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Die geraubten Vorstellungen

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Mit diesen Worten führte er mich in den Ostteil des Klostergebäudes, wo sich eine Kapelle befand. Aber schon auf dem Wege dorthin ging es wieder los.

Das Gesicht war wieder da. Es war wieder da, und es war ein dunkles Gesicht. Es war ein Gesicht mit einem unendlichen Schmerz. Es riss mich mit sich mit.

Und plötzlich waren das Kloster, der Mönch und alles, was ich gerade erlebt hatte, verschwunden und meine Kindheit stand vor mir. Aber unzusammenhängend und in einzelnen Rudimenten. Es gab keine logische Verbindung zwischen den einzelnen Wahrnehmungen.

Da sah ich mich auf der Schulbank sitzen - mit den Spielautos im Sand spielen - auf der Klassenfahrt im Gebirge auf Steinen balancieren… bis mich ein Herr in einem eigenartigen Outfit ansprach und mich aufforderte, mich zu besinnen. Ich war besonnen und sagte ihm, dass ich jetzt keine Zeit für ihn habe, sondern zu der Versammlung von Herren müsse, die schon viel zu lange auf mich gewartet hätten. Ich sagte ihm, dass es mich gefreut habe, und dass er mich jetzt aber bitte alleine lassen müsse.

Doch als ich ihn genauer anschaute, grinste mich schon wieder das Gesicht meines Mörders an. Jetzt musste ich handeln. Ich nahm all meine Kraft zusammen und schlug auf dieses Gesicht ein, bis ich einen Schlag bekam, der mich zu Boden streckte…

Zum Glück nur, dass in diesem Moment mein Freund Bruder Aurelius zugegen war. Er half mir auf und säuberte mich von dem Staub des Bodens.

„Warum bin ich schmutzig?“ fragte ich.

„Du bist gefallen“, sagte er nur und führte mich still weiter.

So kamen wir zu der Kapelle des Klosters. Am Eingang befand sich ein lebensgroßes Bild des Erzengels Michael. Vor diesem Bild blieben wir stehen.

„Oh“, sagte ich erstaunt, „ich erkenne es, ich habe es gemalt.“

Bruder Aurelius lächelte und sagte höflich: „Dann sag mir doch bitte, was es bedeutet.“

Ich betrachtete das Bild und war überfordert. Fühlte mich in diesem Moment aber auch wie in einem geistigen Vakuum.

„Das weiß ich nicht mehr“, sagte ich.

„Dann betrachte es einfach nur“, sagte er, und ich betrachtete es. Es zeigte den Erzengel in einem strahlenden Licht mit einem Kleid aus Silber und Gold. Mit der linken Hand griff er in den Himmel - und mit der rechten Hand, die ein Schwert hielt, hielt er einen sehr teuflisch aussehenden Menschen in Schach. Dabei schaute er diesen Bösen nicht an, sonder blickte auf mich mit einem Blick, der mich aufrief, ihm Rede und Antwort zu stehen – der aber auch gleichzeitig gütig und vergebend war. So stand er im Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle. Aber ich wusste nicht warum.

Doch eines wusste ich plötzlich und erschrak: Das Gesicht des Bösen, den Michael bezwang, war das Gesicht, das ich vorher gesehen hatte. Ja, das war es, das Gesicht …

Da sagte Bruder Aurelius: Schau, Johannes, schau auf die Augen des Engels:

Die Augen schauen nicht das Böse,

Auch nicht auf Krankheit, Tod und Schmerz.

So überwinden sie das Böse,

Und führen dich ins eigene Herz?“

Ich schwieg, schaute auf seine Augen und überlegte, was ich dazu sagen sollte – da fuhr er fort:

„Du darfst dir das fremde, dunkle Gesicht, das dich belastet, nicht mehr vorstellen. Du musst es einfach ignorieren und dir stattdessen etwas Gute, Positives, Schönes vorstellen – wie hier die Augen des Michael. Früher stellte sich der Mensch noch vor, was er sah. Heute lässt er sich zeigen, was er vorstellen soll. Dabei ist der Mensch das einzige Wesen, das Vorstellungen haben kann. Nur er hat die Möglichkeit sich selbst gedanklich in die Hand zu nehmen – eben im Vorstellen. Aber gleichzeitig ist dieses Vorstellen ein zweischneidiges Schwert. Wer sich einen Mord vorstellen kann, ist auch in Gefahr, ihn zu begehen, und wer sich kein göttliches Sein vorstellen kann, wird auch nie an ein Göttliches glauben. Du siehst, Johannes, im Vorstellen sind wir ganz wir selbst und zur gleichen Zeit angreifbar. Wer unsere Vorstellungen besitzt, besitzt auch uns. Mit dem Genuss vom Baum der Erkenntnis, hat Luzifer dem Menschen die Kraft der Vorstellung geschenkt. Aber wir dürfen sie ihm nicht blind überlassen, denn wer unsere Vorstellungen beherrscht, beherrscht auch uns.“

„Und wie kann ich meine Vorstellungen beherrschen?“ fragte ich und hatte doch Mühe seinen Gedanken zu folgen.

„Fertige Vorstellungen können zwingen“, sagte er. „Doch kannst du üben, selbst der Vorstellende zu sein; wie zum Beispiel in der Kunst. Hier, der Michael, der zwingt dich nicht, der kann dir helfen. In ihm liegen so viele Geheimnisse, die du finden kannst, dass du deine Vorstellungsgabe selbst aktivieren musst. Nimm deine Vorstellungen, gestalte sie und habe Mut, sie mit diesem Bild verständig zu verbinden. In der Kunst werden dir die Vorstellungen nicht mitgeliefert. In der Kunst wirst du aufgerufen, dir die Vorstellungen selbst zu bilden. Und wenn es gute Kunst ist, so werden es auch gute Vorstellungen sein. Nur musst du sie auch haben wollen. – Stell dir in ihm, in dem Michael, dich selbst in der Freiheit des Denkens vor. Niemand zwingt dich, niemand lockt dich, niemand stellt sich auf deinen Platz. Hast du die Kraft dir das vorzustellen, so hast du den ersten Schritt zu deiner Heilung getan.

Bedenke, wie Michael schaut: nicht auf das Böse, sondern ins Licht. Immer und immer wieder lassen sich die Menschen vom Bösen beherrschen, indem sie es betrachten und betrachten. Darüber freut er sich und hält sie fest in seinem Bann. – Schau nach vorne, Johannes, schau nicht auf das, was dich belastet, sondern auf das, was du in deinem Herzen werden willst.“

Ich schwieg und versuchte zu verstehen, was er meinte. Schaute ich in dem schrecklichen Gesicht wirklich nur das Böse in mir selbst? Fesselte es mich an sich, um mich zu besitzen? Durfte ich es einfach so vergessen und ignorieren? War ich nicht gerade dann ein leichtes Opfer? Und als wenn Bruder Aurelius meine Gedanken gelesen hätte, sagte er:

„Das Licht des Denkens geht verschiedene Wege. Es kann sich fesseln lassen von den Dingen, die es belasten – und zerbricht. Oder aber es findet die Kraft, sich selbst in Liebe zu tragen – und zu gesunden. Du bist das Licht – Johannes, du bist aber auch die Dunkelheit. Erfahre dich zwischen beiden.“

Ich schaute auf den leuchtenden Erzengel Michael, der das Böse von sich wies, ohne es anzuschauen, und wollte mich mit ihm identifizieren. Aber schon das Nachdenken darüber, hielt sich – in meinem jetzigen Zustand – an das Chaos des Nichtverstehens. Das Ergreifen der Wahrheit im Lichte des freien Geistes gelang mir nicht. Wie sollte es auch, da ich nie wirklich gelernt hatte, mein Denken in Liebe selbst zu tragen – mich selbst in Liebe zu tragen.

„Können wir wieder gehen?“ fragte ich den Mönch.

„Ja“, sagte er, „gewiss. Aber beendet ist unser Weg noch nicht. Denn eines musst du noch verstehen, Johannes: Das Gesicht des Dunklen zeigt dich dir selbst, wie du in Gefahr bist zu werden, wenn du das Göttliche in dir nicht ergreifst. Siehst du, das Gesicht des Menschen ist ja von Grund auf etwas so schönes, Durchgeistigtes und Göttliches, dass wir es uns erst erringen müssen, um es zu besitzen. Lassen wir es fallen, verliert es die Göttlichkeit und zeigt uns den, der dem Göttlichen Feind ist. Das Gesicht selbst ist dann – wenn es so dunkel geworden ist – wie ein Fluch und spricht ihn auch aus. Werde Mensch, Johannes. Orientiere dich hier an dem Gesicht des Michael, das vor Gott steht und sein Spiegel ist. Lerne dich im Licht erkennen, lerne die Welt erkennen, nicht für deinen Selbstgenuss, sondern nur um ihr in Liebe zu dienen. Durchgeistigte dich und dein Gesicht, sonst wirst du es verlieren.“

„Wie mache ich das?"

„Frage die Welt, die Natur, die Sonne, die Sterne und das Leben nach den Geheimnissen, die sie dir mitteilen wollen – und lerne zu lauschen und in Seelenruhe und liebevollem Interesse zu schauen. Und dann denke und fühle das Gehörte und Gesehene aus eigener Kraft noch einmal in deinem eigenen Herzen nach. Mache dir deine eigenen und lebendigen Vorstellungen von der Natur. Reflektiere auf das Erlebte – bewusst. Lass dich nicht denken, denke dich selbst als Wahrnehmender. Das ist die erste Übung. Und denke jeden Abend und jeden Morgen meditativ folgenden Gedanken: Ich erkenne mich im Licht.“

„Warum soll ich das tun?“

„Weil du dein Denken nicht dem Fremden geben darfst.“

„Tue ich das?“

„Ja.“

„Und wenn ich mir immer wiederhole: Ich erkenne mich im Licht, tue ich das nicht mehr?“

„Nein, aber schau: So, wie Michael hier das Eisenschwert dem Schwefeldunst des Bösen entgegenhält, so musst du das Eisen in deinem Blut als deine unverwüstliche Selbstheit empfinden und sie dem eigenen inneren Chaos entgegenhalten, der dich in deinem Denken verwirren will. Dann bleibst du in deinem Denken du selbst und kannst sagen: Ich erkenne mich im Licht. Dann hast du die Kraft dich im Lichte deines Denkens auf dich selbst zu berufen und unterliegst keiner fremden Macht. Das Eisen in deinem Blut macht dich frei und stützt dein Denken im Licht.“

„Darüber muss ich nachdenken“, sagte ich und war müde im Kopf.

„Richtig“, bestätigte er mit einem Lächeln. Aber es ist erst der Anfang. Denke jeden Tag wenigstens fünf Minuten an den Satz: Ich erkenne mich im Licht.“

Daraufhin verließen wir die Kapelle, ohne in sie eingetreten zu sein, und Bruder Aurelius führte mich in den Innenhof des Klosters. Dort gab er mir eine letzte Unterweisung, bevor er mich entließ. Er sagte:

„Johannes, denke abends deinen Tag zurück. Immer wenn du zu Bett gegangen bist, musst du dir vorstellen, dass du dir rückwärts zuschaust, wie du zu deinem Bett gekommen bist. Du musst also von dem Moment angefangen, wo du dich hingelegt hast, Schritt für Schritt, rückwärts gehend, den Tag zurückdenken, bis du am Morgen – wo du aufgestanden bist – wieder angekommen bist. Also: Du siehst den Moment, wo du dich ausgezogen hast so, dass du dich jetzt wieder anziehst. Dann siehst du dich ins Bad gehen, wo du dir die Zähne geputzt hast – und so bis zum Morgen fort. Solltest du darüber einschlafen, so macht das nichts. Wichtig ist nur, dass du die Kraft aufbringst, das zu wollen.

Und dann – wie ich sagte – denke wenigstens fünf Minuten jeden Tag an die Augen des Michael, mit den Worten: Ich erkenne mich im Licht – und bedenke, wie er nicht auf das Böse, auf Krankheit und Leid, sondern nach vorne in die Zukunft schaut, und stelle dir vor, dass du dich selbst in diesem Sinne trägst.“

Ich versprach ihm, dass ich mir Mühe geben wolle, und so verabschiedeten wir uns.

Demenz

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