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Im Stadtkrankenhaus

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Am nächsten Morgen, kaum habe ich mich erhoben, geht das Telefon. Ulli ist dran und bittet mich sofort ins Krankenhaus zu kommen. Er klingt sehr, sehr aufgeregt.

Ich mache mir große Sorgen und stürme sofort los. Aber es ist gar nicht so einfach ins Krankenhaus zu gelangen, wie es am Abend vorher noch schien. Am Empfang verlangt man meinen Ausweis - zum Glück in diesem Falle nicht den Spenderausweis, denn man nimmt wohl an, dass ich diesen selbstverständlich habe. Dann muss ich durch eine Sicherheitsschleuse und einen Desinfektionsbereich. Als ich frage, warum ich das am Abend vorher nicht gebraucht habe, gibt man mir zur Antwort, dass ich am Abend vorher nur im Vorraum des Krankenhauses gewesen sei und der innere Bereich nur über diese Schleusen zu erreichen sei. Also bewege ich mich nach den Anleitungen weiter durchs Haus und stehe endlich vor dem Zimmer, in dem Elena sich jetzt befinden soll.

Ich klopfe, aber niemand rührt sich. Ich klopfe lauter - immer noch keine Antwort. Da betätige ich den Schalter zum Öffnen der Tür und trete ein. Elena liegt auf einer Liege und ist an viele Schläuche angeschlossen. Mein erster Gedanke ist, dass das der Aufwachraum sei, und sie frisch aus der OP komme. Aber dann klärt sich das Bild, als Ulli ins Zimmer tritt. Allerdings klärt es sich nicht, sondern es verdunkelt sich. Ulli ist außer sich: „Widar“, sagt er mit dumpfer Stimme. „Die Ärzte haben bei Elena eine Hirnblutung festgestellt. Die soll sie sich beim Sturz vom Pferd zugezogen haben.“

Ich bin erschrocken. Und Ulli fährt fort: „Jetzt haben sie am Arm noch gar nichts gemacht, und wollen erst den Kopf genauer untersuchen. Mir ist ganz schlecht. Was soll denn das bedeuten. Sie war doch gestern Abend noch ganz klar.“ Ratlos sehe ich Ulli an und schaue mich dann im Zimmer um. Es ist einfach und sauber eingerichtet. Eine Krankenliege mit einer Beatmungsapparatur, ein Fenster mit sauberen, hellen Gardinen, ein heller Holztisch und zwei Multifunktionsbildschirme an der Wand. Kleiderhaken, Besucherstühle und ein Kleiderschrank. Aber nichts deutet darauf hin, dass man hier schnell eingreifen könnte, um Leben zu retten. Das irritiert mich und ich schaue auf Elena. Sie atmet ruhig und entspannt und die Schläuche in ihrem Mund und an ihren Armen scheinen gar nicht wirklich zu ihr zu gehören. Man hat das Gefühl, als wären sie aufgesetzt. Und da ist noch etwas. Eine Empfindung, die mich anweht, wie ein Hilferuf. Es ist unheimlich, diese Ruhe, diese gleichmäßige ruhige Atmung eines Menschen, der scheinbar im Koma liegt und mit dem man sich am Tage vorher noch unterhalten hat. Alles in mir wehrt sich gegen diesen Eindruck. Und dann, plötzlich ist sie da, die Gewissheit, dass Elena gerufen hat. Ihre Seele ruft in die meine hinein. Ich höre es. Aber ich habe noch nicht den Mut es zu verstehen.

Da unterbricht mich Ulli in meinen Betrachtungen. Er hält mein Schweigen nicht mehr aus, und bittet mich, ihm meinen Eindruck zu schildern. Er ist verzweifelt, denn auch er spürt das Ungewöhnliche und weiß nicht, wie er es einordnen soll. „Sag mir, was Du denkst“, ermuntert er mich. Und ganz spontan, als käme es nicht aus meinem Munde, sage ich: „Da stimmt etwas nicht.“ „Ja genau“, stößt er hervor, „da stimmt was nicht.“

In diesem Moment kommt seine Frau Angela mit einem Arzt ins Zimmer. Sie ist leichenblass und irritiert. Der Arzt hingegen macht einen nüchternen und routinierten Eindruck. Er ist in Weiß gekleidet, mittelgroß mit dunklen Augen, fast schwarzem, kurzem Haar und einem Dreitage-Bart. Er versucht höflich zu sein und macht es doch damit nur noch schlimmer, denn durch ihn bekommt man den Eindruck, hier geschähe überhaupt nichts Ungewöhnliches. Und tatsächlich versucht er auch, die Situation zu seinen Gunsten zu gestalten. „Es tut mir wirklich leid“, wiederholt er der Mutter des Kindes. „Aber ich denke, Sie können froh sein, dass Ihre Tochter rechtzeitig zu uns gekommen ist. Mit dieser Blutung im Gehirn hätte sonst das Schlimmste passieren können.“ „Wie schlimm ist es denn?“ fragt Ulli. „Tja“, sagt der Arzt, und kratzt sich verlegen am Kopf. „Wer weiß das so ganz genau. Wir haben ihr auf jeden Fall ein blutstillendes Mittel gegeben und hoffen, dass sich die Gefäße im Gehirn schließen. Mit einem Laser wollten wir noch nicht dran.“

„Haben Sie sie in Narkose versetzt, oder ist sie von alleine ins Koma gefallen?“, frage ich. „Sie muss heute Morgen ganz früh ins Koma gefallen sein. Denn als der Alarm anging und die Schwester hereinkam, war sie schon nicht mehr bei Bewusstsein. Wir haben sie dann gleich intubiert und beatmet. Dann haben wir die Eltern informiert“, war seine Antwort. „Und wann sollte sie operiert werden?" „Eigentlich jetzt“, sagt er. „Aber nun müssen wir erst einmal abwarten, ob die Blutung zum Stillstand kommt.“ „Und wie kontrollieren Sie das?“ Da lächelt er zum ersten Mal, deutet auf die zwei Bildschirme und sagt: „Das haben wir alles im Blick.“ „Und was können wir jetzt machen?“ fragt ihn die Mutter nervös. „Gar nichts“, antwortet er. Sie sollten jetzt nach Hause gehen und darauf vertrauen, dass Ihre Tochter in guten Händen ist. Wir informieren Sie, wenn sich an ihrem Zustand etwas ändert. Also entschuldigen Sie mich jetzt. Ich habe noch andere Patienten.“ Mit diesen Worten lässt er uns stehen und schließt die Tür hinter sich.

Angela eilt zum Bett ihrer Tochter und streicht liebevoll über ihre Wangen. Dann nimmt sie ihre Hand in die ihre und scheint fest entschlossen zu sein dort sitzen zu bleiben, bis sie erwacht.

Ich gehe zum Bett und schaue mir das Mädchen genauer an. Ulli folgt mir. Und dann spreche ich sie an: „Elena!“, rufe ich. „Elena hörst Du mich?“ Aber sie regt sich nicht. Ich versuche es noch einmal und noch einmal, bis Ulli mir bedeutet es nicht mehr zu versuchen, weil sie mich ja doch nicht hören könne. Gleichzeitig fragt er mich: „Was hast Du gemeint, was stimmt hier nicht.“ „Sie atmet alleine“, sage ich. „Sie wird gar nicht beatmet.“ „Wie meinst Du das?“ fragt mich Angela erstaunt. „Ich meine, dass sie vielleicht gar nicht bewusstlos ist, sondern nur ein starkes Betäubungsmittel bekommen hat.“ „Du meinst, sie schläft nur?“ Ulli ist ganz nahe herbeigekommen und hält sein Ohr an ihren Mund. „Ja“, sagt er, „sie atmet selbst. Die Luft geht gar nicht durch den Schlauch.“ Als ich den Schlauch, der in ihren Mund führt, berühre, merke ich, dass er recht hat. Denn der Schlauch ist lose und sitzt gar nicht tief im Hals. Ich ziehe ihn vorsichtig heraus.

In diesem Moment fliegt die Tür auf und drei wütende Personen kommen fast rennend ins Zimmer. Sie fliegen auf das Bett zu und stoßen uns beiseite.

„Was machen Sie denn da!“ brüllt die eine Person.“ „Sind Sie wahnsinnig? Wollen Sie das Kind umbringen? Nachher schadet das noch ihren Organen“, sagt eine andere Person unvorsichtig, und mir läuft es kalt den Rücken herab. Dann stopfen sie ihr den Schlauch wieder in den Hals und scheuchen uns vom Bett weg.

Und da kommt auch schon der Arzt hinterher geeilt und bittet uns sofort das Zimmer zu verlassen. Aber nicht etwa freundlich, sondern er befielt es uns, nein, er schmeißt uns raus. Und wir sind so überrumpelt, dass wir auch tatsächlich vor der Tür landen. Doch dann besinnen wir uns, und wollen zurück ins Zimmer, aber die Tür ist verschlossen und lässt sich auch mit Gewalt nicht mehr öffnen. Angela schreit und trommelt mit ihren Fäusten gegen die Tür. Sie ruft den Namen Ihrer Tochter und, dass man ihr die Türe öffnen solle. Ich versuche den Arzt zu packen, um ihn zu zwingen die Tür zu öffnen, aber er entwindet sich mir und ist im Nu verschwunden. Stattdessen erscheint das Wachpersonal des Krankenhauses und nimmt uns in den Sicherheitsgriff. Ulli, der sich einen von den Pflegern geschnappt hatte und dabei ist ihn zum Öffnen der Tür zu zwingen, wird von den Männern auf den Boden geworfen und mit Handschellen fixiert. Die Situation ist außer Kontrolle. „Ich will einen Anwalt sprechen“, rufe ich endlich.

Das wirkt. Irgendwie werden alle ruhiger, und die Wachmänner übergeben uns der Polizei, die gerufen wurde und soeben eintrifft. „Bitte kommen Sie mit auf die Wache“, sagt der Chef der Polizisten, freundlich, aber sehr bestimmt. Er hat ein etwas grobes Gesicht, scheint aber durchaus ansprechbar zu sein. Wir wehren uns jetzt auch nicht mehr, weil wir hoffen mit den Polizisten sprechen zu können.

Angela redet gleich flehend und ununterbrochen auf sie ein. Und ich überlege mir eine Strategie. Als wir im Polizeigebäude eintreffen, haben wir uns soweit beruhigt, dass man uns die Handschellen abnimmt. Da sehe ich im Vorraum auf einer Bank den kleinen Mann aus dem Lokal sitzen, der der Kellnerin unter den Rock geschaut haben soll. Ob er es nun hat oder nicht, ist mir eigentlich egal. Egal ist es mir aber nicht, dass er sofort auf mich losstürmt, als er mich sieht. Dabei war er gerade noch in ein hitziges Gespräch mit einer neben ihm sitzenden Dame verwickelt. Aber jetzt stürmt er auf mich zu und ruft: „Der ist es, der war dabei. Hey“, dabei zupft er mich am Ärmel meiner Jacke. „Sie haben das doch gesehen, mit der Giraffe.“ „Nein“, sage ich, indem ich mich aus seinem Griff befreie. „Ich habe nichts gesehen, nur gehört.“ „Meine Güte“, fährt er fort, „Sie müssen doch gesehen haben, dass ich ihr nicht unter den Rock geguckt habe.“ „Nein, sage ich“, „es tut mir leid, dafür bin ich zu spät dazugekommen. Als ich gekommen bin, waren Sie schon mitten in der Diskussion. Außerdem haben Sie doch ihr Höschen erkannt.“ „Das war Zufall, unglaublicher Zufall, das war wie ein Sechser im Lotto. Ich habe doch nur geraten.“ Er funkelt mich durch seine Brillengläser an und schnäuzt sich seine etwas zu große Nase. „Ich schaue einer Dame doch nicht unter den Rock. Ich bin Arzt. Das war alles ein Spaß. Aber ein Hausverbot habe ich nicht verdient. Ich habe immer so‘n Glück im Raten.“ „Oder Pech“, korrigiere ich ihn. „Oder Pech“, wiederholt er und schaut verschmitzt. Dann sagt er lakonisch: „Der Humor ist heute auch nicht mehr das, was er mal war“, und geht zurück auf seinen Platz neben der Dame.

Ich folge dem Beamten zum Schalter. Ulli und Angela sind schon da. Er gibt uns drei Formulare und bittet uns, diese erst einmal auszufüllen. Dazu setzen wir uns an einen kleinen Tisch, der direkt neben der Bank steht, auf der der kleine Mann neben der Dame sitzt. Als Ulli und Angela diese Dame bemerken, eilen sie auf sie zu und Ulli spricht sie überrascht an: „Frau Kaupmann, was machen Sie denn hier? Wissen Sie, was mit Elena geschehen ist?“ Frau Kaupmann wirkt etwas verlegen. „Ja“, sagt sie, sie hat sich den Arm gebrochen, dass wissen wir doch. Wie geht es ihr denn.“ „Das ist die Reitlehrerin“, klärt Angela mich leise auf. Und dann sagt sie zu ihr: „Sie hat eine Hirnblutung bekommen, und liegt im Koma.“ Die Reitlehrerin erschrickt. „Das kann doch gar nicht sein. Sie ist doch nur auf den Arm gefallen. Und als sie nach Hause gebracht wurde, war sie ganz klar, und hat auch nicht über Kopfweh geklagt.“ „Können Sie das bezeugen“, frage ich schnell. „Ja“, sagt sie, „das kann ich bezeugen.“

„Elena hat gesagt, dass Sie das extra gemacht hätten, mit dem Sturz“, wirft Angela ihr vor. Frau Kaupmann aber ist entrüstet. „Extra gemacht? Wie denn.“ „Indem Sie ihr befohlen hätten, die Peitsche zu nehmen. „Ja, das macht man so, wenn das Pferd springen soll.“ „Aber nicht, wenn man weiß, dass das Kind dann runterfallen wird.“ „Das konnte ich nicht wissen. Sie wollte springen, und das gehört dazu“, rechtfertigt sich die Reitlehrerin. „Und was wird jetzt mit ihr.“ „Wir wissen es noch nicht“, sagt Ulli. „Aber warum sind Sie denn hier, Frau Kaupmann?“ „Ich brauche eine Bluttransfusion“, sagt die Reitlehrerin etwas kleinlaut, „und das Krankenhaus verweigert sie mir, obwohl man es mir versprochen hatte.“

„Lassen Sie mich raten“, sagt plötzlich der kleine Mann. „Man hat Sie bestochen.“ „Wie bitte?“ entrüstet sich Frau Kaupmann. „Ja, bestochen um die Transfusion zu erhalten und nun hält man das Versprechen nicht ein – nicht wahr?“ „Man hat mich doch nicht bestochen.“ Sagt die Reitlehrerin scharf und wird ganz blass.

Ich schaue den kleinen Mann überrascht an. War das nun Zufall, Intuition, oder einfach nur Frechheit. Wahrscheinlich errät er jetzt auch meine Gedanken, also wende ich mich schnell zum Tisch und fülle die Formulare aus.

Das Gedächtnis der Organe

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