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Der Tauben-Alfons

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Aber anstatt nach Hause zu gehe, wende ich meine Schritte dann doch noch in die Niederstadt. Denn es ist mir eingefallen, dass ich mich schon lange nicht mehr um Opa Alfons gekümmert habe. Opa Alfons ist einhundertundfünf Jahre alt, lebt alleine und vergisst oftmals, dass der Mensch auch noch etwas essen muss. Sein einziges Interesse gilt seinen Tauben, die er in vielen kleinen Verschlägen hält und damit seine Nachbarn zur Weißglut bringt. Ich denke, ich schaue einfach mal, ob er heute schon etwas gegessen hat, dann kann ich selber ruhiger schlafen.

Zur Niederstadt kommt man durch eine kleine Gasse, die für Uneingeweihte nichts Auffälliges hat. Zwar gibt es auch noch andere, breitere Wege in die Niederstadt, doch dafür müsste man erst aus der City und der Stadt heraus, um dann von einer ganz anderen Seite wiederum zurückzukommen. Von der City zur Niederstadt gibt es nur diesen einen Weg. Ich kenne ihn gut, ich bin ihn schon oft gegangen. Aber heute Abend geschieht etwas wirklich Unerwartetes.

Als ich in die Gasse einbiege, um in die Niederstadt zu kommen, begegnet mir die Journalistin, die soeben aus der Niederstadt zu kommen scheint. Erstaunt bleibe ich stehen, um sie an mir vorüberzulassen, da die Gasse sehr eng gehalten ist und einer von beiden ausweichen muss. „Frau Hein“, sage ich, denn so hatte sie sich mir bei meinem Besuch im Verlagshaus vorgestellt. „Sie sind auch hier?“ Sie schaut etwas verlegen und sagt dann aber geistesgegenwärtig: „Ja, berufeshalber.“ Aber auch ich reagiere schnell und frage sie: „Darf ich die Gelegenheit nutzen, um Sie zum Essen einzuladen?“ „Warum nicht“, sagt sie. „Aber hatten Sie nicht gerade die Absicht in die Niederstadt zu gehen?“ „Ja, das hatte ich, und ich müsste dort auch vorher schnell noch etwas erledigen. Doch die Gelegenheit, Sie zu sprechen, wollte ich mir deshalb nicht entgehen lassen.“ „Darf ich Sie denn fragen, was Sie dort vorhatten?“ „Ja, das dürfen Sie. Das ist kein Geheimnis“, sage ich entgegenkommend. „Ich wollte nur schnell nach Opa Alfons schauen. Ich muss sehen, ob er heute schon etwas gegessen hat. Er vergisst es manchmal.“ Die Journalistin lehnt sich an die Mauer, als wolle sie sich festhalten und fragt: „Meinen Sie den Tauben-Alfons?“ „Ja, den meine ich.“ „Dann werden Sie es ja doch erfahren“, sagt sie, „dann muss ich es Ihnen sagen.“ „Was müssen Sie mir sagen?“ frage ich erstaunt. „Dass ich gerade bei ihm war.“ „Beim Opa Alfons?“ „Ja, wegen seiner Tauben. Aber lassen Sie mich Ihnen das in Ruhe erzählen. Gehen wir etwas essen. Der Tauben-Alfons hat heute etwas gegessen. Ich habe es gesehen, als ich eben bei ihm war.“ „Gut“, sage ich, „dann gehen wir jetzt etwas essen. Ich freue mich sehr, dass Sie zugestimmt haben.“

Frau Hein schließt sich mir an und wir suchen uns einen gemütlichen Platz in einem Restaurant, das eine große Auswahl an Speisen hat und doch nicht zu teuer ist. Es ist an einer ruhigen Straße gelegen und hat einen Blick ins Grüne. Auch wenn es nur ein Innenhof ist, so gibt dieser Blick doch eine ganz andere Atmosphäre, als wenn man immer den Verkehr vor Augen hat.

Wir setzen uns einander gegenüber an einen kleinen Tisch direkt am Fenster zum Innenhof. In ihm sind kleine Bäume, Büsche und ein paar Blumen zu sehen. Frau Hein will sich aber nur einen gemischten Salat bestellen doch ich kann sie überreden, vorher noch eine warme Suppe zu nehmen. Dann bestellen wir zweimal das Gleiche und ich bitte Frau Hein mir zu schildern, was das mit den Tauben auf sich hat. Nach kurzem Zögern sagt sie dann, dass sie sich eine weiße Taube für ihre Gesundheit besorgen wollte, und sie hätte gehört, dass der Tauben-Alfons die Besten habe. „Darf ich fragen, wofür Sie sie brauchen?“ frage ich neugierig. Da schaut sie mich eine lange Weile an, als wolle sie erst ein inneres Vertrauen aufbauen und sagt dann. „Ich habe noch nie jemandem davon erzählt, und tue es auch jetzt nur ungerne. Aber vielleicht, wenn Sie sensibel damit umgehen, hilft es Ihnen für ihren Kampf, von dem Sie mir erzählt haben. Sie dürfen nur meinen Namen nicht erwähnen.“

Ich verspreche es ihr und sie beginnt zu erzählen. „Vor längerer Zeit bin ich sehr herzkrank geworden und brauchte ein neues Organ. Und ich bekam auch eines, wollte aber nicht wissen von wem. Doch dann hatte ich eigenartige Erlebnisse. Von Zeit zu Zeit stiegen Gefühle und Gedanken in mir auf, die ich nicht kannte und die ich nicht beherrschen konnte. „Das ist das Gedächtnis der Organe“, werfe ich ein.

Sie stockt und schaut mich überrascht und fragend an. Also versuche ich ihr ganz kurz zu erklären, was ich meine, um ihre Geschichte nicht zu lange zu unterbrechen. Ich sage: „Wir schreiben ein ganzes Leben lang unsere seelischen Erlebnisse in unsere Organe hinein, denn wir sind seelisch- geistig auch mit unseren Organen verbunden, nicht nur mit unserem Kopf. Deshalb sagen wir auch, dass wir, wenn wir jemanden lieben, ihn im Herzen trage.“ „Aber“, wirft sie schnell ein, „ich liebe doch meine Angehörigen weiter, auch wenn ich ein neues Herz bekommen habe. Da kann doch die Liebe nicht im Herzen liegen.“ „Unser Herz“, erkläre ich, „fungiert wie ein Portemonnaie, in welches wir die Münzen unserer Wahrnehmungen legen. Wir nehmen den geliebten Menschen durch unsere Sinne wahr und sammeln die Münzen dieser Wahrnehmungen im Herzen. Dort erleben wir sie. Bekommen wir ein neues Herz, so ist es wie mit einem neuen Portemonnaie, in das wir dann die gewohnten Münzen hineinlegen. Aber wir müssen uns mit ihm erst wieder anfreunden und schaffen das nie ganz. Außerdem finden wir oftmals fremde Münzen in ihm und vielleicht sogar noch fremde Kreditkarten. Das sind die Münzen, die der Vorbesitzer hineingelegt hat. Diese fremden Münzen – sprich das Gedächtnis des fremden Organs – empfinden Sie jetzt.“ Frau Hein nickt zustimmend und lauscht eine Weile in ihr Inneres.

„Der Hirntod“, füge ich noch hinzu, „ist somit nicht der Tod des ganzen Menschen. Die Organe, die ihm dann entnommen werden, leben noch. Und haben auch noch ihre seelischen Erlebnisse in sich. Sie sind in ihnen und ich nenne sie ihr Gedächtnis. Dieses Gedächtnis des fremden Lebens, dieses Gedächtnis steigt zeitweilig in Ihnen auf, so vermute ich. Aber bitte fahren Sie doch fort“

Und nach kurzem Zögern fährt sie also fort. „Es wurde dann immer schlimmer, bis ich es nicht mehr ausgehalten habe und einen Geistheiler konsultierte. Denn mit diesen Dingen kennt sich ein normaler Arzt nicht aus. Und dieser Geistheiler sagte mit, dass ich in dem Moment, wo diese Empfindungen in mir auftauchen, die Leber einer weißen Taube verbrennen müsse. Dann höre der Spuk auf.“

Sie schweigt und schaut verlegen auf ihren Teller, der nur langsam leerer wird, weil sie während des Redens fast vergessen hatte, weiter zu essen. Jetzt isst sie ihren Salat zu Ende und auch ich beschäftige mich eine Weile schweigend mit dem Leeren meines Tellers. Aber dabei versuche ich herauszufinden, was der Geistheiler mit diesem Rat, den er Frau Hein gegeben hat, bezwecken wollte. Für die Menschen der Kirche ist die weiße Taube das Symbol des Heiligen Geistes. Und vielleicht sollte der Rauch der verbrannten Taubenleber den gefangenen Geist des fremden Organes vertreiben. „Wissens Sie, was er damit erreichen wollte?“ frage ich die Journalistin schließlich. „Natürlich“, antwortet sie überrascht über die Frage. „Er wollte damit erreichen, dass das aufhört.“ „Ja“, sage ich. „Aber warum meint er, dass das damit aufhöre.“ „Das weiß ich nicht. Ich vertraue ihm.“

Ich spüre, dass sie in dieser Beziehung nicht weiter ausgefragt werden will, und schwenke auf mein Thema um, das ich ja, wenn ich sie jetzt nicht getroffen hätte, morgen mit ihr hatte besprechen wollen. Jetzt hier, in dieser vertrauten Atmosphäre war das natürlich viel besser, und ich bin dem Schicksal dankbar für dieses Zusammentreffen.

Damit beginne ich auch gleich und sage: „Ich bin dem Schicksal dankbar, dass ich Sie getroffen habe, denn ich wollte morgen sowieso noch einmal zu Ihnen kommen.“ „Wegen Ihres Artikels“, fragt sie. „J-ein“, sage ich. Es ist etwas Ungewöhnliches geschehen, und ich möchte Sie bitten, darüber zu berichten.“ Sie schaut mich erwartungsvoll an, während sie an ihrem Apfelsaft nippt. Den Wein, den ich bestellen wollte, hatte sie abgelehnt, und jetzt weiß ich auch, dass das wegen ihrer Herzoperation war.

Also erzähle ich ihr: „Ich habe ein befreundetes Ehepaar, deren Tochter sich den Arm gebrochen hat und ins Krankenhaus gekommen ist. Dort hat man festgestellt, dass sie eine Hirnblutung hat, und wollte abwarten, ob man vielleicht ihre Organe gebrauchen könne. Aber jetzt hat sich herausgestellt, dass sie unter einer Narkolepsie leidet und die Gesundheit ihrer Organe damit gefährdet sein könnte. Meine Bitte ist es nun, dass Sie ganz objektiv an diesem Beispiel die Frage aufwerfen, ob der heute übliche schnelle Austausch der Organe wirklich sinnvoll ist. Oder ob es nicht besser wäre, ungeachtet der Mehrkosten, vor einer Organentnahme die Diagnoseverfahren zu erweitern.“

„Das klingt logisch“, sagt sie. „Ist das wirklich wahr, das mit der Tochter Ihres Freundes?“ „Ja“, sage ich ungeachtet der Tatsache, dass ich bewusst die Unwahrheit sage. Aber es existiert ja nun auch schon offiziell als Gerücht. Und dass Zeitungen Gerüchte veröffentlichen, ist ja nichts Ungewöhnliches, denke ich. Aber so ganz stimmt das wohl doch nicht, denn sie sagt, nach kurzem Bedenken: „Geben Sie mir einen Arzt, der mir das bestätigt, dann kann ich es bringen.“

Das war abzusehen, trotzdem bin ich erschrocken. Ob sich der kleine Mann dazu bereit erklären wird? Soll ich ihn vielleicht gleich anrufen, um ihn zu fragen? Dann könnte ich es der Frau Hein auch sofort sagen, und der kleine Mann müsste morgen nicht erst um einen Termin bitten. Ich überlege also kurz und sage dann zu der Journalistin, indem ich mein Telefon hervorhole: „Ich kann ihn gleich fragen, den Arzt, der Ihnen das bestätigen kann.“ „Wenn Sie mögen“, sagt sie, aber ich sehe, dass sie sich über meine Geschwindigkeit wundert. Trotzdem wähle ich die Nummer des kleinen Mannes und bin dankbar, als er abnimmt. „Hier ist Tanner, ihr Assistent“, sage ich scherzhaft. Ich sitze gerade mit Frau Hein vom Tagblatt zusammen und sie fragt mich, ob Sie bereit wären, ihr die Geschichte mit der unentdeckten Narkolepsie bei dem Mädchen im Krankenhaus der Stadt zu bestätigen?“ Das sage ich möglichst entspannt und locker und doch bin ich sehr beunruhigt, denn ich mag die Vorstellung nicht, dass ich den kleinen Mann jetzt vielleicht in etwas hineinziehe, das ihm schaden könnte. Aber er hatte ja die Idee und fragen muss ich ihn. Und er ist tatsächlich mutig, der kleine Mann, denn er antwortet mir, ohne zu zögern. „Ja, ja, dazu bin ich natürlich bereit. Los sagen Sie mir schon, wo ich hinkommen soll.“

„Moment“, sage ich und frage die Journalistin, wann sie den Arzt empfangen könne. „Von mir aus gleich morgen.“ „Geht es morgen?“ frage ich ins Telefon. „Ja“, sagt er, „aber nicht vor 10 Uhr.“ Das gebe ich so an Frau Hein weiter und sie ist mit 10 Uhr einverstanden. Also wird das abgemacht und ich bin erleichtert, behalte aber doch eine Unruhe in mir, weil ich ahne, dass dieser Schuss auch nach hinten losgehen kann.

Nachdem das erledigt ist, fragt mich Frau Hein, jetzt etwas privater als bisher: „Haben Sie Kinder?“ „Ja“, sage ich, „zwei, aber die sind schon groß. Sie sind 22 und 24 Jahre alt. Ein Sohn und eine Tochter.“ „Und wie ich Sie einschätze, haben Sie wahrscheinlich keine gesundheitlichen Probleme mit ihnen gehabt“, sagt sie. Das bestätige ich und sie fährt fort: „Dann sind Sie von Gott gesegnet, denn das gibt es im Allgemeinen gar nicht mehr. Ich habe viele gesundheitliche Probleme mit meinen Kindern gehabt. Und das ist auch der Grund, warum ich auf Ihre Einladung eingegangen bin. Denn eigentlich mache ich das nicht. In Ihrem Fall habe ich es aber gemacht, weil ich Ihnen eine persönliche Frage stellen wollte. Ich wollte es schon, als Sie heute Mittag bei mir im Verlagsgebäude waren, aber ich habe mich nicht getraut.“

Ich wundere mich über ihre Ehrlichkeit und plötzliche Offenheit und höre ihr voller Anteilnahme weiter zu. „Aber jetzt, hier, jetzt will ich es tun“, fährt sie fort. Ich schaue sie interessiert und höflich an, um nicht zu neugierig zu erscheinen und um ihre Entscheidung nicht zu beeinflussen. „Können Sie sich vorstellen ewig zu leben?“ „Hier auf Erden“, frage ich zurück. „Ja, erst einmal hier auf Erden.“ Das war also ihre Frage und ich bin erstaunt, denn ich habe etwas ganz Intimes erwartet. Aber ich ahne ja in diesem Moment noch nicht, wie intim ihr diese Frage ist. Also antworte ich erst einmal so, wie ich es auf so eine Frage im Sinne meiner Weltanschauung zu antworten gewohnt bin. Ich sage: „Das ist eine sehr aktuelle und sehr wichtige Frage, Frau Hein. Zumal wir heute mit allen Mitteln versuchen, das ewige Leben auf Erden zu erlangen. Aber ein ewiges Leben auf der Erde wäre etwas Schreckliches. Stellen Sie sich doch nur einmal ein ewiges Leben auf Erden vor: ewig die gleiche Umwelt, ewig das gleiche Wasser, ewig die irdischen Bäume, Wiesen und Felder – wenn wir das Ganze nicht irgendwann selbst zugrunde gerichtet haben –, ewig die gleichen Menschen, Tiere und Pflanzen, den Kaffee morgens und das Käsebrot abends. Ewig, ewig alles ewig. Es gibt kein Ende, keinen Ausweg keine Möglichkeit der Flucht, keine Weiterentwicklung in eine andere Sphäre. Es gibt nur Stillstand, Stillstand in der Zeit. Ist das nicht ein grauenvoller Gedanke?“ Sie nickt und sagt dann: „Also glauben Sie nicht an das ewige Leben auf der Erde?“ „Nein.“ „Und an ein ewiges Leben im Geiste mit der Möglichkeit der Reinkarnation?“ „Ja“, sage ich, „daran glaube ich. „Ich frage das“, fährt sie fort, „weil ich da ein eigenartiges Erlebnis hatte. Und das hängt mit meinen Kindern zusammen. Meine Älteste ist jetzt dreißig Jahre alt. Aber als sie drei Jahre alt war, wurde sie einmal sehr krank. Sie hatte enorm hohes Fieber und fantasierte – so glaubte ich damals. Aber nach dem, was ich dann erlebte, muss ich an diesem Glauben zweifeln und muss heute denken, dass sie wahr gesprochen hat.“ „Sie haben mich neugierig gemacht“, sage ich. Sie schaut mich an, als wolle sie ergründen, ob ich sie für verrückt halte.

Aber ich bin nur neugierig interessiert, und so fährt sie fort zu erzählen: „Damals erzählte meine Tochter wie im Fiebertraum, dass ich einmal ein neues Herz bekommen würde von einem Menschen, den sie kenne. Und ich würde es ihm ohne seine Zustimmung nehmen. Dabei zuckte, schrie und wehrte sie sich heftig. Sie hat es mir natürlich nicht so schön geordnet erzählt, sondern ich musste es mir aus ihren wirren Äußerungen kombinieren. Aber ich entnahm ihren Äußerungen, dass sie schon einmal auf Erden gelebt hat und andere Menschen kannte. Und dass sie jetzt nicht neu geboren wurde, sondern wiedergeboren wurde. Halten Sie das für möglich? – Sagen Sie noch nichts, hören Sie erst weiter. Ich hatte es dann auch bald wieder vergessen. Doch jetzt, da ich von einem unbekannten, 20 Jahre jungen Mann, ein Herz bekam, habe ich mich wieder daran erinnert. Und jetzt frage ich Sie: Kann es sein, dass sie recht hatte, und kann es sein, dass mir der 20 Jährige sein Herz gar nicht hat geben wollen?“

„Nun“, sage ich, „wir haben ja heute Spendenzwang. Und nicht jeder ist wirklich damit einverstanden. Das ist das eine. Das andere ist die Frage nach den wiederholten Erdenleben. Ich glaube schon, dass wir nicht nur einmal leben, und dass es Menschen gibt, die sich daran erinnern. Vor allem kleine Kinder entwickeln oftmals eine Art Erinnerung an ihr letztes Leben, die allerdings später wieder verloren geht. Ich habe das bei meinen Kindern erlebt.“ „Das kann ich alles nicht verstehen“, sagt die Journalistin fast etwas verzweifelt. „Ich weiß nur, dass ich so ein eigenartiges Gefühl habe und das Herz, das ich jetzt habe, am liebsten wieder zurückgeben würde. Warum habe ich nicht den Mut gehabt zu sterben.“ Sie schweigt und ich bin tief erschüttert. Solch eine radikal mutige Aussage habe ich nicht erwartet. Und da kommt auch schon die nächste erstaunliche Überlegung aus ihrem Munde: „Wenn ich gewusst hätte, dass ich wiederkomme, so hätte ich auch keine Angst vor dem Abschied gehabt.“

Danach ist es eine Weile still. Nur der Kellner, der ab und zu vorübereilt, stört die Ruhe. Ich bin erstaunt über ihre Worte, und sie ist erschrocken über sie. Nach einer Weile der Rücksicht vor der besonderen Bedeutung dieses Momentes sage ich vorsichtig: „Glauben Sie, dass Sie in einem nächsten Leben einen gesünderen Körper haben würden?“ Und spontan antwortet sie: „Ich würde es mir wünschen.“ „Und ich bin überzeugt, dass es so ist“, sage ich. „Sie glauben daran, nicht wahr?“ „Ja.“ „Danke“, sagt sie, „das wollte ich hören. Das nächste Mal nehme ich kein fremdes Herz, denn es ist besser tot zu sein, als mit dieser Belastung zu leben.“ Und dann fügt sie wie scherzhaft und über sich selbst lachend hinzu: „Und wenn ich wiederkomme, brauche ich ja auch keine Angst vor dem Tode zu haben.“ Damit scheint sie dieses Thema für sich - auf jeden Fall für heute Abend - abgeschlossen zu haben. Aber ich bin zu tiefst erschüttert, denn in den Äußerungen dieser verzweifelten Frau spiegelt sich mir die ganze Sehnsucht der heutigen Gesellschaft. Man möchte sich als bleibend empfinden und erlebt sich doch nur im Tod der menschlichen Organe. Das Bleibende ist nur im Geiste zu finden.

Aber nun sind wir im Laufe dieses Gespräches an einem Punkt angelangt, wo jedes weitere Wort zu viel wäre. Wir empfinden das beide und entschließen uns zu gehen. Ich begleite Frau Hein noch ein Stück des Weges und verabschiede mich dann von ihr.

Kurz vor meinem Zuhause schleiche ich mich in einen Innenhof, der rings herum von sehr hohen Gebäuden umgeben ist und wo man trotz der vielen Lichter in den Fenstern noch die Sterne sehen kann. Bei klarem Himmel gehe ich gerne nachts hier hinein, denn der Blick auf die Sterne tut mir gut. Es ist wie ein Tunnel, durch den man ins Weltall schaut.

Manchmal, wie heute, sind auch einzelne Planeten zu sehen. Dabei vergesse ich das Treiben der Menschen und der Anblick der Lichter des Himmels, die für mich nicht mit den Erdenlichtern zu vergleichen sind, tut mir gut. Sie strahlen eine Ruhe und Größe aus, die mich immer wieder gegenüber dem Wunder des Lebens bescheiden werden lässt. Es gibt Geheimnisse, die wir nicht kennen. Dabei gibt es heute, neben der großartigen Technik, die sich sogar das Weltall erobert hat, auch eine Gruppe von Menschen, die behaupten, dass sie die Geister der Sterne sehen. Und zwischen beiden Gruppen herrscht ein unüberbrückbarer Abgrund, obgleich sich die Anhänger der Sternengeister den heutigen gesellschaftlichen Regeln fügen müssen. Aber ihr Glaube ist davon unabhängig und hat auch nichts mit der Suche nach außerirdischem Leben zu tun, das man auch heute noch nicht gefunden hat.

So schaue ich in den Himmel, vergesse die Lichter der Erde und sehe den hellen Jupiter im Stier, nahe dem Stern Aldebaran. Ob wir wirklich von dort kommen? Ob wir vor und nach unserer Geburt durch diese Welten gehen?

Die Gruppe der Sternengeist-Gläubigen behauptet das. Sie sagen sogar, dass wir uns den Bauplan und die Kräfte unserer inneren Organe von dorther mitbringen. Für mich ist das durchaus ein angenehmer Gedanke. Ein Gedanke, der mir die planetenbezogene Verbindung meiner Organe ahnen lässt und mich davor zurückhält, gottgewollte fremde Organe zu den meinen zu machen.

Diese Menschen bringen die Sonne mit dem Herzen, die Venus mit den Nieren, die Leber mit dem Jupiter, die Galle mit dem Mars, die Lungen mit dem Merkur, die Milz mit dem Saturn und die Fortpflanzungsorgane mit dem Mond zusammen. Wenn ich neue Organe will, so denke ich mir dann, muss ich also nach da oben gehen.

Da höre ich Menschen kommen und gehe nun endgültig nach Hause. Der Tag war lang und aufregend genug.

Das Gedächtnis der Organe

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