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Der Weg an die Öffentlichkeit

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Als ich das Polizeigebäude verlasse, regnet es und es ist bereits Mittag geworden. Viele Menschen sind unterwegs und erledigen ihre Einkäufe. Andere sitzen unter den geheizten Vordächern der Lokale und nehmen etwas zu sich. Aber von den Vorübereilenden scheint keiner den anderen wahrzunehmen, denn sie haben entweder Musik auf den Ohren, einen Bildschirm in der Hand oder Einkaufssäcke am Arm. An jeder Straßenecke steht eine unauffällige Kamera, die nicht nur die Gegend im Blick hat, sondern auch die Gesichter erkennt. Aber das stört niemanden. Im Gegenteil; dadurch fühlen sich die Menschen sicher und geborgen an der Hand des Gesetzes. Mich stören sie, obgleich man vor nicht all zu langer Zeit die scharfen Überwachungsmaßnahmen gelockert hat. Außerdem hat das Gericht vor Kurzem verfügt, dass nicht mehr automatisch auf die Gesundheit und damit auch auf die Organe der Menschen zugegriffen werden darf, sondern dass jeder mit seinem Spenderausweis eine freie Entscheidung behalten solle – natürlich nur zum Schein. Denn an der Tatsache des Spendenzwanges ändert sich dadurch nichts. Wobei es im Allgemeinen gar keinen Zwang braucht, da sich die Menschen sowieso nichts anderes mehr vorstellen können. Die Angst vor dem eigenen Tod ist so groß, dass man alles in Kauf nehmen würde, um an die Organe der anderen Menschen zu kommen. Und auch der eigene Körper ist – nach der allgemeinen Meinung – nach dem Tode sinnlos und darf zum Wohle der Gemeinschaft ausgeschlachtet werden.

Ich orientiere mich kurz und wende mich dann nach Norden in die Richtung, in der ich das Verlagsgebäude der Stadt vermute. Ich war noch nie dort, kenne aber den Namen der Straße, in der es zu finden ist.

Nachdem ich ein paar Straßen überquert habe, zweimal von unachtsamen Menschen angerempelt wurde und einmal schnell an einem kleinen Imbissstand etwas zu mit genommen habe, erreiche ich das angestrebte Gebäude. Es ist ein hohes altes Haus, so wie man früher gebaut hat, und mein Urgroßvater es bestimmt noch kannte. Man nannte es damals einen Ziegelbau. Zwar ist es schon einige Male modernisiert worden, hat aber noch seine altertümliche Ausstrahlung behalten.

Ich betrete es durch den Haupteingang und stehe vor einem Glaskasten, aus dem heraus mich eine Empfangsdame neugierig anschaut. Hier ist es noch so. In anderen Häusern wird man von einem Roboter oder gar nicht empfangen. Und trotzdem: Dieser moderne Glaskasten hier passt nicht zu dem alten Haus. Um den neugierigen Blick der Empfangsdame aber nicht länger zu quälen, nenne ich ihr meinen Namen und bitte sie mich zu einem Verleger durch zu schicken. Aber nur durch einen kleinen Hinweis auf meinen Urgroßvater werde ich weitergeleitet.

Dann stehe ich vor einer Dame, die die Geschicke dieses Hauses lenkt. Sie ist nicht mehr ganz jung, etwas jünger vielleicht als ich und macht sofort einen außerordentlich sympathischen Eindruck auf mich. Ebenso muss es ihr gehen, denn sie erhebt sich, um mich zu begrüßen und dafür kommt sie extra um den Schreibtisch herum nach vorne und auf mich zu. Ich bin mir sicher, dass das sonst nicht üblich ist, und auch nichts mit meiner Verwandtschaft zu tun hat. Als sie sich wieder gesetzt hat, bittet sie mich auch mich zu setzten und ihr von meinem Anliegen zu erzählen.

Ich sage ihr, dass ich mich entschlossen habe, angesichts der heutigen problematischen Gesundheitslage der Menschen, mit Forschungsergebnissen meines Urgroßvaters Prof. Dr. Dr. Wilfried Darbens an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich sage ihr aber nichts von meiner gegenwärtigen Situation, und auch nichts davon, wie kritisch ich selbst der gegenwärtigen Praxis der Organspende gegenüber denke, sondern berufe mich ganz auf mein wissenschaftliches Verantwortungsgefühl der Menschheit gegenüber.

Sie hört mir interessiert zu und bittet mich dann, ihr noch genauer zu beschreiben, was der Inhalt meines Artikels sein solle und ob ich an regelmäßige Artikel gedacht hätte.

Ich sage Ihr, dass sich der Inhalt um die Frage drehe, ob der Mensch sich auf den heutigen Stand der Zivilisation hätte erheben können, wenn er als Neandertaler schon die Möglichkeit gehabt hätte, Organe zu tauschen.

Sie schaut mich groß und ungläubig an. Aber auch skeptisch, als überlege sie, ob dieses Thema für ihre Zeitschrift wirklich geeignet sei oder vielleicht nur Schaden anrichte: „Können Sie mir das präzisieren?“ bittet sie mich. „Durchaus“, sage ich: Prof. Dr. Dr. Darben ist in seinen Untersuchungen zu der interessanten These gekommen, dass die Entwicklung einer Spezies stehen bleibe, wenn sie sich fremde Organe anzieht. Er sagte, dass das die Entwicklung hemme, wie unpassende Schuhe das gesunde Gehen hemmen. Denn er war der Ansicht, dass die Organe des Menschen mit seiner inneren Entwicklung fortschreiten, um sich im Laufe der Jahrhunderte zu veredeln. Man sähe das ja schon daran, dass ein Neandertaler die Nahrung des heutigen Menschen niemals vertragen könne. Aber auch die geistige Entwicklung ginge damit einher. Und der Mensch hätte die heutige Höhe nie erreicht, wenn er seine inneren Organe nicht immer schön bei sich gehalten hätte. An jedes fremde Schuhwerk hätte er sich - im übertragenen Sinne - immer wieder neu gewöhnen müssen und seine freie Weiterentwicklung hätte darunter gelitten. Und das Resultat wäre dann ein Verkümmern der Menschheit bis hin zu einer künftigen Unbrauchbarkeit der Organe.

„Ich weiß nicht, ob unsere Gesellschaft dafür reif ist“, überlegt die Journalistin. „Das will niemand hören.“ „Sie wollen es nicht bringen?“ frage ich enttäuscht. „Ich bin unsicher“, sagt sie. „Wir sind die größte Zeitung des Landes. Das gibt einen Aufschrei. Denn das hieße ja, die heutigen Menschen als degeneriert darzustellen.“ „Das kommt doch drauf an, wie wir es darstellen“, werfe ich ein. „Ja, das kommt darauf an“, sagt sie langsam und bedächtig, und ihre Gedanken gehen spazieren.

Ich sitze eine ganze Weile und schaue sie an, während sie in Gedanken weit weg ist. Sie ist sehr hübsch für die gegenwärtigen Verhältnisse, obgleich sie nicht zu unserer Gruppe von Menschen gehört. Aber sie hat eine Aura, die hell und offen ist. Ihr Haar hat sie hochgesteckt, um es im Zaum zu halten, obgleich es ihr nicht ganz gelungen ist, denn einige Strähnen gebärden sich freiheitsliebend und versuchen das Bild zu stören. Aber gerade das gibt ihr etwas so Menschliches, das ich mich tatsächlich zu ihr hingezogen fühle. Welche Farbe die Haare aber einmal hatten, kann ich nicht einwandfrei sagen, denn sie ist wohl früh ergraut. Aber auch diese Tatsache gehört zu ihrem Charme.

Langsam kommt sie wieder zu sich und sucht die Verbindung zu dem Letztgesagten. „Ja, das kommt darauf an“, wiederholt sie ihren letzten Satz. Dann ist sie wieder ganz da, schaut mich mit großem Elan an und sagt. „Wir brauchen Tatsachen, Beispiele, eine Geschichte, ein Schicksal.“ Und die Art, wie sie das sagt, löst in mir spontan die Frage aus: „Was haben Sie erlebt? Liefern Sie mir eine Geschichte?“ Sie schaut mich an und eine große Unruhe ergreift sie. Sie steht auf, setzt sich auf den Schreibtisch, geht zum Fenster, setzt sich wieder auf ihren Stuhl, steht wieder auf und sagt dann: „Darüber kann ich jetzt nicht sprechen.“

In diesem Moment geht mein Telefon, und ich sehe, dass es der Anwalt ist, der mich sprechen will. Ich schicke ihm mit einem Fingerdruck eine Nachricht, dass ich mich zurückmelden werde und sage zu der Journalistin: „Wenn Sie ein persönliches Beispiel für mich hätten, so würde mir das in der Argumentation sehr helfen.“ „Nein“, sagt sie da, „Nein“, und schüttelt den Kopf. „Lassen wir das Thema. Lassen wir den Artikel.“ „Den ganzen Artikel?“, frage ich, und mein Herz sinkt mir herab. „Ja, lassen wir ihn. - Erst einmal - jetzt.“

Sie ist blass geworden und ich spüre ein tiefes Mitleid, obgleich ich gar nicht weiß, wofür und warum. Aber ich spüre, dass es richtig ist, sich zu verabschieden. Also erhebe ich mich und sage: „Es tut mir sehr leid, dass wir jetzt nicht zusammenkommen. Aber ich bitte Sie, dass Sie sich bei mir melden, wenn Sie Ihre Meinung ändern sollten. Es ist mir sehr viel daran gelegen.“

Auch sie ist aufgestanden und gibt mir die Hand. „Ich möchte mich entschuldigen“, sagt sie, „ich kann mich im Moment noch nicht entscheiden. Aber ich werde mich bei Ihnen melden, wenn sich etwas ändern sollte. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.“

Als sich die Tür des Verlagsgebäudes hinter mir geschlossen hat, rufe ich den Anwalt zurück und er erzählt mir, dass er schon Nachricht vom Krankenhaus hat. Er sagt: „Ich habe gleich, nachdem wir uns getrennt haben, bei Gericht vorgesprochen und darum gebeten, eine Verlegung von Elena Heuner in das Spital am Stadtrand beantragen zu dürfen. Dabei habe ich mich auf die freie Krankenhausauswahl berufen, die uns per Gesetz zusteht. Wie Sie wissen, muss solch ein Antrag trotzdem bei Gericht genehmigt sein. Ich habe also die Erlaubnis bekommen und habe den Antrag an das Krankenhaus übermittelt. Dabei habe ich mich auf unseren kleinen Dr. Jost berufen, der den Transport als Arzt überwachen solle. Nun, die Antwort kam sofort und unmissverständlich. Aus besonderen Umständen und wegen der Schwere des Falles akzeptiere das Krankenhaus keine Verlegung. Das war‘s, Herr Tanner, es tut mir leid. Es ist mir unmöglich, in diesem Fall Weiteres zu unternehmen. Wegen der Klage des Hausfriedensbruches und der Sachbeschädigung werden Sie noch gesondert eine Vorladung bekommen. Auf Wiederhören, Herr Tanner. Es tut mir wirklich leid.“

Ich bin sprachlos und schockiert. Das habe ich nicht erwartet. Und ich fühle mich so, als wäre mir soeben der Boden unter den Füßen entzogen worden. Ich muss unbedingt mit Ulli sprechen. Ich muss wissen, was der Anwalt ihm gesagt hat. Doch vorher muss ich noch den kleinen Mann anrufen, um zu wissen, was er erreicht hat.

Ich habe es noch nicht zu Ende gedacht, da meldet er sich. „Wo sind Sie?“ frage ich ihn. „Ich bin im Park des Krankenhauses“, lautet seine ungewöhnlich ernste Antwort. „Ich muss Sie unbedingt informieren, hören Sie mir gut zu. Hier scheint einiges durcheinander zu sein. Nachdem ich die Reiterdame abgeliefert habe und sie ihr Blut bekommen hat, sollte ich eigentlich das Krankenhaus wieder verlassen. Aber da ist mir etwas Tolles eingefallen. Denn da ich schon einmal im Hause war, musste ich das auch irgendwie ausnutzen. Also habe ich mir in der Wäschekammer ein paar Utensilien besorgt, habe mich als Clown verkleidet und bin, wie selbstverständlich zur heilsamen Belustigung der Patienten von Zimmer zu Zimmer gegangen. Aber an das Zimmer von Elena Heuner bin ich nicht herangekommen. Nicht einmal in die Nähe. Aber ich habe etwas gehört. Ich habe gehört, dass ein hohes Regierungsmitglied hier liegt, und scheinbar die Hand über den Krankenhaustrakt hält, in welchem Elena liegt. - Was hat denn unser Anwalt gesagt?“ „Er hat mich gerade angerufen“ - „Lassen Sie mich raten. Er hat hingeschmissen.“ „Ja“, sage ich dumpf. „Genau, genau“, höre ich ihn in seinem gewohnten Tonfall, „Ich habe richtig geraten. Das ist wegen des Regierungsmitgliedes. Er hat Muffe bekommen.“ „Meinen Sie?“ „Klar. Wenn so jemand sagt: lass die Finger davon, dann tut er gut daran das auch zu befolgen.“ „Und was machen wir jetzt?“ frage ich etwas verzweifelt.

Eine Zeit lang ist Schweigen an der anderen Seite der Verbindung und mir gehen unruhige Gedanken im Kopf herum. Ich sehe plötzlich im Geiste eine Spinne im Zentrum ihres Netzes sitzen und ihre Fäden gezielt in die Umgebung hinein schicken. Und plötzlich sagt der kleine Mann zu mir: „Wir müssen die Spinne aus ihrem Zentrum locken.“ – Und nach noch einmal einer Pause, fährt er fort: „Ich weiß auch schon wie, ich weiß auch schon wie ...!“

Während des Gespräches hatte ich mich auf eine Bank gesetzt und sehe jetzt dem Bächlein zu, das sich hier seinen Weg unter der Straße hindurch bahnt, um dann schnell die Stadt wieder zu verlassen und in die freie Natur einzutauchen. Wie wunderbar ist solch ein Anblick der Unbekümmertheit und Reinheit im Gegensatz zu dem Tun der Menschen.

Und so auf das Bächlein schauend frage ich den kleinen Mann gespannt: „Wie, wie wollen Sie das machen, was haben Sie für einen Plan?“ Er lacht verhalten und sagt: „Das werde ich Ihnen am Telefon nicht erzählen. Kommen sie zum Krankenhauspark. In den Besucherbereich neben dem Haupteingang. Ich komme dann zu Ihnen. Wann können Sie da sein?“ „In einer viertel Stunde.“ „Das ist zu schnell“, wehrt er ab. „Ich habe noch etwas zu organisieren und Sie bringen bitte ihre schönen Freunde mit; die Familie Heuner. Jetzt ist es 14 Uhr, dann treffen wir uns um 16 Uhr im Garten.“

Und schon hat er aufgelegt und mir eine schöne Aufgabe hinterlassen. Hoffentlich erreiche ich die Heuners. Ich rufe an. Angela ist am Telefon und fragt mich gleich: „Gibt es Neuigkeiten. Hast Du was von Elena gehört?“ „Es gibt Neuigkeiten“, sage ich, „aber noch nicht von Elena. Der Dr. Jonas, du weißt, der kleine Mann, möchte uns sehen. Er hat Neuigkeiten.“ „Oh“, sagt sie. Ulli ist gerade nicht da, er ist bei den Freunden, um ihnen zu berichten. Und dann muss er aufs Amt, um sich sein Strafmandat zu holen, weil er keinen Spenderausweis hatte. Auch ich werde eine Strafe bezahlen müssen. Aber das ist uns egal, wenn wir nur Elena wieder haben.

„Das bin ich gerade dabei zu organisieren, aber dafür brauche ich euch“, sage ich. Wir sollen um 16 Uhr im Park des Krankenhauses sein. Du weißt, direkt neben dem Haupteingang. Dort will uns der kleine Doktor treffen. Er hat etwas geplant.“ Sie geht sofort darauf ein. „Ich werde versuchen Ulli zu erreichen. Wenn ich mich nicht mehr melde, sind wir pünktlich da. Bis dann.“ „Ja, bis dann“, sage ich und lege auf.

Jetzt habe ich noch ein wenig Zeit und versuche den Anwalt noch einmal zu erreichen. Ich will ihn fragen, was so beunruhigend gewesen ist, dass er so plötzlich das Handtuch geworfen hat, wo er doch vorher ganz auf unserer Seite war. Aber ich erreiche ihn nicht. Vielleicht lässt er sich verleugnen. Also mache ich mich schon einmal langsam in Richtung des Krankenhauses auf den Weg.

Dabei frage ich mich, ob die Menschen in der Niederstadt mich gestern und heute wohl vermisst haben, und mache mir Vorwürfe, dass ich keine Zeit für sie hatte.

Die Niederstadt ist jener Teil der Stadt, der von den Ärmsten der Armen bewohnt wird. Und in der Niederstadt liegt mein fast tägliches Betätigungsfeld. Dort brauchen mich die Menschen, und ich bin dort so etwas wie das Mädchen für alles. Ich helfe den Menschen bei Behördengängen, besorge ihnen etwas zu essen, wenn sie gar nichts mehr haben, helfe ihnen medizinisch – soweit ich das kann und darf – und tröste sie, wenn sie verzweifelt sind. Dadurch bin ich bei ihnen gerne gesehen und kann sie zu Aktivitäten bewegen, die sie sonst weit von sich weisen.

So habe ich ihnen eine Musikschule organisiert, spiele mit ihnen Theater, halte Lesekreise und Seminare ab und versuche sie für die Kunst und die Religion zu öffnen. Das mache ich schon viele Jahre und ich mache es, weil ich durch meine Familie in dieser Richtung vorbelastet bin. Schon mein Vater, mein Großvater und mein Urgroßvater, aber auch die weiblichen Mitglieder der Familie, haben sich stets um diese Menschen gekümmert und gesorgt. Mein Urgroßvater hat diese Verbindung sogar wissenschaftlich genutzt und ist mit seinen Forschungen außerordentlich bekannt geworden. Man kann sagen, dass es ihm und seinen Forschungen zu verdanken ist, dass die Menschen in der Niederstadt nicht zu Tieren degradiert wurden. Denn er hat durch seine Forschungen beweisen können, dass die Menschen, ob sie nun in der City oder in der Niederstadt wohnen, im Sinne ihrer menschlichen Entwicklung eine Einheit sind.

Aber er sagte auch ganz deutlich, dass sich die Einheit der Menschen nicht auf den Organaustausch beziehe. (Denn die Cityaner wollten die Niederstädtler für sich ausschlachten.) Die menschliche Einheit dürfe nur eine geistige Einheit sein. Im Geiste würde die Menschheit als eine Ganzheit funktionieren. Die Menschheit sei ein Organismus, wo alles aufeinander wirke – aber rein geistig. Er machte das fest an der Tatsache der Liebefähigkeit. Er sagte, dass es eine freie Liebe nur gäbe, wenn man den anderen fördere, ihn aber gleichzeitig unangetastet ließe. Er übertrug die Liebe der inneren Organe untereinander auf die einander fördernde Liebe der Gesellschaft im Äußeren, weil sich die inneren Organe des Menschen wohl untereinander förderten, sich aber nicht gegeneinander austauschten. Und er stellte die These auf, dass der Fortgang der geistigen Entwicklung der Menschheit davon abhinge, dass man sich nicht mit dem anderen organisch verwechsele, ihn aber zu dem geistigen Gesamtorganismus der Menschheit dazuzähle. Er konnte beweisen, dass die gesamte Menschheit wie ein großer einheitlicher Organismus fungiere, in der die eine Gruppe nicht ohne die andere lebensfähig sei. Und dass, wenn die eine Gruppe die andere nicht mehr wahrnehme – oder deren Kräfte ausbeute –, beide Gruppen dem Untergang geweiht seien. Denn das sich Erkennen am anderen, und das selbstlose und unangetastete Fördern des anderen, gehöre zu den wichtigsten Prinzipien einer geistigen Weiterentwicklung der Menschheit.

Ja, das war mein Urgroßvater Wilfried Darben, und immer, wenn ich so im Stillen darüber nachdenke, frage ich mich, ob ich heute wirklich genug dafür tue.

Ich wende mich einer Bank zu, die sich in der Nähe einer Straßenkreuzung befindet, über die ich gleich hinübergehen muss. Aber ich habe es nicht eilig und will noch ein wenig die Sonne genießen, die heute so wohltuend vom Himmel scheint. Sie wärmt den sonst etwas kühlen Tag. Aber meine Gedanken sind, durch die letzten Ereignisse, immer noch mit den Thesen meines Urgroßvaters beschäftigt. Ich denke an Elena und suche die Verbindung zu seinen Gedanken.

Er sagte, dass das geistige, seelische und körperliche Zusammenspiel innerhalb des Menschen und der Gesellschaft, mit einer Pyramide zu vergleichen sei, die in ihrer geistigen Spitze einer Einheit, in ihrer seelischen Mitte einer Wechselseitigkeit und in ihrer körperlichen Basis einer Trennung entspreche. Und dass man die geistige Einheit nicht mit der körperlichen Einheit verwechseln dürfe.

Denn in der geistigen Welt der Ideen sei es notwendig, dass die Menschen eine Einheit darstellten, sonst könnten sie sich nicht über alle Sprachen, Geschlechter und Völker hinweg verständigen. Ebenso sei es ersichtlich und notwendig, dass sich die Menschen in den Gefühlen austauschten, Mitleid empfänden und sich liebten. Aber genau so notwendig und zwingend sei es, dass die körperliche Trennung gewahrt bliebe. Sonst verlöre die Pyramide ihre Basis und stürze in sich zusammen. Die Menschheit würde die Pyramide auf den Kopf stellen, den freien Geist verlieren und das Körperliche als ihren Himmel betrachten. Damit bänden sie sich aber unwiderruflich an das „Leibhaftige“ und wären dem Untergang geweiht.

Das waren die Ideen meines Urgroßvaters. Und vor vielen Jahren hat man noch darüber diskutiert. Ich habe sogar noch einen Zeitungsartikel aus dem Jahre 2160 in dem mein Urgroßvater wörtlich zitiert wird. Dort heißt es – und ich kenne diese Sätze bereits auswendig: „Wie man sich im Geistigen, also in der Welt der Idee, nicht getrennt erleben darf, so darf man sich im Physischen, also im Körperlichen, nicht als eine Einheit erleben. Das heißt, dass die physischen Organe ausschließlich der einzelnen Person angehören dürfen.“ Und weiter heißt es dort: „Das ist kein übersteigerter Egoismus, sondern ganz im Gegenteil die Ehrfurcht und die Achtung vor der körperlichen Einmaligkeit und Unversehrtheit des anderen. Denn der Körper soll einmal durch das Individuum vergeistigt, und nicht durch die Masse verphysischt werden ... Die Zukunft der Menschheit liegt nicht in einer physischen- sondern in einer geistigen Einheit.“

Nun, das war seine Anschauung. Aber in der Gegenwart hat man das völlig verkannt. Man hat die Pyramide auf den Kopf gestellt. Die Einheit aller Menschen, die sich rein geistig verwirklichen sollte, wird physisch gesucht. Vor allem die Cityaner sehen in den Niederstädtlern nur noch die Träger wichtiger Ersatzorgane. Und die Gier nach diesen Organen ist heute der einzige Ansporn, den Kontakt zu den Niederstädtler nicht völlig abreißen zu lassen.

Deshalb ist man mir dankbar, dass ich diesen Kontakt halte. Aber man weiß nicht so recht, wie man mit mir umgehen soll. Denn man sieht, dass ich noch die alten Werte meiner Familie vertrete, kann aber mit ihnen selbst nichts mehr verbinden. Man sieht nur, dass ich weder der einen, noch der anderen Gruppe zugehöre, und dass ich so etwas wie eine eigene unabhängige Spezies vertrete.

Aber es gibt Menschen, die sich mir angeschlossen haben, wie mein Freund Ulli mit seiner Familie und andere, die sich die Freunde nennen. Diese Gruppe wuchs aus den anderen beiden Gruppen, also den Cityanern und den Niederstädtlern heraus und wird von beiden Seiten nun mit Argwohn beäugt. Weniger von den Niederstädtlern als von den Cityanern, denn die Niederstädtler empfinden sie als menschliche Helfer, die Cityaner aber empfinden sie als Provokateure, die sich ihren Regeln widersetzen.

Doch solange die Cityaner in der Vergangenheit den Kontakt zu den Niederstädtlern nicht ganz abreißen lassen wollten, gaben sie mir, wegen meines familiären Hintergrundes und der Hilfe, die ich den Niederstädtlern brachte, einen Sonderstatus und einen gewissen Schutz vor Verfolgung. Allerdings war abzusehen, dass das nicht mehr lange halten würde.

Und eben jetzt ist es wohl endgültig vorbei.

In diesem Moment setzt sich ein junges Pärchen neben mich auf die Bank. Zwar sitzen sie ganz am anderen Ende der Bank und versuchen leise miteinander zu sprechen, doch sind sie immer noch laut genug, um verstanden zu werden.

„Aber er hat doch nichts mehr davon, und du könntest ihn gebrauchen“, sagt sie zu dem etwas verlegenen Begleiter. „Mit anderen Organen bist du doch auch nicht so zimperlich.“ Er antwortet nicht sofort, sondern scheint einen inneren Kampf zu fechten. Aber ich ahne sofort, um was es geht, denn ich habe dieses Problem des Öfteren in der Niederstadt erlebt.

Und ganz sicher bin ich mir, als er sie fragt: „Möchtest du das denn?“ und sie antwortet: „Ja, da hätten wir doch beide etwas davon. Und du würdest dich als richtiger Mann fühlen.“

Der eigentlich noch junge Mann leidet wahrscheinlich an Potenzstörungen durch einen unterentwickelten Penis und seine Freundin drängt ihn nun, den Penis eines Verstorbenen zu nehmen. Da der Verstorbene aber scheinbar sein Freund ist, zögert er. Wer liebt auch schon gerne mit dem Penis seines Freundes, zumal man glauben muss, dass die Freundin dann bei jedem Akt den verstorbenen Freund vor sich sieht.

Er ist auf jeden Fall sehr verunsichert. Plötzlich erhebt er sich und geht. Sie folgt ihm und schmiegt sich an seine Seite.

Ich hätte solch einen Schritt nie getan, sage ich mir und staune gleichzeitig, wozu die Medizin heute im Jahre 2266 fähig ist. Dann erhebe ich mich auch, denn mittlerweile ist es Zeit, um zum Krankenhaus zu gehen.

Das Gedächtnis der Organe

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