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RETTUNGSAKTION

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Durch den melodisch flötenden Gesang eines Amselmännchens, das hoch oben im Apfelbaum saß und den Aufgang der Sonne am wolkenlosen Morgenhimmel begrüßte, erwachte Hoo aus seiner ersten Erdennacht. Nur langsam kam er aus seinen Träumen zu sich, fühlte sich dann aber recht frisch und ausgeruht.

Einige flinke Sonnenstrahlen blinzelten bereits warm und heiter durchs grüne Blätterwerk. Hoo lag ausgestreckt auf der schattigen, schlafgemütlichen Oberfläche des seidig glänzenden Apfelbaumblattes. Still und entspannt, die Augen noch geschlossen, sog er die kühle Luft des taufrischen, schwachwindigen Septembermorgens ein. Er horchte auf.

Woher kam so unvermittelt dieses leise, seltsame Geräusch? Ganz in seiner Nähe, eher von unten als von oben, ortete er ein Kratzen, Schaben und Nagen. Oder war es ein Knabbern?

Neugierig, was das wohl Merkwürdiges sein könnte, wollte er der Sache auf den Grund gehen.

„Na, dann will ich mal aufstehen“, murmelte er mit munterer Gelassenheit. Doch just in dem Moment, als er seine himmelblauen Augen öffnete und sich, zur ureigenen Tropfenform zusammengezogen, aufrecht hinsetzen wollte, passierte es! Ähnlich wie bei einem Erdbeben, das die Erde spaltet, riss plötzlich das dunkelgrüne Blatt, auf dem er so gut geschlafen hatte, an der Mittelrippe auseinander.

„Uuaaaahhh, Hiiilfe!“, schrie Hoo erschrocken auf. Er zappelte, rutschte und purzelte rücklings durch den Blattriss. Genau zwischen den beiden Trinkhalmen plumpste er auf die Schale der Apfelsafttankstelle! Durch den wuchtigen Aufprall schwappten sofort kleine Fontänen naturtrüben Apfelsafts aus den Trinkröhrchen in die Höhe. Wie eine morgendliche Schnelldusche ergoss sich die kühle Flüssigkeit über seinen Kopf, Gesicht, Arme, Bauch und Füße. Hoo wurde pitschepatschenass!

„Himmiwettersapperlotzefixdonnerlujahmileckstambauchscheißblattvarreckts?“ sprudelte eine kuriose Schimpfkanonade aus seinem Mund. Er wunderte sich über sich selbst, dass er so losfluchen konnte. Leicht verärgert wischte er sich mit den Handrücken die klebrige Saftsauerei von Augen, Lippen und Schnorchelpünktchen.

„Hoo! Hoo!“, tönten zwei piepsende Stimmchen zu ihm hinab. Verdutzt schaute er aus seiner misslichen Lage nach oben.

„Tut uns leid! Tut uns leid!“, riefen Birne und Mucks betreten. Dabei baumelten sie lockeren Fußes an der Unterseite des von ihnen angeknabberten Blattes. Wie wild fuchtelten sie mit ihren Händchen umher.

„Meine Güte, Hoo! Ist dir was passiert? Hast du dir wehgetan? Bist du verletzt? Das wollten wir nicht!“, entschuldigte sich Mucks.

„Ja, ja, ähm, ich meine, nein, nein!“, säuselte Birne aufgeregt. „Wir sind untröstlich. Das wollten wir nicht! Das ist allein unsere Schuld, Hoo. Hach, ist das peinlich!“ Kauend atmete sie kurz durch. „Lieber Hoo, wir waren aufgewacht und hatten mächtigen Hunger. So haben wir, wie es halt unsere Art ist, gleich an Ort und Stelle losgefressen. Wie konnten wir bloß vergessen, dass du auf der Blattoberseite schläfst? Ojemine! Bitte, bitte, nicht böse sein, lieber Hoo. Ähm, tut uns ehrlich leid, ganz lausig leid!“.

Dann holten beide tief Luft und riefen wie aus einem Munde: „Wir wünschen dir trotzdem einen wunderschönen Guten Morgen!“

„Ey, was soll das? Ha, ha, ha!“, wetterte Hoo drauf los. „Ihr habt sie wohl nicht alle? Hattet ihr etwa euer Kleinhirn ausgeschaltet?“ Schnaufend hielt er sich an den beiden saftfeuchten Trinkhalmen fest. Mit säuerlicher Miene, doch zum Glück unversehrt, erhob er sich.

„Auch einen schönen, äh, guten Wundermorgen! Ihr seid mir vielleicht zwei lausige Gedächtniskanonen. Heiliges Bimbam! Einen gewaltigen Schrecken habt ihr mir eingejagt! Ich dachte schon, äh, ich, äh ...?“

Hoo grummelte leise vor sich hin. Die Blattläuse kauerten auf der eingerissenen Blattunterseite fest aneinander. Nicht den allerkleinsten Laut wagten sie jetzt, nach diesem Malheur, von sich zu geben.

„Nun, äh, ich hoffe, ihr wollt nicht nur Grünzeug futtern, sondern habt auch ordentlich Durst?“, rief er ihnen triefend vor Saft nach einer Weile zu. „Dann kommt mal schön runter von eurem, äh, Fressplatz und ölt eure Kehlen! Da ihr meinen Schlafplatz ordentlich kaputt geknabbert habt, könnt ihr mir eh gleich Gesellschaft leisten! Allein frühstücken, äh, war noch nie mein Ding!“

Demonstrativ deutete Hoo mit beiden Zeigefingern auf seine übergossene, pudelnasse Regentropfenhaut. Er betrachtete sich von oben bis unten. Kopfschüttelnd lachte er in sich hinein, dann plötzlich hell auf. Scherzhaft brummelte er: „Ich glaub' es nicht! Ich, äh, glaub' es einfach nicht!“ Nachdem er sich etwas Saft vom Leib gewischt hatte, ging er langsam in die Hocke, war wieder guter Dinge und wartete einfach mal ab.

Birne und Mucks hatten seine unverblümte Anspielung, ihm Gesellschaft zu leisten, klar verstanden. So freute er sich spitzbübisch, als sie schwuppdiwupp zu ihm hinabhüpften, auf ihn krabbelten und als Wiedergutmachung unverzüglich damit begannen, den Rest des klebrigen Apfelsafts leckermäulig von seinem Körper zu schlecken. Hoo hielt sich dabei mit einer Hand am Blütenstiel fest. Mit der anderen Hand schöpfte er reichlich verspritzten Saft aus der Stängelkuhle, führte sie zum Mund und schlürfte eifrig den süßen Frühstückstrunk.

„Gar nicht mal schlecht, äh, entzückend!“, meinte Hoo nach einer Weile recht gelassen. „Zuerst hatte ich im wahrsten Sinne des Wortes, äh, einen ‚Durchfall‘. Dann wurde mir unfreiwillig eine saftige Morgendusche zuteil. Und jetzt, äh, werde ich auch noch auf höchst amüsante Weise gereinigt und luftgetrocknet. Freilich muss ich gestehen, dass mir eine, äh, wohltemperierte, nicht zu kalte Wolkenwasserdusche nach einem normalen Frühstück bedeutend lieber gewesen wäre. Versteht ihr das?“

Ohne ihre Saftsaugsäuberungsbemühungen zu unterbrechen, nickten Birne und Mucks. Belustigt gickelten sie über seine humorigen, geistreichen Äußerungen. Sie waren erleichtert und froh, dass ihr dicker Himmelsfreund so ein gutmütiger Tropfen war und sich beim Herabstürzen durch den von ihnen verschuldeten Blattriss nicht weiter verletzt hatte. Sie krabbelten, leckten und saugten. Hoo genoss seine extraordinäre, morgendliche Spezialbehandlung. Das etwas andere Frühstück, nach diesem abrupten Aufstehen, an diesem sehr ungewöhnlichen Ort, schmeckte vorzüglich. Hoo war ein echter Genusstropfen! Nebenher plauderten sie über alles Mögliche. Ständig dachten Birne und Mucks auch darüber nach, wie ihm, der als wundersames Wasserwesen so plötzlich in ihr Läuseleben geplumpst war, wohl geholfen werden könnte.

Sein hochgestecktes Ziel, in einen sicherlich weit entfernten, tropischen Ozean und in dessen globales Strömungssystem zu gelangen oder einem Meer zumindest nach und nach näher zu kommen, war eine ungeheure Herausforderung, die er in erster Linie ganz allein an sich selbst stellen musste! Wahrscheinlich erwarteten Hoo große Anstrengungen und untröpfliche Strapazen. Womöglich musste er gefährliche Abenteuer überwinden und immer wieder gegen seine eigene Unsicherheit, ja, seinen inneren Schweinehund ankämpfen. Seinen ehrgeizigen Traum zu verwirklichen, würde viel Mut, Kraft, Entschlossenheit, eine gehörige Portion Glück und vor allem ‚Wasser‘, genauer gesagt, fließende Gewässer erfordern, soviel stand fest.

Birne und Mucks waren voller Bewunderung für ihren neuen, außergewöhnlichen Freund. Bestimmt würde in ihren winzigen, aber nicht unklugen Köpfchen bald eine hilfreiche Idee reifen, damit Hoo sich zuversichtlich und zeitig, am besten noch heute, auf seine ungewiss lange Reise begeben konnte.


INZWISCHEN WAR ES TAGHELL GEWORDEN. Sattgelb breitete die höher steigende Sonne ihr strahlendes Licht über das Land aus und erwärmte die jahreszeitlich frische Herbstluft. Hin und wieder krähte ein Hahn seinen Weckruf in den friedlich anmutenden Morgen. Der silberne Klang einer Glocke vom wenig entfernten Turm einer Dorfkirche, läutete zur morgendlichen Andacht. Auch bellte irgendwo ein Hund. Ein Pferd wieherte. Mehrere Saatkrähen flogen krächzend über das Obstbaumwäldchen hinweg. Eine Autohupe ertönte, eine menschliche Stimme schrie, und eine Wagentür knallte. Hoo hörte zudem Kindergelächter und hochtourige Motorengeräusche. Dann, aus nicht allzu weiter Ferne, drang kurzzeitig das gleichmäßig monotone Rattern eines Güterzuges herüber. Von beschaulicher Stille konnte vorübergehend keine Rede mehr sein; die Zivilisation war nahe.

Das weit verzweigte Geäst des Apfelbaumes und der von der Nacht noch feuchte Wiesengrund waren Lebensraum für allerlei Getier. Es kreucht und fleucht. Vögel und Insekten, Schnecken und Spinnen, alle waren sie auf den Beinen. Farbenprächtige Schmetterlinge flatterten umher. Langbeinige Weberknechte bahnten sich mühsam ihren Weg durch den dichten Pflanzenwuchs. Emsige Bienen und Hummeln brummten in Blütenkelchen, bestäubten Blumen, rüsselten und sammelten Nektar und Pollen. Reife Äpfel und Birnen, heruntergefallen und aufgeplatzt, verströmten ihren süßlichen, fauligen Duft, der Fliegen, Wespen und Hornissen anlockte.

In der Baumkrone hüpfte eine Schar Spatzen frech umher. Laut und unmusikalisch tschilpten sie um die Wette. Am krummen, gewundenen Stamm kletterte ein eher seltener Apfelbaumgast, ein blaugrau gefiederter, junger Kleiber, auf der Suche nach geeigneter Nahrung, geschickt auf und ab. Unter und auf der sehr rissigen, geschuppten Rinde ließ sich immer etwas Fressbares finden. Mutig und neugierig machte er mit trillerndem Gesang und Lausbubenpfiffen auf sich aufmerksam. Auch Marienkäfer krabbelten vereinzelt über Blätter und an Blattstielen entlang. Vor diesen gierigen Blattlausfressern mussten Birne und Mucks ganz besonders auf der Hut sein. Das Leben im Apfelbaum barg für Blattläuse ständig drohende Gefahren.


HOO WAR MIT SEINEM AUSGIEBIGEN SAFTFRÜHSTÜCK FERTIG. Die sehr spezielle Körperreinigung durch seine Blattlausfreunde hatte ihm gutgetan. Nun saß er am Rand der ausgeschöpften Stängelkuhle und lehnte zufrieden am braunen Apfelstiel. Rundlich und dick, die Hände auf dem vollen, blanken Bauch verschränkt, wippte er wie auf einem Schaukelstuhl lässig vor und zurück.

„Jetzt bin ich aber pappsatt!“, prustete er. „Und, äh, so schön sauber. Dank eurer Putzerei sehe ich aus wie geleckt. Schaut doch mal! Ich habe so viel getrunken, dass der Saft honiggelb durch meinen Bauch schimmert. Und, äh, wenn ich ihn bewege“, schmunzelte er und ließ seine Bauchmuskeln, fast wie bei einem orientalischen Schautanz hüpfen, „höre ich es leise gluckern.“

Die Blattläuse hatten erschöpfende Arbeit geleistet. Vollgesaugt waren sie auf den zweiten Trinkhalm gekrabbelt, um sich ein wenig auszuruhen. Dabei hockten sie Hoo etwa in Augenhöhe gegenüber. Über seine drolligen Bauchbewegungen amüsierten sie sich prächtig. Leise und vergnügt kicherten sie vor sich hin.

„Schön, dass es dir so gut geht“, sagte Mucks und lächelte ihm freundlich zu. „Hm. Von der Menge Apfelsaft, die du getrunken hast, kannst du ja bestimmt tagelang zehren. Schließlich musst du ordentlich bei Kräften sein, wenn du dich auf den Weg machen willst.“

„Ja, lieber Hoo, ähm, es ist jammerschade, dass du nicht bei uns bleiben kannst“, bedauerte Birne zutiefst. „Wir haben dich nämlich so richtig in unsere Herzen geschlossen.“

„Oh, äh, danke, ihr lausig lieben Saftsauger“, beliebte Hoo zu scherzen. Er freute sich wie ein Wasserkönig über die wohlwollenden Worte. „Das ehrt mich wirklich sehr. Ihr seid ein so herziges, hilfsbereites Läusepärchen. Hier bei euch im schattigen, duftenden Apfelbaum gefällt es mir auch richtig gut. Es ist nur, äh, ihr wisst ja, dass ich, äh, dass mein, äh, dass mich, äh ...!“

„..., dass du ein fließfreudiger Regentropfen bist und dich nichts aufhalten kann“, half Birne voller Verständnis nach. Es fiel ihm sichtlich schwer, für seine Aufbruchsgedanken die passenden Worte zu finden. Traurig senkte Birne ihre Augenlider, als sie sagte: „Dich, mein lieber Hoo, ruft das große Wasser, ist es nicht so?“

„Das große Wasser“, murmelte Hoo und lächelte. In Gedanken versunken stierte er auf einmal tranceäugig vor sich hin. Als er mit seinen himmelblauen Augen rollte, war es, als könne man dahinter das Meer rauschen hören. Auf seinen erweiterten Pupillen lag ein seidener Glanz. Ein langes, tiefes Schnaufen durchströmte seinen leicht ausgefahrenen Schnorchel.

Die Blattläuse starrten ihn verwundert an. Nun begann er auch noch undeutlich vor sich hinzumurmeln. Nur durch aufmerksames Hinhören konnten sie ein paar Sprachfetzen erhaschen. Worte, wie „Meersalz“, „schwimmen“, „Wirbel“, „Wellen“, „Ozean“, „Gischt“, „Lagune“, oder gar „Leuchtturm“ ließen eindeutig darauf schließen, dass er sich tagträumerisch in ozeanischen Gefilden bewegte.

Abrupt wurden seine Träumereien unterbrochen. Ein aufgeregtes, hysterisches Amselgezeter, Flügelschlagen und Knacksen im oberen Astwerk holten ihn zurück in die Wirklichkeit.

„Oh, äh, 'Tschuldigung, liebe Freunde.“ Er räusperte sich. „Ich habe wohl gerade etwas fantasiert, wie? Ha, ha, ha, das kann schon mal vorkommen. Was habe ich denn, äh, ich meine, was wollte ich eigentlich sagen?“

Wie ein nachsinnender Gelehrter nahm er eine Art Denkerpose ein, indem er die rechte Hand unter sein rundliches Gesicht führte. Dazu bildete sich auf seiner hohen Stirn die typische Denkerfalte. Kaum eine Grübelsekunde später – Birne und Mucks hingen immer noch mit verdatterten Gesichtern am Trinkröhrchen gegenüber – rief er ihnen wie erleuchtet zu: „Potz Blitz! Äh, jetzt ist es mir wieder eingefallen!“ Begleitet von lebhaftem Gestikulieren sprach er: „Also, äh, erstmal wäre mir echt wohler zumute, wenn ich mich für eure wunderbare Gastfreundschaft irgendwie erkenntlich zeigen könnte. Nur muss ich, äh, leider gestehen, ich, äh – ich weiß nicht wie.“ Hoo schaute Birne und Mucks fragend an. „Und, äh, außerdem ist mir auch immer noch nicht klar, wie ich es anstellen soll, möglichst unbeschadet von hier wegzukommen. Ohne zusätzliche Hilfe ist das leichter gesagt als getan. Ich, äh, kann ja leider nicht fliegen!“ Er machte einen nachdenklichen Eindruck. „Ich bitte euch, liebe Läuse, habt ihr denn wenigstens eine Ahnung, vielleicht irgendeinen Lösungsvorschlag, wie ich das wohl schaffen könnte?“

Birne und Mucks guckten Hoo achselzuckend an. „Null Ahnung, lieber Hoo, null Ahnung!“, piepste Birne leicht beschämt.

„Ja, wir sind untröstlich!“, sagte Mucks. „Leider ist uns noch nichts Konkretes dazu eingefallen. Wir sind aber noch fleißig am Überlegen!“

„Das will ich hoffen! Ich auch, ich, äh, überlege ja auch schon seit den Morgenstunden“, erwiderte Hoo sichtlich angestrengt. Dann jedoch bat er sie mit ruhiger Stimme etwas grundlegend Entscheidendes in ihren Überlegungen zu berücksichtigen. „Also, liebe Freunde, um ehrlich zu sein: Euch jetzt Lebewohl zu sagen, mich mir nichts, dir nichts zum Wiesengrund hinabtropfen zu lassen, um ins feuchtdunkle Erdreich durchzusickern oder dort womöglich von einer Pflanzenwurzel als Wachstumstropfen aufgesaugt zu werden, quasi sang- und klanglos aus eurem Leben zu entschwinden, ist nicht meine Absicht. Schließt diese Möglichkeit von vornherein kategorisch aus, ja? Bitte! Das empfände ich euch gegenüber als äußerst taktlos! Im Übrigen wäre mir dies selbst zu langweilig, erdgebunden und gewöhnlich zugleich! Meine Ansprüche habe ich da schon etwas höhergesteckt. So ich denn schon mal hier bin, möchte ich, so wahr mir der Globale Wettermeister helfe, meinen Weg doch lieber oberirdisch fortsetzen und gerne noch mehr erleben!“

Genau in dem Moment, als Hoo ihnen offenkundig und mutig seinen Reisewunsch mitgeteilt hatte, flog ein Siebenpunkt-Marienkäfer mit leisem Brummen geradewegs auf den stabilen Trinkhalm zu. Gezielt landete er nur ein Stückchen unterhalb der Stelle, wo Birne und Mucks sich aufhielten. Zügig faltete er seine hauchzarten Flügel unter den roten Deckflügeln zusammen. Zweifellos wollte der hübsche Marienkäfer dem Blattlauspärchen an den Kragen!

Voller Todesangst krabbelten die Blattläuse fluchtartig am Trinkhalm hinauf, um dem gierigen Räuber zu entfliehen. Dabei schrien sie, so laut sie nur konnten. „Hiiilfe! Hiilfe! Hoo! Schnell! Bitte rette uns! Schnell, sonst sind wir verloren!“

Hoo erkannte die Lebensgefahr und Ausweglosigkeit, in der sich seine beiden kleinen Freunde befanden – und reagierte prompt. Flink sprang er auf seine patschigen Füßchen. Megaschnell zoomte er seinen Schnorchel zu voller Länge. Aus seinem prallgefüllten Bauch presste er eine größere Menge Flüssigkeit in seinen Mund. Gezielt spuckte Hoo den lauen Apfelschorle-Wolkenwassermix auf den gefährlichen Blattlausvertilger, der, von kleinerer Gestalt als er selbst, bereits dabei war, seinem gefundenen Fressen nachzulaufen. Unmittelbar danach spritzte Hoo ihm mit seinem Multifunktionsschnorchel gleich noch eine druckvolle Ladung Wasser entgegen.

Der hungrige Marienkäfer wusste nicht, wie ihm geschah. Überrascht und verdattert torkelte er auf den Apfel hinab. Regungslos blieb er mit zusammengefalteten Flügeln auf seinem Rücken liegen.

„Ha! Hat funktioniert! Juhuuhh, ich habe ihn getroffen!“, triumphierte Hoo voller Stolz. Mit geballter Faust streckte er seinen Arm zur Siegerpose hoch. Er zog seinen Schnorchel wieder ein und wischte sich über seinen nassen Mund. Dann schaute er sich nach seinen Blattlausfreunden um. Er konnte sie nirgends entdecken.

„Birne, Mucks! Wo seid ihr denn?“, rief er besorgt. „Wohin habt ihr euch denn verkrochen?“

Völlig verschreckt und aufgeregt hatten sie die Trinkhalmöffnung erreicht und waren hineingekrabbelt.

Der gefräßige, schlaue Räuber hatte sich allerdings nicht verletzt, sondern sich, in selbstschützender Verhaltensweise, nur kurz totgestellt. Schleunigst drehte er sich auf seine sechs Beinchen. Ruckzuck brachte er seine stabilen, feuchtklebrig nassen Flügeldecken in Ordnung. Dann schlug er sie auf, entfaltete und spreizte die eigentlichen, darunter liegenden Flügelhäute. Leicht zittrig hob er ab, und brummte eiligst auf und davon.

„Ist er weg?“, flüsterte Mucks angsterfüllt. Blassgrün im Gesicht lugte er über den Rand des Röhrchens hervor.

„Ach hier drinnen seid ihr“, sagte Hoo. Um sicher zu gehen, sah er sich noch einmal genauestens um. „Ja, ja, er ist weg. Er hat sich gerade aus dem Staub gemacht. Ihr, äh, könnt aus eurem Versteck herauskommen. Die Gefahr ist vorüber.“

Hoo streckte seine dickfingrige rechte Hand nach dem verängstigten Blattlauspärchen aus und bat sie herüberzukrabbeln. Erleichtert nahmen sie seine Hilfe an. Dann schwenkte er die Hand behutsam vor sein Gesicht und schmunzelte die Geretteten breit an. Selbstbewusst rief er aus: „Haha! Habt ihr gesehen, wie ich den gierigen Läusefresser außer Gefecht gesetzt und in die Flucht geschlagen habe? Der hat die Flügel voll, äh, in den sauren Apfel gebissen. Au Backe! Dem hab ich's gegeben! Der lässt sich bestimmt nicht mehr blicken!“

„Volle Kanne, Hoo! Ich hab's gerade noch mitgekriegt. Das war einfach umwerfend spitze!“, schwärmte Mucks.

„Erzähl, Mucksischatz, bitte erzähl doch!“, piepste Birne, die Neugierde in Lausform, ihn flehend an.

Immer noch völlig aus dem Häuschen, schilderte Mucks seiner geliebten Birne die Geschehnisse. Selbstverständlich half Hoo bei der Erklärung von gewissen Einzelheiten ein wenig dazu.

Da Damen auch im Tierreich den Vortritt haben – und sei es auf der Flucht –, war Birne als Erste in der Öffnung des Trinkhalms verschwunden. Leider hatte sie dadurch Hoos geistesgegenwärtiges Bravourstück nicht mehr mitansehen können. Andererseits war es für Birne ein Glück gewesen, dass das Trinkröhrchen nicht bis obenhin mit frisch gepresstem Saft gefüllt war. Denn sonst hätte sie auch noch Angst vor dem Ertrinken haben müssen, da sie ja, wie Mucks übrigens auch, nicht schwimmen konnte.

„Toll, toll, tollkühn!“, piepste Birne ehrfurchtsvoll, als sie sich alles angehört hatte. Ihr kleines Herz pochte immer noch ganz aufgeregt. Staunend, ja den Tränen nahe, himmelte sie Hoo an. „Was du alles kannst, Hoo. Echt erstaunlich und – sooo cool! Wir danken dir. Wir danken dir von ganzem Herzen.“

Als fände in ihren winzigen Körpern gerade eine wohldosierte Glückshormonausschüttung statt, hüpften und tanzten sie spontan auf seiner Handfläche, ihm selig ein Ständchen singend, im Kreis herum:


Hoo, Hoo, Hoo – wir danken dir,

du hast uns toll verteidigt.

Den Räuber hast du angespuckt,

bestimmt ist er beleidigt.

Hoo, Hoo, Hoo – wir danken dir,

dreh´n uns im Kreise fröhlich.

Weil du uns flugs gerettet hast,

sind wir so voll glückselig.

Hoo, Hoo, Hoo ...“


„Ach, äh, alles paletti, schon gut, schon okay, das ist doch Ehrensache“, unterbrach Hoo gerührt. „Ich habe zu danken. Das nette Liedchen habt ihr wunderschön gesungen.“ Er strahlte dabei übers ganze Gesicht und fühlte sich sehr geschmeichelt. „Seht ihr, meine Lieben, so konnte ich doch noch etwas Gutes für euch tun.“

„Etwas Gutes?“, rief Mucks. Er verdrehte seine weiß umrandeten, grünen Pupillen. Zugleich ließ er sich auf die Knie fallen und faltete die Hände vor seinem Köpfchen zusammen. „Hoo, du bist ein Held! Ein wahrer Freund! Du hast uns das Leben gerettet!“

„Ja, unser Leben hast du verlängert! Unser kleines, kurzes, lausiges, fresslustiges und gefahrvolles, aber glückliches Leben“, sagte Birne mit schlottriger Stimme und glühenden Wangen. „Dein Globaler Wettermeister möge dich immer beschützen!“

„Na, na, na! Äh, lasst es gut sein, liebe Freunde“, entgegnete Hoo in aller Bescheidenheit. „Ich habe doch wirklich nur getan, was jeder andere dicke und rechtschaffene Regentropfen auch getan hätte.“

Behände führte er nun seine Hand unter das grüne Dach eines herabhängenden Blattes. So war es für das Läusepärchen ein Leichtes, sich problemlos hinüberzuhangeln und daran festzukrallen.

Nach dieser von Hoo so großartig zu Ende gebrachten Rettungsaktion tankte er verdientermaßen tüchtig aromatischen Apfelsaft nach und machte es sich auf dem Apfel wieder behaglich.


NACHDENKLICH HOCKTE ER DA. Die glückliche Rettung seiner beiden Blattlausfreunde spukte ihm noch eine Weile im Kopf herum. Seiner moralischen Pflicht hatte er helfend Genüge getan. Dennoch stimmte es ihn genauso froh, dass es ihm gelungen war, den eifrigen Blattlausjäger auf relativ sanfte Weise zu vertreiben. Sollte der Siebenpunkt-Marienkäfer, der als einer der ärgsten Feinde von Blattläusen gilt, sich bei den Menschen aber als niedliches, rotschwarzes Glückssymbol großer Beliebtheit erfreut, sein Fressen ruhig woanders suchen! Leben zu bewahren, nicht auszulöschen, davon war Hoos tugendreine Gesinnung geprägt. Gewaltanwendung in jeglicher Form bedeutete ihm ein Gräuel. Er, Hoo, war ein guter, friedfertiger und intelligenter Regentropfen!

Aufmerksam ließ er seine himmelblauen Augen im grünen Blätterwerk des robusten Apfelbaumes umherschweifen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der alte Baum reichlich rotbackige, verführerisch glänzende Früchte trug.

Birne und Mucks waren natürlich längst wieder hungrig. So war es kein Wunder, dass sie unbekümmert und fresslustig wie eh und je an dem knackigen Apfelbaumblatt knabberten und Pflanzensaft saugten.

Die lebensbedrohliche Situation war anscheinend schon wieder vergessen. Hatten sie etwa auch vergessen, darüber nachzudenken, wie er von hier fortkommen könnte? Und überhaupt! Vermochten die Winzlinge wirklich, ihm dabei behilflich zu sein? Vielleicht wollten die beiden gar nicht mehr, dass er von hier wegging? Sicherlich war ihnen durch den überraschenden Angriff des Siebenpunkt-Marienkäfers bewusst geworden, wie er ihnen im Ernstfall ein hohes Maß an Schutz und Sicherheit gewährleisten könnte? Wünschten die Blattläuse ihn nun womöglich als Freund und Bodyguard zur Abwehr und Verteidigung vor gierigen Marienkäfern, aufdringlichen Schlupfwespen oder anderen Fressfeinden hier zu behalten?

„Erst mal in aller Ruhe abwarten!“, schnaufte er durch. Er ließ das Grübeln sein. Gelassen guckte er ihnen beim Fressen zu.


HOO

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