal so.
Noch weniger beinahe kümmerte sich Frau Hinz um ihr einziges Mädelchen. Da brauchte sie nicht einmal an den Zeugnistagen zu schelten, denn Gundel brachte immer gute Nummern heim. Gundel Hinz war ein scheues, stilles Kind, durch frühes Leiden ernst geworden; sie hinkte, und schon darum konnte sie nicht, wie es Trinle Grill tat, an den Spielen der Brüder teilnehmen. Mathes und Peter verlangten freilich auch nicht danach. Sie vertrugen sich nach ihrer Art sehr gut mit der Schwester, sie kümmerten sich jedoch nur um sie, wenn sie etwas von ihr haben wollten, wenn z. B. die Löcher in Hosen und Kitteln so groß waren, daß es selbst ihnen zu arg schien. Die langjährige Hausmagd Mina im Silbernen Stern, die für Wäsche und Kleider Sorge trug, verstand nämlich in solchen Dingen keinen Spaß. Sie ging nicht erst zur Mutter, um anzuklagen, sondern strafte selbst, meist sehr handfest und grob. Es kam auch vor, daß sie an einem Sonntag den Buben sämtliche Kleidungsstücke wegnahm und die beiden dann den schönen freien Tag im Bett verbringen mußten. Das Haus und die Gasse hatte dann Ruhe vor den beiden, und die schadenfrohen Nachbarn sagten wohl schmunzelnd: »Haha, heute werden den Sternbübles die Hosen geflickt!«
Die Gasse sagte den Buben viel Schlimmes nach, und die Grills waren nicht die einzigen, die mit ihnen nichts zu tun haben wollten. Herr Häferlein mochte sie gar nicht in seinem Laden sehen. Herr Baldan drohte gar mit dem Stock, und der dicke Bäcker Hering an der Ecke vom Untermarkt sagte, er würde es noch einmal mit ihnen machen, wie es Max und Moritz geschehen war.
An diesem Nachmittag hatten sich die Sternbuben in eine der leerstehenden Fremdenstuben geschlichen, um ganz ungestört zu sein. Es war keine Zeit, wo viele Fremde kamen, und etliche Stuben standen darum verschlossen und verhängt. Mathes hatte unbemerkt einen Schlüssel vom Brett genommen, und nun saßen sie vergnügt in dem großen Zimmer und – rauchten. Sie hatten auf der Straße eine dicke, große Zigarre gefunden und beschlossen, diese gemeinschaftlich zu rauchen. Einmal zog Mathes daran, dann Peter, und obgleich es ihnen eigentlich abscheulich schmeckte, sagte doch immer einer zum andern: »Fein!«
Sie hatten sich auf das Fensterbrett gesetzt und sahen auf die Gasse hinaus, denn wenn sie auch heimlich rauchten, so kamen sie sich doch sehr wichtig vor und meinten, ein paar Leute könnten es schon sehen, wie gut sie zu rauchen verstanden. Dabei sahen sie auf der Gasse Grills wandern mit Alette Amhag. Die lachten gerade, als sie am Hause vorbeigingen; sie sahen sehr vergnügt aus, und den beiden Wildfängen schmeckte die Zigarre auf einmal noch schlechter als zuvor.
In der Gasse dachten alle: Die Sternbuben kann man schelten und schief ansehen, so viel man nur will, sie machen sich nichts daraus, die haben eine dicke Haut. Aber das war nicht richtig, die Sternbuben kränkten sich wohl darüber, viel mehr als irgend jemand ahnte, und im Grunde wären sie viel lieber so gern gesehen und wohl gelitten gewesen, wie es die Grillschen Kinder waren. Die waren zwar auch wild, aber dann doch wieder folgsam und höflich und fleißig dazu, auch schimpften und fluchten sie nicht und streckten nicht ihre Zunge andern Leuten heraus.
Neidisch und sehnsüchtig zugleich sahen die beiden Raucher auf die lustigen Spaziergänger herab.
»Die Neue aus Indien geht gleich mit ihnen,« brummte Mathes.
»Hm,« knurrte Peter, »uns wird sie net anschauen!«
Mathes seufzte schwer, und der Bruder fragte kleinlaut: »Was hast, wird's dir auch übel?«
»Ich hab solche Sehnsucht!«
»Nach – – der Indianerin?« schrie Peter.
»Noi, nach dem Äffle, dem August.«
»Ja so – ich auch!«
Eine Weile schwiegen beide, dann sagte Mathes plötzlich: »Weißt, wir besuchen mal gleich Frau Tippelmann!«
»Ach, die – die tut uns rausschmeisse!«
Mathes seufzte wieder. Es wurde ihm so sonderbar zumute, gewiß vom Nachdenken. Der Bruder reichte ihm die Zigarre: »Jetzt rauch du wieder!«
»Ja – aber …« Mathes nahm das Zigarrenstümpfchen nur zögernd in den Mund, da sah er, daß drüben die Frau Sekretär Schmidt zum Fenster heraussah. Das war eine Dame, die sehr oft und sehr viel auf die Sternbuben schalt, und Mathes dachte trotzig: Nun gerade! Er paffte kräftig, blies den Rauch mit vollen Backen zum Fenster hinaus, und drüben schlug Frau Schmidt die Hände zusammen über die unnützen Buben.
»Gib mir noch mal!« Peter nahm die Zigarre und tat auch noch ein paar Züge, und drüben klappte Frau Schmidt ärgerlich das Fenster zu. Die Sternbuben werden immer ärger, dachte sie.
»Jetzt, wenn wir das Äffle hier hätten, wär's noch feiner,« sagte Peter.
Da beugte sich Mathes rasch vor und sagte halblaut: »Wir – borgen uns das Äffle mal.«
»Hm, borgen!« Peter warf das letzte Zigarrenendchen weg; er neigte sich auch zu dem Bruder hin, und trotzdem sie ganz mutterseelenallein in dem Zimmer waren, tuschelten sie doch heimlich miteinander. Sie kicherten verschmitzt, es fiel ihnen dies und das ein. Peter sagte: »Komisch, daß das Äffle August heißt wie Herr Häferlein!«
»Wie Herr Baldan!«
»Au jeh,« kreischte Peter plötzlich, »mir wird so übel!«
»Mir auch! Oh, oh mein Bauch!« jammerte Peter.
Sie rutschten vom Fensterbrett herab und krümmten sich auf der Diele herum, denn auf einmal rumpelte und pumpelte das in ihren Bäuchlein ganz unverschämt herum. Sie meinten außerdem, im Zimmer führe aller Hausrat, Betten, Tisch, Schrank und Stühle, einen wilden Tanz auf; alles wackelte und schwankte, und Peter, der sich aufrichten wollte, purzelte auch gleich um. Platsch, lag er da, käseweiß sah er aus.
Er stirbt, dachte Mathes angsterfüllt und brüllte, so laut er nur konnte. Und das Schreien verstanden die Sternbuben gut. Angst und Schmerzen stärkten noch Mathesles Stimme, er brüllte wirklich wie ein kleiner Ochse.
Das Zimmer lag im zweiten Stock; niemand war um diese Zeit oben, und in den Wirtschaftsräumen war nichts zu hören. Auf der Straße vernahm man das Jammergeschrei. Haha, die Sternbübles kriegen Haue! dachten ein paar Nachbarsleute, aber Herr Häferlein, der eben von seinem Spaziergang heimkam, hörte den Hilferuf heraus. Er lief in den Stern hinein, und ein paar Minuten später rannten die Wirtin, die Mägde und der freundliche Kaufmann dazu die Treppen hinauf und fanden oben die beiden Missetäter.
»Haha! geraucht!« Herr Häferlein schnupperte in der Luft herum. »Das ist keine schlimme Krankheit, Frau Wirtin,« sagte er lachend. »Die beiden gehören ins Bett und dann – meine Nachbarin Tippelmann würde sagen: Der Stock muß helfen.«
O der böse, hartherzige Herr Häferlein!
Peter war muckstill, dem war es zu übel, aber Mathes brüllte noch jammervoller, ganz schaurig klang es.
Frau Hinz sah doch etwas ängstlich drein, aber Herr Häferlein tröstete sie gutmütig und versicherte: »Das geht bald vorüber. Heute dürfen Sie ihnen nichts mehr zu essen geben, dann sind die beiden morgen putzmunter, und dann – den Stock nicht vergessen, den ja nicht.«
Nach diesem freundlichen Zuspruch ging Herr Häferlein, und die Sternwirtin handelte wirklich nach seinen Worten. Dies war nun Mathes und Peter sehr, sehr unangenehm, sie fühlten sich sehr unglücklich und warfen beide einen tiefen Haß auf Herrn Häferlein. Sie wurden in das Bett gesteckt, bekamen jeder bittere Tropfen zu schlucken, und danach wurde ihnen jegliches Jammergebrüll ernsthaft untersagt, sonst –. Die Mutter sah dahin, wo der Stock stand. Da krochen die Sternbübles flugs unter die Decken, und von dorther tönte noch eine Weile ihr klägliches Weinen.
Gleich den Brüdern hatte Gundel den Grills und Alette Amhag nachgeblickt, solange sie nur ein Zipfelchen von ihnen sehen konnte. Sie tat das ohne Neid über die Fröhlichkeit der andern, aber mit tiefer Sehnsucht, auch einmal so in lustiger Gesellschaft dahinwandern zu können. Ihr Leiden hatte sie zwar äußerlich scheu und verschlossen gemacht, und wer das blasse Kind mit den ernsthaften großen Augen sah, der ahnte gar nicht, in was für fröhlichen Gärten Gundel manchmal spazierenging, Traumgärten, in denen sie heiter und schwatzlustig war. Sie redete, wenn sie allein war, mit allen Dingen in Haus und Garten. Da waren Bäume Märchenprinzen, Blumen feinliebe Elfenkinder, da war der große Schrank ein alter König und die alte Standuhr eine kluge Fee. Sie selbst war eine Prinzessin oder ein Gänsemädchen, manchmal auch eine Mutter mit vielen Kindern, die schrecklich viel zu tun hatte, und die ihren Kindern doch Geschichten erzählte.
Mitunter setzte Gundel ringsum Stühle, gab denen Namen, setzte sich in die Mitte, erzählte Märchen oder hielt Schule ab. Einen alten hochlehnigen Polsterstuhl, den sie besonders schön fand, nannte sie immer Trinle Grill, denn in aller Heimlichkeit liebte Gundel das wilde, frohe Nachbarskind, und bitter kränkte sie der Streit, den ihre Brüder mit den Grills hatten.
An diesem Tage erhielt der Polsterstuhl einen feinen Nachbarn, einen, auf dem ein gesticktes Kissen lag; den nannte Gundel Prinzessin Amhag nach Alette, deren Vornamen sie noch nicht wußte.
Vor dieser Stuhlprinzessin machte Gundel gerade einen feierlichen Knicks, sagte, sie wolle ihr eine sehr schöne Geschichte vorlesen, als das wilde Brüllen der Brüder zu ihr herüberklang. Da lief sie erschrocken, so schnell sie mit ihrem Hinkefüßchen laufen konnte, dem Schreien nach, aber kurz vor dem Ziel hielt Mina sie fest: »Die kriegen Schläge, Gundele, das ist ihnen arg gesund, du komm nur mit mir! Verwunderlich ist's, wie ein solch brav Mädele zu solch unnütze Brüderle kommt,« sagte sie. Mina meinte es gut mit Gundel, sie hatte nur, genau wie Frau Hinz, zu wenig Zeit, sich viel um das stille Kind zu kümmern.
Ein Weilchen blieb Gundel in der Küche, dann schlich sie sich davon und suchte die Brüder auf. Sie öffnete sachte die Türe. Die beiden heulten und stöhnten noch, aber nun schon mehr aus Langeweile als aus Schmerz. Der Schwester Besuch kam ihnen sehr gelegen, und sie forderten: »Erzähl uns was!«
Statt ihrer Stuhlgesellschaft erzählte nun Gundel den Brüdern ein langes Märchen. Weil die immer viel haben wollten von allem, kamen darin etliche Prinzessinnen und Könige vor, gleich ein halbes Dutzend gute Feen und nicht ein, sondern drei Teufel. Der jüngste Teufel war besonders schlimm, und Peter, dem es schon wieder ganz gut ging, fragte: »Gelt, das Teufele heißt Herr Häferlein?«
»Eigentlich nicht,« sagte Gundel ganz erschrocken, denn sie fand Herrn Häferlein viel zu nett und freundlich, um ein Teufele nach ihm zu benennen.
»Eigentlich doch!« schrie Mathes. »Das ist fein! Mach fix, daß er eingesperrt wird!«
Da ergab sich Gundel drein. Sie ließ das Teufele Häferlein zum Ergötzen der Brüder noch allerlei schlimme Dinge erleben, und zuletzt geriet es mit seinem Schwanz zwischen zwei schwere eiserne Torflügel, und da saß es, konnte nicht heraus aus der Falle und mußte große Schmerzen leiden.
»Und wenn es nicht gestorben ist, dann sitzt es heute noch da,« schloß Mathes sehr eigenmächtig die Geschichte. »Fein!«
»Ich hab Hunger,« rief Peter, der sehr geschwind aus der Märchenwelt in den Alltag zurückfand. »Geh, Gundele, hol mir was!«
»Mir auch,« verlangte Mathes, und Gundel ging auch, den Wunsch der beiden zu erfüllen. Unten fand sie Mina am Herd stehen, die briet Hühner und sagte dabei kaltherzig: »Die Bübles müssen heute hungern, das ist gesund. Ein Krankensüpple gibt's gleich, mehr nicht.«
Gundel schlich sich traurig wieder hinauf und verkündete beiden mitleidig das harte Urteil. Das gab neues Jammergeschrei, und Mathes rief bitterböse: »Daran ist Herr Häferlein schuld! Och, och, ich hab so großen Hunger!«
»Mein Bauch tut so weh!« Peter stöhnte arg.
»Gerade darum ist das Süpple gut,« sagte von der Türe her die zweite Sternmagd Käthle, die die Krankensuppe kochte.
»Er tut vor Hunger so weh!«
Aber Käthle ließ sich auf keine Verhandlung ein, und als Mathes schlau fragte: »Kriegt Gundele ihr Abendessen net auch?« da antwortete sie spöttisch: »Gundele ißt unten. Das wär was, hier oben eßt ihr ihr alles weg, und sie bekommt nichts.«
»Gundele muß bleiben; wir haben so viel Sehnsucht nach ihr,« klagten die beiden. »Gundele bleib!«
»Eure Sehnsucht, die kenn ich.« Käthle war genau so unbarmherzig wie Mina, nichts rührte sie, auch Gundeles Bitten nicht, die wirklich gern ihr Abendbrot den Brüdern geopfert hätte. Sie taten ihr so leid, und sie folgte traurig der Magd. Die Buben aber löffelten trübselig ihre Suppe aus, klagten sich noch eine Weile ihre Not, schalten auf Herrn Häferlein, dem sie alle Schuld gaben, und schliefen dann ein. Als die Mutter später noch nach ihnen sehen kam, da pusteten und schnarchten sie wie zwei kleine Bären, nichts bedrückte sie mehr, nicht einmal die ungemachten Schulaufgaben.
Am nächsten Morgen hatten dann Mathes und Peter die Sehnsucht nach Gundel ganz vergessen, sie liefen der Schwester wie alle Morgen einfach davon, und Gundel hinkte wieder einsam ihren Schulweg entlang. Die Sternbuben rannten auch an diesem Morgen an Herrn Häferleins Laden vorbei, und als der sie laufen sah, rief er ihnen spöttisch nach: »Wollt ihr eine Zigarre? Hab schon gehört, daß euch der Stock gut geschmeckt hat!«
Wart nur, Herr Häferlein! Mathes ballte drohend die Hand zur Faust, und Peter tat es ihm nach. Beide sahen sich an, und beide nickten sich vergnügt zu. Der Herr Häferlein sollte schon seine Strafe erhalten!