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STURZ AUS DEN WOLKEN

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Es waren wohl einige Minuten verstrichen, bis sich Hoo und das Blattlauspärchen ausgiebig verköstigt hatten. Nun ergriff Mucks als Erster das Wort.

„So! Jetzt sind wir alle bestens mit Flüssignahrung versorgt. Findest du nicht auch, liebste Birne, dass es hier recht gemütlich ist?“

„Voll urgemütlich, Mucksischatz. Ja, das gefällt mir“, piepste sie entzückt. Dann wandten beide ihr Gesicht dem spendablen Regentropfen zu. „Außerdem haben wir noch nie so ein erquickendes und zugleich kräftigendes Wässerchen getrunken. Danke schön, lieber Hoo“, bedankte sich Birne höflich.

„Stimmt“, sagte Mucks. „Dein Begrüßungstrunk hat echt lecker geschmeckt und macht auch ganz schön satt.“ Dabei guckte er auf sein gefülltes Bäuchlein. „Auch ich sage Dankeschön, lieber Hoo!“

„Nichts zu danken, ihr Lieben“, entgegnete Hoo beschwingt. Durch die ausreichende Zufuhr des nährstoffreichen Apfeldrinks fühlte er sich innerlich frisch gestärkt. „Wenn euch, äh, mein Wasser mundet und es euch auf meinem Bauch so gut gefällt, bleibt doch einfach noch sitzen! Ich denke, fürs Erste werde ich mich ohnehin auf das Nötigste beschränken, mit meinen Kräften haushalten, und, äh, hier auf der schattigen Apfelsafttankstelle ausharren müssen. Deshalb werde ich auch gleich, äh, eine bequemere Sitzhaltung einnehmen. Überdies, äh, tut mir eure Gesellschaft so richtig gut.“

„Au ja, das ist supertoll, Hoo“, antwortete Birne frohgemut. „Da können wir ja noch länger miteinander babbeln.“

„Mit Vergnügen, liebe Birne, mit Vergnügen“, stimmte Hoo frisch und fröhlich bei. „Unterhalten wir uns ein bisschen. Das beflügelt den Geist und macht zudem, äh, großen Spaß!“

Schon sehr gespannt, begann Mucks ihm nun einige Fragen zu stellen, die seit geraumer Zeit durch sein Köpfchen geisterten und ihm jetzt auf den Lippen brannten. „Apropos babbeln und unterhalten! Hoo, möchtest du uns nicht erzählen, was vorgefallen ist? Ich meine, wie bist du denn aus heiterem Himmel hierhergekommen? Bei deiner Ankunft hattest du davon gesprochen, du seist aus den Gewitterwolken geplumpst. Die waren aber doch schon längst über unseren Apfelbaum hinweggezogen, als wir auf dich aufmerksam wurden?“

„Ja, ja, ja, bitte, Hoo!“, flehte Birne inbrünstig. „Bitte erzähle es uns.“ Schmachtend fügte sie hinzu: „Du liebe, liebe Güte! Wie lange hab ich schon keine gute Geschichte mehr gehört? Hach, wo ich Geschichten doch sooo liebe! Deine Geschichte ist bestimmt voll spannend, gell?“

Erwartungsvoll schauten sie in seine himmelblauen, wässrigen, doch auch etwas wehmütig dreinblickenden Augen.

„Nun, ja, äh, Donnerwetter! Da hast du aber gut aufgepasst, Mucks“, ging Hoo auf seine zuletzt gestellte Frage ein. Staunend blickte er zwischen der freudestrahlenden Birne und ihrem wissbegierigen Läusemann hin und her. Die hohe Stirn in Runzelwellen gelegt, versuchte er seine Gedanken zu ordnen. „Lasst mich mal überlegen. Ihr, äh, wollt also wirklich, dass ich euch, äh ...?“

„Ja, ja, ähm, die ganze Geschichte, wenn's recht ist“, fiel Birne ihm ins Wort. Sie klatschte mit den Händchen und konnte es kaum erwarten. „Bitte Hoo, bitte, bitte!“

„Erzähl doch einfach drauf los, Hoo“, bat ihn Mucks mit weniger aufgedrehter Stimme. „Wir hören dir liebend gerne zu.“ Beide nickten.

„Okay, okay! Warum, äh, eigentlich nicht? Genau genommen ist das sogar eine prima Idee von euch. Und, äh, Zeit habe ich ja auch“, willigte Hoo schließlich ein. „Äh, dann aber von Anfang an!“

„Jaaaaahh! Hoo, das ist super himmlisch!“ Birne piepste in den höchsten Tönen. Voller Entzücken umarmte sie ihren nickenden Mucksischatz. Auf sein grünes, knollig rundes Mininäschen schmatzte sie einen dicken Kuss.

„Also, ich, äh, hmm ...!“ Hoo brummelte noch einige Sekunden nachdenklich vor sich hin. Unterdessen hatte er sich so behutsam neben den jederzeit greifbaren Trinkhalm gesetzt, dass die zierlichen Blattläuse nicht von seinem Bauch hinabkullern konnten. So fing Regentropfen Hoo also an, den winzigen Apfelbaumbewohnern seine bisherige Geschichte zu erzählen ...


„ES WAR EIN WUNDERSCHÖNER TAG, als ich in die Schwerelosigkeit einer feuchtwarmen, weißen Sommerwolke hineingeboren wurde. Zusammen mit unzähligen Wassertropfenbabys lag ich auf einem weichen, schäfchenweißen Wolkenkissen. Wir alle ernährten uns von nährstoffreicher Wolkenwatte und gehaltvollem Wolkenwasser. Schnell wuchsen wir heran, wurden größer und kräftiger. Tagsüber hüpften wir ausgelassen in unserer unmerklich über dem Meer dahinziehenden Mutterwolke umher. Wir machten so unsere Späßchen. Eines unserer Lieblingswasserspiele war es, uns gegenseitig nass zu spritzen, wodurch wir fortlaufend viele kleine, siebenfarbige Regenbogen an den unendlichen Himmel zauberten.

Bereits nach zwei Tagen konnte ich einigermaßen selbständig und völlig frei in unserer Wolke umherrollen, krabbeln, dann gehen, hüpfen und laufen. So ging ich schon am darauffolgenden Tag in unsere allseits beliebte Wolkenschule, um meinen unbändigen Wissensdurst zu stillen. Weil ich jedoch von Geburt an immer dicker wurde und beim spielfreudigen Herumtoben tollpatschig oft auf, äh, meinen Schnorchel geplumpst bin, nannten mich meine engsten Freunde und Spielkameraden bald nur noch ‚Hoo‘.

Ja, also, äh, ich muss schon sagen, für mein junges Leben war ich sogar auffallend dick! Ohne ersichtlichen Grund war ich schneller als alle anderen Wassertropfen herangewachsen, dicker und demzufolge auch schwerer geworden. Hoho! Jedes Mal, wenn mir dann zwei oder gar drei meiner durchweg schlankeren Tropfenkameraden wieder auf die Beine halfen, riefen sie: „Hooooch mit ihm!“, oder „Hoo, – hoo, - hoch mit dir!“ Ja, äh, genau so war's. So kam ich zu meinem originellen Rufnamen, der mir dann auch geblieben ist.“ Ein glückliches, sanftmütiges Lächeln strahlte aus seinen himmelblauen Augen. „Ich selbst jedenfalls finde, dass dieser Name gut zu mir passt. Er gefällt mir, klingt richtig schön, – und sogar, wie ich meine, fast schon himmlisch!“

„Ja, Hoo, das finden wir auch“, piepsten die Blattläuse ihm einstimmig zu.

„Hm, klingt irgendwie auch ein bisschen geheimnisvoll“, fügte Mucks noch an.

Birne fragte Hoo mit neugierigem Blick: „Du bist auf deinen Schnorchel geplumpst? Hm. Hast du dir denn dabei nicht wehgetan? Und, ähm, Hoo, was bitte schön, ist ein Schnorchel?

„Oh, äh, ach ja, natürlich, mein Schnorchel!“, fasste Hoo sich kurz an die hohe Stirn. „Woher solltet ihr das auch wissen?“

Seine Antwort folgte prompt. „Also, in einer Wolke hinzufallen ist keine tragische Sache, als Wassertropfen fällt man da glücklicherweise immer weich. Und, äh, ein Schnorchel ist für uns Wasserwesen das, was ihr irdischen Geschöpfe zumeist als Nase bezeichnen würdet.“

„Ach ja? Wo hast du denn deine Schnorchelnase?“, fragte Mucks etwas irritiert. Spitzläusisch suchte er sein Gesicht ab. „Ich kann lediglich ein winziges, blassblaues Pünktchen über deinem Mund erkennen.“

„Ist-das-da-dein-Schnorchel?“ Birne guckte äußerst misstrauisch aus ihrer grünen Wäsche und deutete auf den klitzekleinen Blaupunkt. „Das kann nicht sein! Gell, Hoo, du führst uns am Schnorchel, ähm, an der Nase herum?“

„Nein, tu ich nicht, liebe Blattläuse, das ist mein Schnorchel!“, behauptete Hoo lachend. „Überraschung! Seht her und passt genau auf!“ Umgehend lieferte er ihnen den sichtbaren Beweis.

Birne und Mucks trauten ihren Augen nicht, als sie zusehen konnten, wie Hoo seinen Schnorchel anschwellen ließ. Das winzige Pünktchen hatte sich binnen weniger Sekunden zu einem rüsselartigen Ding ausgestülpt. Es sah aus wie der ausgefahrene Fühler einer Schnecke. Mit dem augenfälligen Unterschied, dass sich nicht, wie bei den Schnecken, ein Auge obenauf befand, sondern die Schnorchelöffnung! Hoo schlenkerte sein außergewöhnliches Geruchsorgan wie einen Mini-Elefantenrüssel hin und her. Aus der Schnorchelspitze nahm das staunende Blattlauspärchen ein hörbares Schnuppern wahr. Hoo nutzte die Gelegenheit, die Umgebung zu erschnüffeln.

„Gell, da staunt ihr?“

„Zooooommm! Voll krass! “, piepste Birne. Vor lauter Schnorchel schauen blieb ihr der Mund offenstehen.

„Aha. Das is' echt ‘n Ding!“, ergänzte Mucks voll beeindruckt. Er guckte sich Hoos ausgewachsenes, wasserfarbenes Riechteil genauer an. „Sooo beweglich!“

„Flexibel und megaschnell!“, rief Hoo verbessernd. Sogleich führte er seinen Blattlausfreunden mehrmals wiederholend vor, wie rasch die ungewöhnliche Ausstülp- und Einziehtechnik seines Schnorchels funktionierte. Millisekunden schnell!

Birne und Mucks staunten und staunten, doch konnten sie sich ein pubertär schüchternes Kichern nicht verkneifen. „Das ist ja wahnwitzig rasant und lustig. So ein schnuckeliges Spielzeug“, ereiferte sich die Läusedame.

„Tolles Teil!“, fügte Mucks überaus fasziniert noch an. „Was es nicht alles gibt?“

„Das kann man wohl so sagen, meine Freunde.“ Da Hoo nun schon mal dabei war, auf die raffinierten Funktionen seines außergewöhnlichen Schnorchels einzugehen, setzte er gleich noch eins drauf. „Das Beste aber, liebe Blattläuse, ist, dass Wasserwesenschnorchel, wie übrigens alle Atemwege, also auch der Mund-Rachen-Raum, absolut schleimhaut- und keimfrei sind. Äh, Nasenschleimhäute sind halt nur was für Nasen. Demgegenüber haben unsere Schnorchelorgane den großen Vorzug, dass sie innerlich nie tropfen oder zu trocken werden. Dadurch sind wir vor ekligem Nasensekret, schleimigem Schnupfen, oder, äh, einer dauerhaften Erkältung, will sagen ‚Husten-Schnupfen-Heiserkeit‘ stets gefeit. Wir benötigen also, im Gegensatz zu den empfindlichen Menschennasen oder manch einem Geruchsorgan von verwöhnten Haustieren, keine Schleimhautabschwellenden Sprays, Tropfen, Salben, Nasenduschen oder irgendwelche andere Infekt-Blocker und müssen, äh, auch nicht niesen oder schnäuzen. Die Verwendung von Taschentüchern fällt also ebenso weg wie das leidige Aufsuchen eines Arztes, da wir als Schnorchelträger einen derart schlimmen, fiebrigen oder gar chronisch werdenden Infekt, ausgelöst durch Viren oder Bakterien, überhaupt nicht bekommen können. Äh, Nasenbesitzer sind da wahrlich nicht zu beneiden!“

„Cool! Das ist sooo cool!“, piepste Birne. Ihre Augen blitzten kurz auf. Ein wenig neidvoll zupfte sie an ihrem kugelrunden, grünen Mininäschen herum.

„Über wie auch unter Wasser stehen mir vier gleichwertige Gebrauchsmöglichkeiten zur Verfügung“, erklärte Hoo weiter. „Ich, äh, kann meinen Schnorchel verschließen, dann atme ich über die Haut. Ich kann damit Flüssigkeit einsaugen und in den Körper weiterleiten, ohne, äh, den Mund voll zu kriegen. Zum Spaß oder auch zur Verteidigung kann ich wie mit einer multifunktional einstellbaren Schlauchdüse damit umherspritzen. Und viertens kann ich mit meinem Schnorchel verdammt gut riechen. Jedem einzelnen Geruch der näheren Umgebung kann ich auf die Spur kommen und ihn klar zuordnen, sofern mir der Duft und oder das Objekt bekannt ist. Meine Lieblingsfunktion ist deshalb das intensive Schnuppern. Es gibt so herrliche Gerüche! Mmmhhhh, dufte, hier riecht es unter anderem nach herb würzigen Apfelbaumblättern, saftig süßem Fruchtfleisch, äh, nach wohlschmeckendem Apfelsaft, und ihr beide?“, – er lenkte seinen Schnorchel kurz in ihre Richtung –, „ihr riecht süßlich, – nach Honigtau! Auch nicht schlecht. Jedenfalls, liebe Blattläuse kann ich euch, äh, gut riechen.“

Hingerissen hatte das Blattlauspärchen ihm zugehört und seinen Superschnorchel ausreichend bewundert. Dass er den ihnen anhaftenden Geruch, der durch die Absonderung überschüssigen Zuckers entsteht, sofort erkannte und sogar als angenehm empfand, verblüffte sie und tat ihnen wohl. Bevor er jedoch auf die Idee kam, seiner Schnupperlaune noch mehr nachzugeben, drängten sie darauf, dass er seine Geschichte nun fortsetzen möge. Mucks forderte ihn humorvoll dazu auf.

„Mein lieber Scholli! Mit deinem multitollen Superschnorchel hast du aber gewaltig die Nase vorn. Doch erzählst du jetzt bitte weiter, lieber Hoo? Ich und Birne – wir – wir meinen ...?“

„Ja, erzähl' bitte deine spannende Geschichte weiter, bitte, bitte!“, piepste Birne verlangend dazwischen. Liebevoll kuschelten sie sich wieder neben der Trinkmulde aneinander. Auf Hoos Bauch fühlten sie sich geborgen wie in einem großen Wasserbett.

Hoo kam ihrer Bitte natürlich gerne nach. Umgehend zog er sein immens verlängertes Schnorchelteil wieder auf Pünktchenstellung zurück. Durstig bog er sich den Trinkhalm zum Mund, schlürfte kräftig Saft daraus und rülpste, wofür er sich bei den Blattläusen gleich wieder entschuldigte. Hier im Apfelbaum unterstand er jedoch keinerlei gesellschaftlichen Benimmregeln. Eigentlich brachte er mit seinen oralen Rülpsgeräuschen nur zum Ausdruck, dass ihm der gesunde Saft bestens mundete. Birne und Mucks zeigten für seine Natürlichkeit volles Verständnis. Dann nahm er den eigentlichen Faden seiner Lebensgeschichte wieder auf.


„NUN, ÄH, UNSERE WEISSE MUTTERWOLKE wurde von einem lauen, sanften Westwind immer weitergetrieben. Tagelang schwebten wir über dem unermesslichen Ozean dahin. Salzreiches Meerwasser, so weit das Auge reichte! Oft schaute ich träumerisch auf das endlose, satte Blau des Meeres hinab. Unsere Sommerwolke und auch alle anderen Schäfchenwolken warfen riesenhafte Schatten auf die Wasseroberfläche. Manchmal schien es, als würden alle Wolkengebilde im tiefen Meerwasser umherschwimmen und spaßeshalber bewegtes Schattentheater spielen. Ab und zu konnte ich sogar eine Delfinfamilie und Tümmler beobachten. Liebend gerne schaute ich ihnen zu, wie sie flink und vergnügt durchs klare Wasser sausten, tauchten und sprangen. Am Horizont erblickte ich hin und wieder auch große, mit verschiedenfarbigen Containern schwer beladene Frachtschiffe. Auch ein riesiges, rostrotschwarzes Tankschiff zog eines Tages ganz in der Nähe vorbei. Mir war aufgefallen, dass der lecke Seelenverkäufer eine dünne, ölige Spur im salzig aufsprudelnden Heckwasser hinterließ. Einmal sogar – fällt mir gerade ein –, durchpflügte direkt unter uns eines dieser megagroßen Kreuzfahrtschiffe mit seinem spitzen Bug und Tausenden sonnenhungriger, urlaubsvergnügter Menschen an Bord die weite See.

Ganz besonders schön anzuschauen waren die glutroten Sonnenuntergänge. Auf unserem Wolkenkissen und im Schoß unserer Mutterwolke wurden wir dann Abend für Abend in sauberster Luft und dem sanften, betörenden Gesang des Windes in den Schlaf gewiegt. Über uns, am unendlichen Nachthimmel, das Leuchten der Sterne und die bandförmige Aufhellung der Milchstraße.

Manchmal, des Nachts, wenn alle Tropfen fest schliefen und mich das silberne Licht des Mondes sanft am Schnorchel kitzelte, stand ich traumverloren auf. Wie mondsüchtig bewegte ich mich mutterseelenallein und mit schlafwandlerischer Sicherheit über die flaumigen Kissen und unzählige Artgenossen hinweg. Manche schnarchten, doch so sanft, leise und ruhevoll, wie das Schnurren eines friedlich schlafenden Kätzchens. Ich, äh, erträumte mir so sehr, dass ich irgendwann einmal mit vielen Tropfenfreunden dazu auserkoren würde, in dieses urgewaltige, unendliche Meer hinabzuregnen. Meine Sehnsucht, einmal eine oder gar mehrere lange Lebensperioden darin verbringen zu können, mich dabei frei entfalten und bewegen zu dürfen, war unstillbar – und, äh, ist es noch!“

Hoo schluchzte wehmütig. Er konnte es nicht verhindern, dass einige klitzekleine Tränen über seine wasserglatten Wangen kullerten.

„Das kann ich gut verstehen, Hoo. Bestimmt hättest du dann mit deinen Wasserfreunden eine große Planscherei veranstaltet“, versuchte Birne ihn aufzumuntern. „Aber, Hoo, sei doch bitte nicht traurig. Vielleicht ...?“

„Ja, ja, vielleicht ...? Vielleicht ...?“, dachte Mucks laut nach. „Wer weiß? Vielleicht wird alles wieder gut?“

„Genau! Das will ich meinen! Wer soll denn heute schon wissen, was morgen ist“, philosophierte Birne.

„Aber erzähl' doch bitte weiter, lieber Hoo“, bat Mucks ihn freundlich. „Was ist denn geschehen?“

„Ja, was genau ist vorgefallen?“, piepste Birne hinterdrein. Ihre Neugierde wuchs.

„Ach, äh, wisst ihr“, machte Hoo seinem Herzen Luft, „die Vorstellung in diesem tiefblauen Ozean zu schwimmen, die salzige Luft zu schnuppern und die mal sanft schwankenden, mal etwas heftiger schaukelnden Bewegungen der warmen Wellen zu spüren, sich auf und mit ihnen treiben zu lassen, darin einzutauchen und auch mal mit ihnen zu verschmelzen, ließ mich nicht mehr los. Ich, äh, hatte mir so sehr erhofft, dass dieser wunderbare Traum bald in Erfüllung ginge. Doch dann, äh ...?“ Hoo hielt kurz inne. Er wischte sich über die feuchten Augen und seufzte. „Ach herrje! Dann, äh, dann kam alles ganz anders!“

„Ganz anders? So ganz anders?“, tuschelten die Blattläuse. Achselzuckend schauten sie einander an, dann ihren melancholisch wirkenden Regentropfenfreund.

„Ja, total anders!“, empörte sich Hoo. Der Klang seiner Stimme kam aus dem tiefsten Innern seiner hochempfindsamen Seele. Seine Lippen zitterten. Um sich ein wenig zu beruhigen, sog er tief den süßlich-fruchtigen Apfelduft ein, der in der lauen Luft lag. Dann beschrieb er seine weiteren Erlebnisse.

„Eines schönen Tages wurde ich unsanft aus meinem gewohnten Mittagsschläfchen wachgerüttelt: „Hallo, Hoo! Du Schlaftropfen! Los, aufstehen!“, riefen einige meiner Spielkameraden. Dabei hüpften sie wie wild geworden auf unserem Wolkenkissen herum. „Steh' auf! Steh' doch endlich auf! Du hast lange genug geschlafen! Die Pflicht ruft! Du wirst doch wohl nicht die große Versammlung vergessen haben? Mach' schon, Hoo, beeil dich!“

„Was? Wie? Äh, welche Versammlung denn?“, fragte ich müde blinzelnd. Noch schlaftrunken, gähnte und streckte ich mich.

„Na, die Versammlung aller Wassertropfen in der großen Wetterhalle! Hoo, du weißt doch, heute werden wir unserer Bestimmung zugewiesen. Komm endlich! Raff dich auf! Wir müssen sofort los!“

„Wie? Heute? Äh, a-a-aber ...?“, stotterte ich verwirrt. Ich schluckte. Die überraschende Nachricht ging mir echt unter die Haut. Wie vom Donner gerührt stand ich da! Nicht eine Millisekunde später war ich hellwach. Besorgt schaute ich um mich. Überall rannten Wassertropfen aufgeregt umher. Unsere weiße Sommerwolke hatte sich zusammen mit anderen Wolken zu einem mächtigen, sich allmählich dunkler färbenden Gesamtkunstwerk á la Bombastisches Wolkengebirge aufgequollen, das nun ein unschätzbares Gewicht an Wasser mit sich trug. Und, äh, der blaue Ozean, das weite Meer? Es war weg! Verschwunden. Einfach nicht mehr da!

„Wo sind wir? Was ist denn passiert?“, meldete sich meine innere Stimme. Wisst ihr, ich überlegte, wie lange ich wohl tief und fest geschlafen haben musste. Wieso war niemand meiner zahlreichen Tropfenfreunde dazu fähig und bereit gewesen, mich eher aufzuwecken? Warum bin ich, wie sonst ja auch, nicht einfach von selbst wach geworden? Hatte man mir eine Beruhigungsphase für zu ausgelassenes Herumtollen aufgebrummt?! Verbüßte ich etwa eine Wolkenschulstrafe für zeitweiliges Versäumen des frei wählbaren Unterrichtsangebots?! Oder befand ich mich gar in einem, mir von überirdischer Macht auferlegten, längeren Blackout?! Bis heute ist mir das völlig rätselhaft. Wie ein unerklärlicher, dunkler Schleier schlummert da irgendetwas in einem Hinterstübchen meines Gehirns. Ich, äh, war völlig durcheinander!“

Hoo stutzte. Für einen Moment schloss er seine Augen. Er atmete schwer, als er sagte: „Das Einzige, an was ich mich noch dunkel entsinnen kann, ist ein Traum, eine Art Prophezeiung, die in den Tiefen meines Gedächtnisses untergetaucht ist. Ein besonderer Tag sollte mir bevorstehen, schon bald, äh ...?“ Seine Worte verstummten hinter bebenden Lippen. Alle Erinnerung lief ins Leere ...


BIRNE UND MUCKS VERHIELTEN SICH STILL. Das bisschen Heben und Senken seines Bauches, auf dem sie ja eng aneinander gekuschelt saßen, schien sie nicht weiter zu stören. Das sanfte Auf- und Abwippen, obwohl jetzt zu leichtem Schaukeln sich steigernd, fanden sie eher lustig. Auch hörten sie, wie sein Herz aufgeregt pochte. Doch stellten sie keine Fragen und piepsten auch nicht dazwischen. Ohne jegliche Furcht hielten sie sich fest an den Händchen. Respektvoll warteten sie darauf, dass er seine Geschichte weitererzählen würde, was er einige Atemzüge später dann auch tat.


„WIE ICH SEHEN KONNTE, befanden wir uns über Land, am Rande eines hoch aufragenden, wolkenverhangenen Gebirges. Unter mir erblickte ich saftig grüne Wiesen, auf denen prächtige Milchkühe grasten und rassige Pferde weideten. Fleißige Landwirte arbeiteten in ihren offenen Stallungen. Mit bulligen Traktoren und Mähdreschern bestellten sie Felder und Ackerland. Auf Straßen fuhren allerlei Fahrzeuge und an idyllisch gelegenen Badeseen waren die Parkplätze überfüllt. Familien picknickten auf den Liegewiesen. Sie hatten ihre Decken und Matten unter bunten Sonnenschirmen und im Schatten hoher Laubbäume ausgebreitet. Viele Erwachsene und Kinder schwammen und planschten ferienvergnügt im erfrischenden Wasser.

Ein breiter, silbrig glitzernder Fluss schlängelte sich durch diese liebliche Tallandschaft. Gemächlich floss er vorbei an Mischwäldern, Siedlungen, Dörfern, Gehöften und unter Brücken hindurch. Eine Stauwehr mit mehreren Schleusen teilte den Fluss in aufgestautes und fließendes Wasser. Nahe dem Fluss verlief geradlinig eine dreigleisige Eisenbahntrasse. Ein waggonreicher Güterzug ratterte gemächlich über die Gleise, während in Gegenrichtung ein vollbesetzter Hochgeschwindigkeitszug seine Passagiere beförderte. Auf einem Sportplatz wurde Fußball gespielt. Gegenüber, auf der anderen Seite des Flusses, befand sich ein kleiner Flugplatz mit Hangar, vor dem einige Sport- und Segelflugzeuge herumstanden. Gerade wurde auf der Startbahn ein weißer Segler mittels eines Schleppseils von einem Schleppflugzeug in die Höhe gezogen, um so in aufsteigende Luftströmungen zu gelangen. Ein anderes setzte unter sanftem Wind zur Landung an. An dem sich verschmälernden Ende des Tales thronte auf einer bewaldeten Anhöhe ein mächtiges, mittelalterliches, weißgetünchtes Kastell. In der Ferne, wo sich das Tal auf der anderen Seite weit öffnete und in flaches Land überging, wuchs unter leichtem Dunst schemenhaft eine größere Stadt dem Horizont entgegen.

Plötzlich war ein langes, dumpfes Donnergrollen zu hören. ‚Rainer Celsius‘, einer der gestrengen Botschafter des Globalen Wettermeisters ermahnte zur Eile. Die Versammlung in der Wetterhalle sollte jeden Augenblick beginnen. Einige der aufsteigenden Wolken hatten sich nun bereits zu grauschwarzer Melange verfärbt und einem wulstigen Monster gleich riesenhaft aufgetürmt. Ich wusste, dass jeder, der zu spät kam oder der anberaumten Versammlung nicht beiwohnte, mit strengster Bestrafung zu rechnen hatte.“ Hoo atmete tief durch. Die Spannung seiner kleinen Zuhörer wuchs.

„Donner und Blitz! Bloß nicht zu spät kommen!“, murmelte ich. „Bloß nicht zu spät kommen!“, wiederholte ich sorgenvoll.

„Bewegung tut echt Not“, gluckste ich noch. „So nahm ich meine kurzen Beine in die Hand, ließ mich rollen, rannte, hüpfte und plumpste los, meinen schlankeren Freunden und unzähligen anderen Wassertropfen hinterher. Manche von ihnen hatten sich flink zusammengetan, um als größere Tropfengemeinschaft vereint, schneller vorwärtszukommen.

So ziemlich als Letzter erreichte ich schweißgebadet den riesigen, hufeisenförmig gebogenen Eingang der einzig aus Wasser gebildeten Wetterhalle im Zentrum unserer Riesenwolken. Erleichtert darüber, dass ich noch rechtzeitig angekommen war, hüpfte ich hoffnungs- und erwartungsvoll über die flachwässrige Schwelle hinein.

‚Wwwsssswwwwwuschschsch!‘, rauschten die Wassermassen hinter mir ineinander. Das Wasserportal hatte sich zu einer stabilen Wasserwand geschlossen. Vor mir tat sich ein kaum überschaubares, gigantisches Gewölbe auf. Überall wimmelte es von schwatzenden Wassertropfen aus aller Herren Wolken. Weiß flirrende, herumsausende Lichtstrahlen blendeten mich. An den feuchten, perlmuttartig schimmernden Wasserwänden brachen sich die grellen Lichtattacken. Es roch nach tiefgekühltem Eis. Mir wurde kalt und es fröstelte mich.“

„Tropfen! – Volk der Wassertropfen!“, dröhnte plötzlich die laute, metallene Stimme des Botschafters durch die kühle, wellentunnelartige Wetterhalle. Fast schlagartig verstummte das Stimmengewirr.

„Ich, Rainer Celsius, Botschafter im Auftrag des ‚Globalen Wettermeisters‘, werde euch hier und jetzt eurer Bestimmung zuweisen!“

Ein anschwellendes Raunen ging durch die Menge. Nach einem eisscharfen „Ich bitte um absolute Ruhe!“, des bekannt strengen Botschafters horchten alle Tropfen willig und gespannt auf.

„Am Ende dieses Gewölbes, in der Mitte durch eine blauweiß gestreifte, dünnschichtige Wasserwand getrennt, befinden sich zwei auffällig beleuchtete Schleusen. Rund und blau die eine, quadratisch und weiß die andere. Könnt ihr alle die beiden Schleusen sehen?“

„Jaaaaahhhh!“, schallten millionenfach Tropfenstimmen durch das gigantische Wassergewölbe.

Weit vorne sah ich die beiden mächtigen Schleuseneingänge. Hoch und hell beleuchtet. Himmelblau und kreisrund. Polarweiß und viereckig. Der Frage von Rainer Celsius hatte auch ich mit einem lauten „Ja!“ zugestimmt.

„Gut! Dann hört jetzt genau zu! Ich werde mich nicht wiederholen!“, befahl die eiserne Stimme des unsichtbaren Botschafters.

Nach diesen ermahnenden Worten war es in der riesengroßen Versammlungshalle so unglaublich still, dass man jeden Tropfen hätte platschen hören können. Als die Worte des Botschafters dann laut und abrupt dieses unheimliche Schweigen zerrissen, wären viele junge Wassertropfen – so wie auch ich – vor lauter Schreck beinahe umgepurzelt.

„Volk der Wassertropfen! Hört! Hört mir zu! Die in der ‚Globalen Verordnung für Wasserwesen‘ umfangreichen und gesetzlich angeordneten Wetterbestimmungen für die sogleich beginnende Gewitteraktivität besagen: Alle gesunden, schlanken und jungen Wassertropfen begeben sich rechts der Wasserwand durch das runde, blaue Wasserportal in die Regenkammer! Alle kranken, dicken und älteren Wassertropfen müssen links der Wasserwand durch das eckige, weiße Eisportal in die Eiskammer! Schlank geht vor alt!!! Dick geht vor jung!!! Das vom Globalen Wettermeister bestimmte ‚Sommergewitter Nr. 22‘ wird in wenigen Minuten beginnen. Beeilt euch beim Hineingehen! Beide Schleusen, Wasser- und Eisschleuse, werden in Kürze geöffnet! Ungehorsam wird unwiderruflich mit Gefängnis in der Hitzekammer bestraft! Also, Volk der Wassertropfen! Macht euch bereit für euren Einsatz!“

„Macht euch bereit!“, wiederholte der Botschafter schrill, fordernd und unumstößlich!

„Ich euer Botschafter Rainer Celsius, und unser Globaler Wettermeister wünschen euch allen einen Guten Flug und eine sichere Landung auf der Erde! Donner und Blitz werden euch begleiten. Auf Wettersehen!“

„Aus! Ende! Basta!“, schnaubte Hoo entrüstet. „Das waren seine gnadenlosen, ernüchternden Worte. Ich, äh, fiel aus allen Wolken! Begreift ihr, was das für mich bedeutete? Begreift ihr das? Birne? Mucks? Das, äh, sollte meine Bestimmung sein?“ Ein zornmütiges Aufblitzen war in seinen Augen zu erkennen. „Äh, nur weil ich so dick geworden bin und vielleicht ein wenig tollpatschig erschien, sollte ich zusammen mit den vielen kranken, dicken und älteren Wassertropfen in die Eiskammer?“

„In die Eiskammer!“, plärrte Hoo noch einmal und zitterte vor Aufregung am ganzen Leib.

„Nur ruhig Wasser, Hoo. Bleib cool. Wir sind ja bei dir“, versuchte Birne besänftigend auf ihn einzuwirken. Das Körperzittern ihres aufgebrachten Regentropfenfreundes hatte sich wie ein leichtes Vibrato auf ihre piepsige Stimme übertragen. Wie von selbst klammerte sie sich fester an ihren Mucks. Dann stupste sie ihm merklich in die Seite. In drängendem Zitterton flüsterte sie ihm in die Ohrmuschel: „Sag' doch auch etwas, Mucksischatz, bitte!“

„Oh. Ja, ge-genau! Jetzt nur nicht aufregen!“, stammelte Mucks. „Hoo, es ist ja vorbei. Hier bei uns gibt es glücklicherweise keine Kammern, welcher Art auch immer. Du hast also nichts mehr zu befürchten! Nein, nichts, – hm, rein gar nichts!“

Hoos Körpererregung hatte sich leicht abgeschwächt. Stattdessen wechselte sein Gesicht chamäleonrasch die Farbe.

„Ähm, lieber guter Hoo, was ist denn dann in der Eiskammer geschehen?“, wollte Birne nun wissen. Sie war aufs Äußerste gespannt.

„Äh, d-das, das war sooo sch-sch-schrecklich!“, stotterte Hoo fahlbleich. Ziemlich aufgewühlt fuhr er mit seiner abenteuerlichen Geschichte fort.

„Wisst ihr, d-da, da, äh, werden a-alle Tropfen zu Hagelkörnern vereist, um hinterher als heftiger Hagelschauer auf die Erde niederzuprasseln. Stellt euch das doch mal bildlich vor? Ich, äh, der liebe, gute, junge Hoo, der nie etwas Böses getan hat und auch niemandem etwas zuleide tun will, sollte als extradickes Hagelkorn unter einer Meute Hagelschläger auf die Erde fallen und Schaden anrichten! Vielleicht mit allen anderen ein Getreidefeld vernichten? Ein Auto zerdellen, oder, äh, ein Dachfenster einschlagen? Gar ein kleines, unschuldiges Insekt erschlagen? Wer weiß, vielleicht hätte ich nicht nur etwas beschädigt? Genauso hätte ich mich dabei auch selbst verletzen können? Schlimmer noch, wäre ich, äh, womöglich als Hagelkorn zu Tode gekommen?“

In seinen Adern kochte das Wasser. Sein kleines Herz klopfte so heftig, dass Birne und Mucks es nicht nur hören, sondern auch spüren konnten. Er hatte sich so in Rage geredet, dass sein ganzer Wasserkörper zitterte und erbebte.

„NIEMALS!!!“, stieß Hoo einen gellenden Schrei aus. Wutentbrannt, ja wie von Sinnen, sprang er auf. Er stampfte mit seinen kurzen, drolligen Wasserfüßen so fest auf die Oberflächenschale der Apfelsafttankstelle, dass es aus beiden Trinkhalmen nur so spritzte.

Zutiefst erschrocken hüpften Birne und Mucks hinab auf die glatte Apfelfläche. Gar verängstigt huschten sie hinter den braunen Blütenstängel in die Mulde. Beinahe wären sie auf der glitschnassen Schale des Apfels auch noch ausgerutscht.

„Oh, äh, Himmel, Apfelsaft und Zornausbruch! Birne, Mucks, ich, äh, wollte euch keinen Schrecken einjagen. Verzeiht mir bitte mein zorniges Aufbrausen. Da, äh, ist wohl mein Temperament mit mir durchgegangen“, entschuldigte sich Hoo sofort und geradeheraus, nachdem ihm aufgefallen war, was er im ungewollten Moment heftigster Erregtheit angerichtet hatte. „Vor lauter Aufregung habe ich, äh, ganz vergessen, dass ihr auf mir sitzt. Das war dumm von mir. Äh, ich bitte euch sehr, ihr lieben Blattläuse, kommt doch wieder her“, flehte Hoo – und weinte. Dicke Tränentröpfchen quollen aus seinen himmelblauen, leicht geschwollenen Augen. Nur allmählich nahm seine Gesichtsfarbe wieder ihren ursprünglichen, bläulichen Teint an.

Zuerst zögerten Birne und Mucks. Doch als Hoo nicht aufhörte, bitterliche Tränen zu vergießen, trauten sie sich wieder aus ihrem Schlupfwinkel hinter dem Blütenstiel hervor. Langsam krabbelten sie zu ihm hin. Behutsam streichelten sie über seine tränenfeuchte, blanke Haut.

„Ach du lieber Himmel!“, stieß Birne mitfühlend aus. Sie schlug die Hände über ihrem Köpfchen zusammen und suchte nach tröstenden Worten. „Das muss ja voll schlimm für dich gewesen sein!“

„Ja, schlimmer als voll schlimm!“, sagte Mucks. Sie wurden beide noch grüner im Gesicht, als sie es von Natur aus schon waren. Gerührt und voller Anteilnahme schauten sie zu ihm hoch. Es war ihnen jedoch auch anzusehen, dass sie vor Neugier fast platzten.

„Ja, aber, Hoo“, meldete sich Mucks mit gedämpfter Stimme, „hast du denn nicht versucht, dich dagegen zu wehren und das Missverständnis aufzuklären, um den Schrecken der Eiskammer doch noch irgendwie zu entkommen?“

„Freilich Hoo, unbedingt“, piepste Birne kühn. „Du, als guter Tropfen, hättest doch zum blauen Schleuseneingang laufen können? Ähm, ich meine, du wusstest doch, dass da für dich etwas schiefläuft. So wäre es vermutlich ein Leichtes gewesen, die ungerechte Entscheidung einfach nicht zu beachten?“

„Um Himmelswillen, nein! Wie sollte ich? Daran wagte ich, äh, gar nicht zu denken! Beschwerdestellen sind in Wetterhallen nirgends eingerichtet. Jedes Fehlverhalten meinerseits wäre töricht und zwecklos gewesen. Ich, äh, konnte nicht entrinnen!“, schluchzte Hoo. Sorgsam wischte er sich dabei das Tränenwasser aus seinen verweinten Augen. „Läuse, glaubt es mir, das war, äh, echt unmöglich! Hätte ich mir mit meiner Körperfülle erlaubt in die Regenkammer zu gelangen, wäre ich in flagranti erwischt und aufs Allerschärfste bestraft worden. Dafür bin ich eine viel zu ehrliche Haut, und die ist halt, äh, leider, mehr als mollig! Wisst ihr, die allerschlimmste Strafmaßnahme für mich als aufrichtiger, junger Wassertropfen wäre gewesen, in die Hitzekammer eingesperrt zu werden, qualvollen Durst erleiden zu müssen, oder, äh, gar jämmerlich zu verdampfen!“

„Beim grünen Barte aller Blattläuse! Das ist so entsetzlich!“, erregte sich Mucks. Er schüttelte sein kleines, grünes Köpfchen und schaute himmelwärts. „Regenkammer! Eiskammer! Hitzekammer! Strafkammer? Ihr habt aber äußerst strenge Regeln da oben, im Wolkenreich! Und es gab wirklich keinen Ausweg? Auch nicht den klitzekleinsten?“

„Auch nicht den klitzekleinsten, nein. Absolut nicht!“, beteuerte Hoo noch einmal. „Die geltende Gesetzgebung gegenüber uns Wasserwesen ist in diesem Fall absolut starr und himmelschreiend ungerecht. Da war nichts zu machen! Sozusagen unanfechtbar!“ Entschieden setzte er noch eins drauf, indem er erklärte: „Sollte ich irgendwann einmal, wie und wann auch immer, ins Wolkenreich zurückgelangen, werde ich all meine mir innewohnenden Kräfte in Gang setzen, um an Ort und Stelle beim zuständigen Gremium vorzusprechen. Es ist unbedingt notwendig, einige durchgreifende Gesetzesänderungen anzuregen, die diese völlig unhaltbare Regelung sowie weitere Diskriminierungen für uns Tropfen ein für allemal ausräumen! Die ‚Globale Verordnung für Wasserwesen‘, in der solch untröpfliche, längst überholte Bestimmungen anscheinend noch verankert sind, bedarf dringend einer Entrümpelung! Sie dürfen in unserer modernen Wasserwelt keinen Platz mehr finden! Das Zusammengehörigkeitsgefühl muss gestärkt werden. Da werde ich, so wahr ich Hoo heiße, schon für frischen Wind sorgen und hohe Reformwellen schlagen! Ja, ja, das tue ich! Hundertpro!“

„Das ist ein superguter Gedanke, lieber Hoo“, rief Birne aus. „Absolut einleuchtend – und sicherlich sehr mutig und engagiert. Voll cool!“

„Wirklich toll, ja! Starke Worte. Ein großartiger Vorsatz“, äußerte sich auch Mucks dazu. Er überlegte kurz. „Hm, wie sagt man doch gleich? Solidarisch?“

„Solidarisch! Sehr richtig, Mucks“, bestätigte Hoo. Er war bass erstaunt über den bemerkenswerten Wortschatz und das beachtliche Wissen dieser winzigen, drolligen Lebewesen. „Schließlich sind wir uns doch gegenseitig verpflichtet, nicht wahr? Wollen wir denn nicht alle gut behandelt werden, in Freiheit, sozialer Gerechtigkeit, globaler Sicherheit, in Frieden und in Würde leben – und nicht nur existieren, auf diesem einzigartigen blauen Planeten, unser aller Mutter Erde und Wasser?“

„Natürlich wollen wir das!“, antworteten die Blattläuse wie aus einem Mund, als wäre es ihnen ebenso ein persönliches Anliegen.

„Doch wie es scheint, geschehen auch noch Wunder“, stieß Birne frohgemut hervor. Ihre Äuglein funkelten. Wie eine Glücksfee fuchtelte sie dabei mit ihren putzigen Händchen vor ihrer und Mucks' Nase herum. Hoo rief sie zu: „Denn sonst, mein lieber Hoo, wärst du ja jetzt nicht hier bei uns. Stimmt's?“

„Ja, ihr Lieben, zum Glück! Das ist wohl wahr“, antwortete Hoo beruhigt. Sanft lächelnd stimmte er den beiden zu, die, wie er feststellte, so grün hinter den Ohren gar nicht waren. Dann dachte er still und in sich gekehrt über irgendetwas nach. Birne und Mucks warteten geduldig, bis er sich wieder zu Wort meldete.

„Liebe Blattlausfreunde, das, äh, schier Unfassbare passierte erst einige Zeit später! Das Glück hatte riesige Flügel! Ich, äh, werde es euch gleich erzählen. Doch lasst mich bitte erst was trinken. Ich brauche dringend eine innere Erfrischung. Ich habe trockene Lippen und verspüre mächtigen Durst.“

„Oh ja, Hoo“, seufzte Birne. Ihren Läusemann stupste sie mit goldig blitzenden, hungrigen Augen an. „Wir sollten auch wieder etwas zu uns nehmen. Meinst du nicht auch, mein lieber, guter Mucksischatz?“

Dieser untrügliche Blick, dachte Mucks. Ihm war sofort klar, worauf sie hinauswollte. „Sowieso, mein Birnchen, das ist die erfrischende Idee!“ Etwas befangen guckte er zu Hoo hoch, räusperte sich und fragte ihn: „Hoo? Dürfen wir bitte auf deinen Bauch zurückkrabbeln? Dort war es vorher so gemütlich. Liebend gerne würden wir auch noch einmal von deinem köstlichen Wolkenwasser trinken, wenn du es uns bitte erlaubst?“

„Aber ja, sehr gerne sogar. Da freu ich mich!“, rief Hoo ihnen zu. „Äh, wartet! Vorher mache ich es mir selbst wieder bequem.“ Gesagt, getan. „So! Bitte sehr, kommt nur rauf und bedient euch. Trinken wir auf unsere Freundschaft! Und, äh, danke, liebe Birne, lieber Mucks, danke dass ihr mir meinen ungewollten Wutanfall verziehen habt.“

Sein zuvor heiß gelaufener Gemütszustand hatte sich abgekühlt und stabilisiert. Hoo benahm sich wieder vollkommen normal.

Birne und Mucks kehrten freudig zurück auf seinen Wasserbauch. Sie waren durstig. Sogleich labten sie sich an seinem wohlschmeckenden Wolkenwasser. Durch die heftige, innere Aufwallung, ja tiefe Empörung, die Hoo ereilt hatte, war sein Wasser etwas warm geworden. Gleichwohl blieben Qualität und Geschmack voll erhalten. Dem munteren Blattlauspärchen mundete sein Körpertrunk nach wie vor erstklassig.

Hoo schnappte sich einen Trinkhalm. Lässig führte er die runde Öffnung an seinen Mund. Schlürfend gönnte er sich einige tüchtige, wohltuende Schlucke. „Aaaahhh, tut das gut!“, brummelte er zufrieden. „Das ist schon eine prima Sache, so eine Apfelsafttankstelle! Da muss ich mir, äh, gleich nochmal ein paar kräftige Schlucke genehmigen.“

Letztendlich, nach seinem lauten, fast schon obligatorischen Rülpsen und Entschuldigung sagen, klinkte er sich umgehend wieder in seine noch brühwarme Geschichte ein.

Frisch gestärkt kuschelten sich Birne und Mucks nahe seiner Bauchmulde aneinander. Aufmerksam lauschten sie dem weiteren Verlauf seiner Geschichte, die immer noch spannungsreicher zu werden schien.


„ICH, ÄH, ERGAB MICH ALSO MEINEM MIR AUFERLEGTEN LOS. Meine lieben, und durchweg schlankeren Tropfenfreunde, Spiel- und Wolkenschulkameraden, mit denen ich auf unserer Mutterwolke die gemeinsame, wunderschöne, und unbeschwerte Zeit des Heranwachsens erleben und verbringen durfte, waren in dem Gewimmel längst entschwunden. Auf Nimmerwiedersehen! Unendliche Traurigkeit in mir, schlurfte ich auf dem undurchlässigen, kühlen Wasserboden durch den gigantischen Wassertunnel nach vorne. Als ich endlich vor der großen, eckigen und aus purem Eis bestehenden Schleusenwand stand, hinter der sich die Eiskammer verbarg, war mein Lebensgefühl gleichsam auf Null gesunken. Nie zuvor war mir jämmerlicher zumute gewesen.

Dort herrschte bereits wildes Gedränge, meines Erachtens völlig unnötiges Geschubse und Geplärre. Alle dicken, älteren, und überraschend viele kranke Wassertropfen waren vor dem geschlossenen, hell beleuchteten Eisportal zusammengelaufen.

Erholungsbedürftig und ausgelaugt, gezeichnet und vom Pech verfolgt, taten mir die kranken Wassertropfen besonders leid. Mindestens einmal schon, waren diese Tropfen mit Niederschlägen der Vergangenheit in den von der menschlichen Gesellschaft durcheinander gebrachten, arg belasteten Kreislauf des Wassers oder sonst wohin geraten. Dabei waren sie von Schadstoffen, giftigen Substanzen und Bakterien angereichert und verseucht worden, oder zumindest mit Gesundheitsgefährdenden Verunreinigungen in Berührung gekommen. Hinzu kam der immense Mangel an Sauerstoff und Licht. Die fehlenden Basisenergien machten ihnen derart zu schaffen, dass sie mangels Kraft und Beweglichkeit nicht mehr imstande waren, ihre Funktionen zur Selbstreinigung in Gang zu setzen. Derart entkräftet, traumatisiert und mit sauren, kränklichen Mienen warteten sie auf das Öffnen des riesigen Schleusentors.

Trübe Aussichten, dachte ich. Sollte ich eventuell demselben oder einem ähnlichen Schicksal unterliegen? Stand mir der Eintritt in einen irdischen, gestörten Wasserkreislauf, dauerhafte Schwächung oder gar der Tod durch den Verlust meiner Regenerationsfähigkeit unmittelbar bevor?

Angewidert von der überwiegend wild kreischenden, rüpelhaften Meute und völlig geknickt, stellte ich mich einfach dazu. Ich fühlte mich im Stich gelassen! So was von betrogen! Ich kam mir entwurzelt und verwässert vor, wie ein, äh, aus dem schönen, friedlichen Wolkenleben und von seinen Wasserkameraden abgetrennter, verbitterter Wermutstropfen, äh, dritter Klasse!

Plötzlich fauchte und zischte eiskalter Nebel durch unzählige, kleine Düsen der eckigen Wand aus Eis, die sich gleichzeitig mit ohrenbetäubendem Rauschen und Knarren nach oben öffnete. Die ungeduldigsten Tropfen der vorderen Reihen rannten sofort los. Alle anderen panisch hinterher, in das Innere der vernebelten, überdimensionalen Gefriertruhe. Ich ließ es geschehen und wurde so buchstäblich mit hineingerissen. Kaum über die niedrige Eisschwelle geschubst, rutschten wir auf abschüssiger, spiegelglatter Eispiste ins Ungewisse. Kurz darauf reckte sich uns ein lichtdurchflutetes Röhrensystem aus purem Eis, wie Eiszapfen so klar, entgegen. Hunderte trichterförmiger Öffnungen nahmen uns saugend in Empfang. In Reih und Glied wurden wir aufgestaut!

Es waren die Vereisungsröhren! Kalte Schauer liefen mir über die Haut, als die Vereisung einsetzte und schwadenweise frostige Luft in die langen, engen und transparenten Eiskanäle strömte. Wir konnten uns gegenseitig zusehen, wie der Vorgang des Gefrierens vor sich ging, wie unsere Wasserkörper von immer mehr Eis ummantelt eingeschlossen wurden und unter rauschendem Knistern langsam erstarrten, aneinandergereiht wie zu einer Kette dicker Eisperlen! Hilflos und gefangen!

So veränderte sich mein Äußeres vom dicken, farblosen Wassertropfen zum schneeweiß glänzenden und noch dickeren Hagelkorn! Mir war so eisigkalt. Nach anfänglicher Gänsehaut und heftigem Zittern konnte ich mich kaum mehr bewegen. Meine Gedanken flossen nur noch träge. Mein Atmen verlangsamte sich, wurde schwächer und flacher. Ich fühlte mich geschlaucht. In der wachsenden Angst um mein Leben, das ja eigentlich erst begonnen hatte, betete ich inbrünstig zum Globalen Wettermeister.

Nein! Nein! Nein! Ich wollte noch nicht sterben! Das durfte nicht sein! Nicht so jung! Nicht als Hagelkorn! Und schon gar nicht durch Erfrieren!

Jäh wurde ich aus meinem Gebetsmurmeln gerissen, als ein ungeheurer Schub einsetzte. Mit all den anderen Hagelkörnern wurde ich aus den leuchtenden Vereisungsröhren hinausgeschleudert. In rasender Geschwindigkeit flog ich aus dem Zentrum des dicken Wolkenbauchs in Richtung Erde. Mir war schwindlig. Im Dunkel der riesigen Gewitterwolken und gefangen im Eiskorn konnte ich kaum etwas erkennen. Während ich so durch die unterkühlten Wolken sauste, vernahm ich plötzlich ein dumpfes Röhren, das sich binnen Sekunden zu einem kernigen Brummen und immer lauter werdend zu orkanartigem Getöse steigerte.

‚Auaaahh!‘, schrie ich schmerzvoll auf, als ich kurz darauf völlig unerwartet und ziemlich heftig auf etwas Hartem aufschlug, irgendwo hineinkullerte und leicht angeschlagen liegen blieb. Unter mir hatte ich die volle Dröhnung und um mich herum ein höllisches Inferno. Blitze entluden sich, Donner grollten, Sturmwind heulte und zig Hagelkörner meiner Größe flogen umher. Vom wuchtigen Aufprall tat mir mein Kopf weh. Mein ganzer Körper vibrierte. Ich lag auf dem Bauch und wurde heftig durchgerüttelt. Es kostete mich enorme Mühe, mich mit Hilfe der stark auf mich einwirkenden Vibrationsschwingungen auf den Eisummantelten Rücken zu drehen.

‚Potzblitz und Donnerschlag!‘, brabbelte ich leicht benommen.

‚Globaler Wettermeister, hilf!‘, stieß ich schwer atmend aus und versuchte durch meine dicke Eisummantelung hindurchzugucken, um zu erkennen, wo ich war.

‚Wahnsinn! Das, äh, gibt's doch nicht!‘, stellte ich verblüfft fest.

‚Hagelschauer und Wolkenbruch!‘, brüllte ich völlig aus dem Wölkchen.

Ich war auf einem, äh, Hagelflieger aufgeschlagen, der sich zur Hagelbekämpfung im Einsatz befand und durch die Wolkenbasis flog. Die zweimotorige Propellermaschine kämpfte sich röhrend durch starken Aufwind und wurde von heftigen Turbulenzen hin und her geworfen. Aus Spezialgeneratoren, raketenförmigen Behältern, die an den Flügelenden montiert waren, züngelten kurze, heiße Flammen und erzeugten grünlichgelben Rauch.

Dazu“, erklärte Hoo fachkundig weiter, „wird ein Gemisch aus Silberjodid und Aceton in eine Brennkammer gespritzt und per Knopfdruck vom Cockpit aus im Aufwindbereich heranwachsender Gewitterzellen gezündet. In den so mit Silberjodid geimpften Wolken entstehen Milliarden winzigster Eiskeime. An diesen Eiskeimen lagert sich das unterkühlte Wasser der Gewitterwolken an. Anstelle weniger großer Hagelkörner bilden sich Milliarden kleinster Körnchen, die nach dem Durchfallen der wärmeren, unteren Luftschichten zu Regentropfen schmelzen oder höchstens noch Graupelschauer bilden.“

„Wow! Hey, Hoo, hey!“, unterbrach Mucks flugs seine aus ihm heraussprudelnden Worte. Erstaunt über so viel Fachwissen, rollte er mit seinen grünen Augen. Wenn Birne und Mucks etwas besonders Augenfälliges gemeinsam hatten, dann war es diese Augenfarbe – Malachitgrün! „Du bist aber ein recht gescheiter Tropfen, Hoo! Allen Respekt!“

„Ja, ganz schön schlau, tolles Knowhow!“, piepste Birne anerkennend hinterdrein. „Aber, ach was! Der technische Krimskrams, das ist mir alles viel zu kompliziert. Unsereins blickt da sowieso nicht durch. Wozu auch?“

Mucks erhob seinen winzigen Zeigefinger vor ihrem Gesicht und sprach mit resoluter Stimme: „Nichtsdestotrotz, mein liebes Birnchen, gell? Woher unser lieber Hoo das alles weiß, das interessiert dich doch bestimmt auch?“

„Na, und ob! Ich brenne darauf, es zu erfahren!“, flötete Birne daraufhin höchst wissbegierig.

Dann schauten beide erwartungsvoll zu Hoo auf, damit er es ihnen hoffentlich auch verklickere.

Hoo hatte unterdessen den kurzen Plausch der Blattläuse genutzt, wieder einmal aus dem Trinkhalm zu schlürfen. Natürlich überhörte er dabei nicht, was die beiden miteinander tratschten. Er schluckte den Rest des köstlichen Apfelsafts hinunter und sagte schmunzelnd: „Soso. Äh, ihr wollt also wissen, woher ich dickes, kluges Tröpfchen soviel über die Hagelfliegerei weiß?“ Seine himmelblauen Augen vergossen den Glanz von Wissensdurst und Leidenschaft.

„Jaaahh!“, riefen die Blattläuse einstimmig. Rührig wackelten sie dabei mit ihren blankgrünen, nur spärlich behaarten Köpfchen.

„Nun, äh, ich habe das alles im Wetterkunde-Unterricht gelernt“, antwortete Hoo voller Stolz. „Wisst ihr, äh, sobald man als neugeborenes Tröpfchen drei Tage alt ist, darf man die Wolkenschule besuchen. Wissensdurstig wie ich bin, äh, habe ich die Möglichkeit des frühen Lernens und Erlebens natürlich sofort genutzt. Fast jeden lieben, langen Tag habe ich mich dort rumgetrieben, um soviel wie möglich von der Welt zu erfahren und in mich aufzusaugen. Das war doch quellwasserklar!“

„Wetterkunde-Unterricht? Wolkenschule?“, überlegte Mucks angestrengt. Verdutzt guckte er wieder einmal himmelwärts. „Ach ja, richtig, ich erinnere mich. Davon hast du anfangs schon mal was erwähnt.“

„Aber hallo! Jetzt bin ich aber voll neugierig, wie das mit der Wolkenschule vor sich geht!“, warf Birne ungeduldig ein. Keck traute sie sich, mit ihrem Zeigefinger mehrmals auf Hoos Bauch zu tippen.

Hoo lachte hellauf los. Sein dicker Wasserbauch zuckte und wackelte. „Ho, ho, ho, ho, ho! Birne, hö-hörst du bitte damit auf! Da bin ich doch so kitzlig. Du bist aber ganz schön frech. Ha, ha, ha, ha, ist ja gut, ich, äh, hä, hä, erzähl’s euch ja!“

Birne und Mucks hielten sich fest, tuschelten kurz miteinander und grinsten sich an. Sie freuten sich, dass sie es geschafft hatten, die betrübte Stimmung ihres neuen, wunderbaren Freundes wieder aufzuhellen.

Hoo räusperte sich. „Okay, ich will mal versuchen, euch das irgendwie, äh, begreiflich zu machen.“

„Wir hören und schweigen“, piepsten die Blattläuse zufrieden. „Versprochen!“

„Äh, in Ordnung.“ Hoo streckte seinen Zeigefinger in die Höhe und kräuselte die Stirn. „Also, aufgepasst, meine lieben irdischen Freunde!“ Birne und Mucks nickten und waren ganz Ohr.

„Je nach Größe, Dichtigkeit und Art der Wolke sind überall kleine oder größere Bildungs- und Kommunikationszentren für wissensdurstige, lern- und bewegungsfreudige Wassertropfen, sogenannte ‚www‘-Räume eingerichtet. Innerhalb dieser unterschiedlich gestalteten, offen zugänglichen und flexibel sich verändernden Aktionsräume und Plattformen, die alle aus Wasser, Schnee oder Eis bestehen, werden von erfahrenen und ausgewählten ‚Meistertropfen‘ Seminare und Vorträge gehalten, Schulungen und offene Workshops durchgeführt. Häufig werden Film- und Bildershows gezeigt, wie auch Wassersportwettbewerbe ausgetragen.

Zum Beispiel lief, äh, vor einigen Tagen noch, im www-Raum ‚Weltausstellungen – Weltwunder – Weltmeisterschaften‘ ein absolut sehenswerter Farbfilm über ‚Die sieben neuen Weltwunder‘, der von dem Weitgereisten und Hochgebildeten Meistertropfen, namens Wally Wender höchstpersönlich vorgestellt und dokumentiert wurde. Ich war sagenhaft begeistert!

Ganz genau erinnern kann ich mich auch noch an die hochinteressante Bildprojektion über Hagelabwehr im www-Raum ‚Wolken-, Wind- und Wetterkunde‘. Äh, Professor Harry Vogl, einer der bekanntesten Meistertropfen im Wolkenreich, berichtete über die Hagelbekämpfung. Ihm verdanke ich dieses fundierte Wissen. Er erzählte von stets einsatzbereiten Flugzeugen, deren Piloten, und von schlimmen Hagelkatastrophen. Auch zeigte er uns ergreifende Luftaufnahmen von hagelträchtigen Wetterlagen.“

„Voll fett, ey! Supercool! Da ist echt was geboten in eurem riesigen Wolkenreich da oben!“, zeigte sich Birne hingerissen. Tüchtig klatschte sie in ihre Händchen.

„Ja, Hoo, das ist schon fantastisch! Kaum zu glauben!“, äußerte sich Mucks, wieder mal voll beeindruckt. Er malte sich aus: „Gäbe es solche Bildungszentren hier bei uns in unserem Apfelbaum – ich stelle mir dabei auf jedem Apfel einen anderen Schulungsraum, mit immer wieder neuen und für uns interessanten Wissensthemen vor –, ich glaube, da wären wir ständig auf Achse, gell, Birne?“

„Oh, ja, mein Liebster, bestimmt wären wir das“, bestätigte Birne, „weil wir doch so furchtbar neugierig sind! Doch wenn dem so wäre“, fügte sie noch stutzig hinzu, „hätten wir ja gar keine Zeit mehr zum Fressen und Saugen! Ohne Fressen? Ohne Saugen? Nein, das würde mir keinen Spaß machen. Außer, es wäre dafür gesorgt, dass es zum Gucken auch immer was Leckeres zum Saugen und Knabbern gäbe? Das wäre dann genial!“

Hoo und Mucks lachten herzhaft über ihre juxige Äußerung. Sie jedoch senkte, ruckzuck und ohne lange zu fragen, ihr Köpfchen und begann unbekümmert ein übriges Tröpfchen Wolkenwasser aus Hoos Bauchmulde aufzusaugen.

Mucks schien ihr argloses Benehmen etwas peinlich zu berühren. Er wusste nicht so recht, ob Hoo es überhaupt noch als angenehm empfand, wenn sie sich einfach so von seinem kostbaren Wolkenwasser bedienten.

Mucks' plötzliche, sentimentale Gehemmtheit war jedoch der regen Wachsamkeit von Hoo nicht entgangen. So bedeutete er ihm mit fast schon liebevoller, aufmunternder Stimme: „Nur zu, lieber Mucks. Keine Sorge. Erfrischt euch wie ihr wollt. Ich habe noch reichlich Wasser gespeichert und heute meine Spendierhosen an!“

„Ohh, danke, lieber Hoo, das ist wirklich lieb von dir.“ Mucks atmete sichtlich erleichtert auf. Der ungenierten Sauglust seiner süßen Birne schloss er sich nun durstig, jedoch nicht ganz so gierig, an.

Die wohltuende und sättigende Wassernascherei des putzigen Läusepärchens nahm nur wenig Zeit in Anspruch. Zur Genüge ließ Hoo für seine durstigen Blattlausfreunde sein wohlschmeckendes Wolkenwasser aus seiner Bauchöffnung perlen und fand wieder zurück zum Ernst der Lage in seiner Geschichte. Die wollte er nun in fließendem, ausführlichem Erzählstil zum glücklichen Ende führen.


„NUN, ÄH, ALL DIESE DINGE, die ich im Vortrag von Meistertropfen Harry Vogl über die Hagelabwehr gehört, gesehen, gelernt und aufgenommen hatte, schossen durch meinen vereisten Brummschädel, als ich inmitten dicker Eisenschrauben, irgendwo auf der gepanzerten Tragfläche der fliegenden Kiste lag. Das rhythmische Vibrieren und hochdezible Brüllen der beiden Motoren versetzte mich in eine Art ängstliche Trance. Noch dazu bibberte ich vor Kälte und davor, was wohl noch alles passieren würde.

Allmählich zuerst, doch dann sehr plötzlich, lichteten sich die dunklen Gewitterwolken. Der Pilot steuerte die tonnenschwere Maschine durch die windgebeutelten Luftmassen horizontal hinaus unter strahlend blauen Himmel und gleißendes Sonnenlicht. Auf einmal schraubte sich der Hagelflieger steil in die Höhe und überschlug sich zu einem kunstvollen Looping. Ich geriet in Bewegung und trudelte kopfüber von der stählernen, metallic silbernen Tragfläche. Die äußere Hagelkornschicht war schon ein wenig geschmolzen. Ich konnte gerade noch sehen, wie der riesige Blechvogel seitlich abdrehte, eine scharfe Kehre beschrieb und zurück unter die finstere, gigantische Wolkenwand röhrte.

Während ich mich im freien Fall befand und der Erde entgegenraste, wurde mir immer wohliger zumute. Die Luft erwärmte sich. Stille toste in meinen Ohren. Und, ich konnte nun richtig spüren, wie mein dicker, weißer Eispanzer rasch hinwegschmolz. So erlebte ich die einmalige Verwandlung vom dick vereisten Hagelkorn zu einem lauen, hellblau schimmernden, edlen Regentropfen! Sofort wurde mir bewusst, dass ich nicht als Hagelkatastrophentropfen enden würde!

Mich durchströmte ein, äh, unbeschreibliches, andauerndes Glücksgefühl. Meine geistige Frische lebte allmählich wieder auf. Körperlich war ich eher noch schwach. Meine ehemalige Farblosigkeit hatte sich zu himmlischen Blautönen verwandelt. In mir erwachte ein noch nie verspürtes Gefühl von Daseinsfreude. Ich begann, fest an mich zu glauben, und fühlte mich sogleich wieder als der, der ich schon immer gewesen bin: ein dicker, friedvoller, lebensfroher, bewegungsfreudiger, wissensdurstiger und, na ja, bisweilen vielleicht auch ein, äh, etwas tollpatschiger Tropfen! Das war Glück im Unglück! Das war perfektes Timing, und, äh, meine wundersame Rettung!

Ganz allein fiel ich lautlos und als freudetrunkener Regentropfen der Erde entgegen. Über mir wölbte sich der Vergissmeinnicht-blaueste Himmel, den ich je gesehen hatte, und unter mir, äh, oh – Obstbäume! Ich sauste einer Obstbaumpflanzung entgegen!

Platschend landete ich, ohne mich zu verletzen, auf einem großen grünen Blatt in der üppigen Krone eines Apfelbaumes. Ich war so glücklich und erschöpft zugleich, dass ich in meinem Freudentaumel erst einmal saft- und kraftlos von Blatt zu Blatt rutschte. Als ich den ersten Halt und ein Plätzchen fand, um eine wohlverdiente Verschnaufpause einzulegen, befand ich mich bereits einige Astgabeln weiter unten, inmitten des dichten Blätterwerks.“

Hoo holte tief Luft. Er gähnte, reckte und streckte sich. Dann bog er den Trinkhalm zu seinem Mund und saugte tüchtig Apfelsaft daraus. Nach einem lauten Schmatzer und einem genüsslich folgenden „Aaaahh“ schleckte er mit der Zunge über seine vollen Lippen. Ein kurzer Rülpser blieb nicht aus.

Mit schier feierlicher Stimme verkündete er: „Nun, äh, liebe Birne, lieber Mucks, das war meine bisherige Lebensgeschichte. So ist's gewesen! Momentan bin ich erst einmal hier bei euch im Apfelbaum. Das ist jetzt Gegenwart und Realität! Von nun an steht mein weiteres Leben, äh, ich weiß nicht, vielleicht da oben, in den Sternen?“

Still und bewegt richtete Hoo seinen Blick zum unendlichen Firmament, an dem sich, zusammen mit der fortschreitenden Dunkelheit, immer mehr funkelnde Sterne zeigten. Allerdings blieb ihm durch das dichte Blattwerk des Apfelbaumes die freie Sicht, so, wie er sie auf seiner weißen, schwerelosen Sommerwolke gewohnt war, verwehrt. Mit innerer Gelassenheit transferierte Hoo das gewölbte Sternenzelt einfach vor sein geistiges Auge und ließ dabei seine vielen Gedanken noch ein wenig schweifen.

Das Blattlauspärchen hatte den ungemein fesselnden Schilderungen seiner wahrhaft abenteuerlichen Erlebnisse bis zum Schluss aufmerksam gelauscht. Total beeindruckt und ergriffen, aber auch schon ziemlich müde, mit schweren Augenlidern, saßen sie aneinander gekuschelt auf seinem Bauch. Sekundenlang, – und mucksläuschenstill!


DIE ABENDDÄMMERUNG HATTE SCHLEICHEND ihr dunkles Kleid über den lieblichen Obstbaumhain ausgebreitet. Das geschäftige, bisweilen laute Gezwitscher der heimischen Vogelarten war schon gänzlich verstummt. In den Baumkronen ließ der laue Südwestwind die Blätter rascheln. Feldgrillen zirpten im Wiesengrund. Ganz in der Nähe musste sich ein Teich oder ein Biotop befinden, denn deutlich hörbar hatten mehrere quakende Wasserfrösche ein nächtliches Rufkonzert angestimmt.

Majestätisch hatte sich der Mond im Osten über die sanften Hügel geschoben. In zunehmender Vollmondphase schon kugelrund und kräftig orange leuchtend, hatte er den ungewöhnlich warmen Altweibersommertag in unwirkliches Licht getaucht. Jetzt schmückte sein silbriger Schein den sternenübersäten Nachthimmel. Der lange und ereignisreiche, sommerwarme Tag, einer der letzten in diesem Jahr, hatte sich still und leise verabschiedet.

„Woahhh! Unglaublich!“, äußerte sich endlich Mucks mit respektvoller Miene. Er erhob sich von seinem Platz und gähnte. „Hast du heute viel durchgemacht, Hoo!“

„Ja, eine unglaublich mitreißende Geschichte“, fügte Birne hinzu. „Hach, war das jetzt spannend.“ Müde gähnend, doch voller Bewunderung, klatschte sie kaum hörbar wieder einmal in ihre winzigen Hände. „Ähm, Hoo, du hattest ja im wahrsten Sinne des Wortes einen ‚Glücksfall‘ aus den Wolken!“

Hoo lächelte. „Oh, ja, äh, vortrefflich formuliert, liebe Birne. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie froh und glücklich ich bin, hier zu sein. Für mich jungen Tropfen war das wie ein schockierender Albtraum und eine ungewisse Odyssee mit glimpflichem Ausgang in einem! Doch allmählich, äh, sollte ich darüber nachdenken, wie es weitergehen soll. Hier bei euch, in eurem Apfelbaum, kann ich ja leider nicht mehr allzu lange verweilen.“

Hoo rieb sich die schläfrigen Augen und gähnte. „Uuaaahh, – jedenfalls, äh, bin ich jetzt zum Umfallen müde!“

„Du liebe Güte, du hast ja so recht, Hoo“, piepste Birne. „Es ist ganz schön spät geworden. Wie gut, dass der Mond scheint und uns noch genügend Licht spendet.“ Aufmunternd stupste sie ihren Läusegatten an: „Mucksischatz, wir sollten schleunigst eine geeignete Schlafstelle für uns und unseren lieben Regentropfenfreund ausfindig machen!“

„Ja, klar, natürlich, das tun wir“, antwortete Mucks gedehnt. Suchend, die Augendeckel schwer, guckte er um sich. „Ahh, da oben! Hab schon ein Plätzchen erspäht. Komm, mein Birnchen! Wir kriechen unter das große Blatt hier über uns. Und du“, wandte er sich an Hoo, „du legst dich bitte oben drauf. Am besten schläfst du dich erst einmal richtig aus. Morgen früh, wenn wir ausgeruht sind, denken wir gemeinsam darüber nach, wie wir dir helfen könnten, ja? Ganz bestimmt fällt uns dann etwas ein!“

„Das ist wirklich sehr nett von euch, danke“, antwortete Hoo lächelnd. Doch jetzt freute er sich auf eine Mütze voll Schlaf.

„Eine dringende Bitte hätten wir aber noch, lieber Hoo“, rief Mucks ihm augenrollend zu.

„Ja, gerne, äh, stets zu Diensten“, bot Hoo sich gähnend an. „Was ist denn, Mucks?“

„Dürfen wir bitte ganz schnell an dir hochkrabbeln? Das wäre, mit Verlaub, der kürzeste Weg zum Schlafplatz?“

Hoos Erlaubnis kam prompt. „Aber sicher, wenn's weiter nichts ist. Das geht schon in Ordnung.“ Dabei warf er einen blinzelnden Blick auf Birne. „Passt aber auf, dass ihr mich nicht zu sehr dabei kitzelt, okay?“

„Cool. Das ist voll cool! Danke, Hoo“, freute sich Birne.

„Also dann, ab in die Heia!“, sagte Mucks. Er nahm seine Birne fest an der Hand. Ohne lange zu zögern krabbelten die Blattläuse flink an Hoos fülligem Wasserkörper hoch. Von seinem Scheitel aus sprangen sie mit einem kräftigen Satz direkt an die Unterseite des großen Apfelbaumblattes. In kuscheliger Schlafstellung klammerten sie sich daran fest.

„Gute Nacht, lieber Hoo. Wir wünschen dir, dass du richtig gut schläfst!“, piepsten sie ihm noch gemeinsam zu.

„Oh, ja, äh, Gute Nacht, ihr beiden! Das wünsche ich euch auch“, rief Hoo zurück. Ein übermächtiges Gähnen überkam ihn. Mit nur noch halb geöffneten Augen winkte er zu ihnen hoch.

„Und, danke noch mal, dass du uns deine Geschichte so ausführlich erzählt hast“, fügte Birne leise an. „War atemberaubend. Träum was Schönes, Hoo!“ Dann gaben sie sich einen zärtlichen Gutenachtkuss und schlummerten selig ein.


HOO DAGEGEN BEREITETE ES NOCH ETWAS MÜHE, zu seinem ihm von Mucks angebotenen Nachtlager auf die Oberseite des Blattes zu gelangen. All seine momentane Kraft und Geschicklichkeit waren gefordert. Erst einmal versuchte er, den knorrigen Ast zu erwischen. Dazu hüpfte er ein paar Mal in die Höhe und streckte sich in die Länge. Dann kosteten ihm einige Klimmzüge viel Puste. Danach vollführte er noch einen kurzen Balanceakt über den Blattstiel. Schließlich hatte er den ausgewählten Schlafplatz auf dem dunkelgrünen Blatt erreicht. Mit gefalteten Händen machte er es sich rücklings in der Blattmitte bequem.

Ein neugierig heranfliegendes Glühwürmchen leuchtete ihm noch freundlich und lautlos zur guten Nacht.

Hoo schloss seine Augen. Trotz großer Müdigkeit und letzter Anstrengungen konnte er nicht gleich einschlafen. Immer wieder, in einer Flut von Erinnerungen schwimmend, spulten sich die Szenen der schicksalsträchtigen Ereignisse dieses Tages in seinem Kopf ab. Insbesondere der dramatische Sturzflug, den er als Hagelkorn aus dem Wolkenbauch wie durch ein Wunder überlebt hatte.

Jetzt, im Nachhinein, empfand er die spektakuläre Wandlung vom ursprünglichen Wassertropfen über das weiße Hagelkorn zum edlen, himmelblauen Regentropfen nicht nur als körperliche Fortentwicklung und erfrischende Regeneration, sondern zugleich auch als das Erreichen eines höheren geistigen und spirituellen Reifegrads. Und noch eins wurde ihm ganz plötzlich klar: Durch die Verwandlung von farblosem Flüssigwasser in den Gefrierzustand Eis und schließlich zum edelblauen Regentropfen hatte er einen totalen Erneuerungsprozess durchlaufen. Wahrscheinlich kam dies auch vielen kranken Wassertropfen, deren Funktionen zur Selbstreinigung kontaminiert und völlig geschwächt waren, irgendwie als ganzheitliche Genesung zugute.

„Ein Heilungsprozess allererster Güte! Wie wasserwunderbar!“, lief die freudvolle Erkenntnis leise über seine Lippen. Somit hatte sich seine Beschwerdeklage, die er vor dem zuständigen Gremium im Wolkenreich eines Tages vorbringen wollte, ganz von selbst erledigt und in Luft aufgelöst.

Neben den chaotischen Empfindungen, die in seinem freundlichen Herzen und seinem hellen Verstand umherwirbelten, machte sich auch noch ein anderes Gefühl bemerkbar, das die erlebten Geschehnisse nachhaltig linderte. Es war das unbeschreibliche Gefühl, ein Sieger zu sein. Ja, ein Sieger! Am heutigen Tag, inmitten des schrecklichen Gewitters, war Hoo dem Tod bildlich so nahegestanden, dass er sich jetzt vor nichts mehr fürchtete. Seine Ehrfurcht vor dem Leben war noch stärker geworden. Mit seiner wiederaufkeimenden Energie wollte er sich den schon seit seiner Geburt leidenschaftlich gehegten Wunsch erfüllen, sein Traumziel doch noch zu erreichen: den größten, schönsten und wasserreichsten Swimmingpool auf Erden – das weite Meer!

Trotz oder gerade wegen der unglaublichen Ereignisse, die dieses Ziel in weite Ferne gerückt hatten, war er zu der festen Überzeugung gekommen, dass er es schaffen könnte! Sei ihm dann auch noch das Glück gewogen, würde er sicherlich schon bald in ein intaktes, fließendes Gewässer geraten. Auf seinem Weg zum Meer, ja spätestens in den unendlichen Weiten des Ozeans, würde er bestimmt Tropfenkontakte in Hülle und Fülle knüpfen können und bewegungsfreudig an allerlei Wasserspielen teilhaben.

Aus dem Meer, der Urbrühe des Lebens, war er gekommen und als Wasserdampf zu seiner Mutterwolke aufgestiegen. Durch sie, in ihr und den unglaublichen Vorgang der Wandlung hatte er sich zum lebensfähigen, starken Regentropfen gemausert.

Mit diesen weit zurückreichenden Gedanken und einem innigen Dankgebet auf den Lippen war er zur Ruhe gekommen. Leises Schnarchen deutete darauf hin, dass auch er nun eingeschlafen war.


HOO

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