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Das Gerücht

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Ich überquere die Straße, an der die Bank steht, und wende mich in Richtung Süden, von wo ich hergekommen bin, als ich das Verlagsgebäude suchte. Bald habe ich das Krankenhaus erreicht und wende mich vor dem Haupteingang nach rechts, um den Krankenhauspark zu betreten. Es ist jetzt fünf Minuten vor vier. Ulli und Angela sind aber noch nicht da. Auch der kleine Mann ist nirgendwo zu sehen. Also gehe ich ein wenig auf und ab und freue mich an den schönen Blumen und Bäumen des Parks.

Der Park sieht wirklich sehr gepflegt und sauber aus. Jede Blume hat ihren Platz und ist farblich an die Umgebung angepasst. Man sieht keine einzige verwelkte Blume, sondern nur die, die jetzt noch blühen. Die Büsche und Bäume haben noch teilweise ihr Herbstlaub und an einigen sind die hängen gebliebenen Früchte des Sommers zu sehen. Große Lindenbäume bilden eine saubere und gegliederte Allee bis hin zum Nebeneingang des Krankenhauses. Einzelne kleine Seen und Statuen vervollkommnen das Bild.

Zwischen den Blumen und Bäumen wandeln Kranke und Gesunde und erfreuen sich daran, dass heute die Sonne scheint und dem Tag etwas Wärme gibt. Die Kranken erkennt man an ihren krankenhauseigenen Bademänteln und die Gesunden an ihrer Tageskleidung.

Ich freue mich auch an der Schönheit der Natur und an dem goldenen Licht der Sonne, das über allem liegt. Wenn ich aber daran denke, dass hinter einem der Fenster des Krankenhauses Elena liegt, so wird mir ganz kalt und erbärmlich zumute. Deshalb hoffe ich inständig, dass der kleine Mann bald erscheint.

Und da kommt er eiligen Schrittes durch die Allee gelaufen: „Hallo, Herr Tanner“, ruft er mir schon von Weitem zu. „Wo sind Ihre Freunde?“ „Die müssen jeden Augenblick kommen“; antworte ich ihm. „Sie wussten nicht, ob sie es pünktlich schaffen. Da sie sich aber nicht mehr gemeldet haben, bin ich überzeugt, dass sie gleich erscheinen werden. „Gut, gut!“, sagt er, nachdem er mich erreicht hat, fasst mich am Arm und führt mich zur Seite auf einen Weg, der vom Krankenhaus gut einsehbar ist. „Hier müssen wir sie empfangen. Es ist wichtig, dass sie vom Fenster des Krankenhauses aus gesehen werden können.“ Dabei tut er sehr geheimnisvoll und hat wieder seinen verschmitzten Ausdruck im Gesicht.

Und in diesem Moment tauchen die beiden Heuners auf und der kleine Mann springt vor Freude in die Höhe.

Wie er sich aber dann gebärdet, kann ich erst gar nicht verstehen. Doch bald schon löst er uns das Rätsel. Er fuchtelt wild vor Ulli und Angela herum, die mich kurz begrüßt haben, und beginnt dann erst mit seiner Erklärung: „Also, passt auf, meine Lieben“, sagt er: „Was macht man, wenn man ein Feld bestellen- und Samen ausstreuen will. Man schüttet die Samen in eine Maschine. Richtig?“ „Richtig“, bestätigen wir. „Und was macht man, wenn man ein Gerücht säen will? – na? Man schüttet den Samen auch in eine Maschine. Meine Maschine heißt Schwester Martha.“

Er schaut uns herausfordernd an. „Sie haben ein Gerücht gestreut“, sage ich fast etwas erschrocken. „Richtig“, jubelt er und springt in die Luft. „Um Gottes willen“, sagt Ulli, „was denn für ein Gerücht.“ Jetzt lacht er herzlich und gleichzeitig verschmitzt: „Zu meinem Gerücht gehört es, dass uns die Schwester Martha, die jetzt bestimmt – ganz bestimmt, da oben am Fenster steht, sieht. Also, ich habe in ihre gute Obhut das Gerücht gelegt, dass die Elena Heuner, die im verbotenen Trakt des Hauses liegt, gar nicht auf normale Weise vom Pferd gefallen ist, sondern dass sie jetzt mit 14 die ersten Anzeichen einer Narkolepsie zeigte. Und dass sie dann in Folge der Narkolepsie - durch den Stress des Springens - eine Kataplexie entwickelt hat und vom Pferd gefallen ist.“

Als wir einen Moment schweigen, ruft er ungeduldig: „Na?!, na, ist das nichts? „Wir müssen das erst einmal verstehen“; sage ich. „Warum muss uns denn jetzt die Schwester sehen?“ „Ganz einfach“, antwortet er, „weil ich ihr gesagt habe, dass ich jetzt die Eltern überreden wolle, ihr Geheimnis zu lüften und sich dem Krankenhaus anzuvertrauen.“ „Schlau, schlau“, sage ich. „Was ist denn das – eine Kata- Katalepsie“? fragt Angela irritiert.

Ich erkläre es ihr: „Eine Narkolepsie sind Schlafattacken am helllichten Tag. Sie treten oft mit dem 14. Lebensjahr auf und können sehr schwer diagnostiziert werden. Deshalb ist das für uns hier sehr passend. Außerdem kommt es manchmal zu plötzlichen Erschlaffungen der Muskulatur, wodurch die Menschen zu Boden fallen. Man nennt das dann eine Kataplexie. Ausgelöst wird sie durch Stress, Affekte oder durch einen Schreck.“ „Fabelhaft“, ruft der kleine Mann und klatscht in die Hände. „Ist das nicht genial.“ „Ja, das ist genial“, bestätige ich. „Damit beunruhigen wir die Spinne in ihrem Netz gewaltig“.

„Kann mich mal jemand aufklären“? meldet sich Ulli. „Wer ist die Spinne, warum soll das gut sein, wenn man uns jetzt eine Krankheit andichtet und wie können wir Elena damit helfen?“

„Das ist gar nicht so kompliziert, wie das aussieht“, erklärt der kleine Mann: „Passen Sie auf! Bald schon wird man Sie ins Krankenhaus bestellen und ausfragen. Vielleicht kommen Sie auch mit Ihrer Tochter zusammen – wenn Sie zusammen befragt werden. Man wird Sie nach Symptomen fragen über Ihr Schlafverhalten, mögliche Konzentrationsschwächen, Unruhezustände usw. Dann wird man Sie fragen, ob in Ihrer Familie Ähnliches schon vorgekommen sei, und ob Sie bei Elena früher schon Anzeichen beobachtet haben. Man wird das alles machen, weil man sicher sein will, ob Ihre Tochter wirklich unter dieser Krankheit leidet. Aber egal ob sie darunter leidet oder nicht: Für jemanden, der ihre Organe haben möchte, scheidet sie unter diesen Voraussetzungen aus.“ „Und wir glauben“; ergänze ich, dass es jemanden in diesem Hause gibt, der es auf ihre Organe abgesehen hat.“

Ulli atmet tief durch und ist eine Weile sprachlos. Ich benutze die Gelegenheit und frage den kleinen Doktor: „Und was spiele ich in diesem Spiel für eine Rolle?“ „Raten Sie“, ruft er mit zurückgelegtem Kopf. „Ich bin Ihr Assistent“, sage ich. „Richtig, richtig. Sie können ja auch raten.“ Dabei lacht er herzlich und springt mehrmals in die Höhe. „Und was ist dann meine nächste Aufgabe?“; frage ich etwas scherzhaft.

Aber Ulli kommt seiner Antwort zuvor und fragt: „Ist das wirklich wahr, dass man es auf ihre Organe abgesehen hat?“ „Wir denken –ja“, sage ich und zeige auf den Arzt und mich. „Oh je …“, stößt er hervor. Angela ist ganz still geworden und sagt in die aufgetretene Pause hinein: „Mir ist ganz schlecht.“

Da ergreift Ulli noch einmal das Wort und sagt: „Sollten wir jetzt nicht versuchen in das Krankenhaus zu kommen, um unsere Tochter zu sehen? Nachher ist schon was mit ihr passiert.“

„Da kann ich Sie beruhigen“, sagt der kleine Mann. „Bevor das Gericht die Frage des Hausfriedensbruches und der Sachbeschädigung nicht eindeutig geklärt hat, werden sie sich ruhig verhalten. Und ich sage Ihnen, wenn sie jetzt von dem Gerücht hören, wird sich ganz schnell etwas ändern.“ „Lassen Sie mich raten“; sage ich jetzt scherzhaft: „Man wird die Familie baldmöglichst einbestellen, denn mit Blut- oder Hirnuntersuchungen alleine, werden sie die Diagnose weder bestätigen noch entkräften können.“ „Sie sind gar nicht so schlecht“, sagt der kleine Mann bewundernd. „Und da sind wir auch schon bei Ihrer nächsten Aufgabe: Sie müssen das Gerücht jetzt weiter tragen an die Presse. Wir müssen die Spinne so richtig nervös machen – nicht wahr … so richtig nervös. Ich freu‘ mich schon drauf.“ Dabei boxt er mir liebevoll in die Seite und sagt dann abschließend: „Jetzt gehe ich erst einmal nach Hause, mich umzieh‘n, was Leckeres essen und Fernseh‘n gucken. Für heute habe ich genug.“ Und zu den Heuners gewendet fügt er noch hinzu: „Sie können auch nach Hause gehen. Die werden sich früh genug bei Ihnen melden. Tschüss, meine Damen und Herren.“ Damit verschwindet er durch das Tor des Parks.

Ulli und Angela bleiben unschlüssig stehen. Da sie aber nun wirklich nichts weiter tun können, verabschieden wir uns und befolgen den Rat des kleinen Mannes vorerst einmal nach Hause zu gehen.

Das Gedächtnis der Organe

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