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Alexander von Humboldt, Felix Mendelssohn Bartholdy, Giacomo Meyerbeer und Richard Wagner: Die Quadratur des Kreises? Prof. Dr. Sieghart Döhring (Vorsitzender der Meyerbeer-Instituts, Thurnau)

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Es war eine faszinierende personelle Konstellation mit Zukunftspotential, die sich 1842 in Berlin konkretisierte: Der junge preußische König Friedrich Wilhelm IV. ernannte auf Anregung seines Vertrauten Alexander von Humboldt die beiden bedeutendsten Komponisten der Zeit, Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo Meyerbeer, zu Generalmusikdirektoren und berief noch im selben Jahr beide in die – ebenfalls auf Betreiben von Humboldts – neu gegründete Friedensklasse des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste; eine der ersten Entscheidungen Meyerbeers in seinem neuen Amt war es sodann, die kurz zuvor in Dresden uraufgeführte Oper Der fliegende Holländer des jungen Richard Wagner an seinem Haus, Preußens führender Bühne, herauszubringen (die Aufführung fand am 7. Januar 1844 statt). Was Humboldt und dem König vorschwebte, nämlich die Rolle Berlins als neue Kulturhauptstadt Europas auch auf musikalischem Gebiet zu begründen – der Tradition verpflichtet und zugleich offen gegenüber dem Neuen – schien für einen Augenblick der Erfüllung nahe zu sein. Und doch sollte es anders kommen: Zwar stürzten sich Mendelssohn und Meyerbeer sogleich voller Energie in ihre neuen Aufgaben, resignierten aber bald angesichts kleinlicher Widerstände lokaler Konkurrenten und ließen sich von ihren Verpflichtungen ganz oder teilweise entbinden. Ihre weit gespannten europäischen Aktivitäten hatten sie ohnehin nie aufgegeben, war ihnen doch stets bewusst, dass selbst ein aufstrebendes Berlin mit Metropolen wie Paris oder London weder sozial noch kulturell mithalten konnte.


Dieses Bedeutungsgefälle war auch dem Newcomer Wagner früh bewusst. Lebenslang zog es ihn aus der provinziellen Enge Deutschlands nach Paris, dem Mekka der Künste im 19. Jahrhundert. Einen ersten erfolglosen Versuch, dort als Komponist Fuß zu fassen, hatte er gerade erst unternommen und als er mit einem zweiten wenige Jahre später erneut scheiterte, änderte er von Grund auf seine Taktik im Kampf um die Führungsposition unter den Komponisten Europas, die nach seiner unerschütterlichen Überzeugung allein ihm zustand. Nicht wie bisher auf den Schultern seiner Vorgänger – so sein Entschluß – suchte Wagner sein Ziel zu erreichen, sondern – man kann es durchaus so ausdrücken – über deren Leichen, nämlich indem er Mendelssohn und Meyerbeer als Juden wahres Künstlertum absprach.


Seinen Angriff startete Wagner erstmals öffentlich, wenngleich unter einem Pseudonym, in dem Essay Das Judentum in der Musik, erschienen 1850 in zwei Nummern der „Neuen Zeitschrift für Musik“. Wegen der geringen Verbreitung dieses Periodikums hielt sich die Resonanz darauf in engen Grenzen (Mendelssohn war drei Jahre zuvor verstorben; Meyerbeer hat den Text überhaupt nicht zur Kenntnis genommen). Umso größer war dann die Wirkung der – leicht überarbeiteten - Wiederveröffentlichung in Buchform 1869. Jacob Katz nannte den Text ein „antijüdisches Traktat, das mit Recht zu den antisemitischen Klassikern gezählt wird“[1]. Zwar war kein einziges der von Wagner vorgetragenen Argumente tatsächlich originell, dennoch entwickelte das Pamphlet enorme propagandistische Stoßkraft, hauptsächlich wegen des nun nicht mehr unter einem Pseudonym versteckten Namens seines Autors, dessen musikhistorische Bedeutung mittlerweile auch von seinen Gegnern nicht mehr in Abrede gestellt wurde. Auf den immer selbstbewusster auftretenden Antisemitismus im neu gegründeten deutschen Kaiserreich wirkte Wagners „Judentum“-Essay geradezu als Brandbeschleuniger mit fatalen historischen Folgen bis weit hinein ins 20. Jahrhundert.[2]


Wie konnte, was so hoffnungsvoll begonnen hatte, so spektakulär scheitern? Als sich die Wege Mendelssohns, Meyerbeers und Wagners zu Beginn der 1840er Jahre in Berlin kreuzten, agierten sie innerhalb eines weit gespannten kulturellen „Netzwerkes“, in dessen Zentrum Alexander von Humboldt als „europäischer Kulturminister“ (Hanno Beck) die Fäden zog. Freilich gab es schon vor Wagners antisemitischem Angriff auf Mendelssohn und Meyerbeer zwischen den Beteiligten Spannungen und Verwerfungen, die das spätere Scheitern der Vision von Berlin als neuem musikalischen „Spree-Athen“ bereits erahnen ließen. Mendelssohn wie Meyerbeer entstammten reichen jüdischen Bankiers- und Kaufmannsfamilien, die zur Hautevolee des gebildeten Berliner Großbürgertums gehörten. Zwar wurde Mendelssohn in Hamburg geboren, aber die Stätte seiner geistigen und kulturellen Sozialisation war eindeutig Berlin. Dort wurde er – wie alle seine Geschwister – christlich erzogen; als Siebenjähriger erhielt er die protestantische Taufe, was ihn als Mensch wie als Künstler maßgeblich geprägt hat. Demgegenüber blieb Meyerbeer dem Judentum, das ihm von der Familie und von den Erziehern in einer liberalen, reformierten Ausrichtung nahe gebracht worden war, zeitlebens treu, wenngleich er es nie praktizierte. Beide genossen sie eine umfassende Ausbildung, die ihnen früh den Zugang zu höchsten gesellschaftlichen Kreisen und zur kulturellen Elite ihrer Epoche eröffnete. Demgegenüber blieb es Wagner aufgegeben, sich aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und unklaren familiären Beziehungen mühsam emporzuarbeiten, denn nach oben wollte er unbedingt; auch das prägt einen Menschen lebenslang. Mendelssohns wie Meyerbeers herausragende kompositorische Fähigkeiten, die sich bei beiden bereits in frühester Jugend offenbarten, entfalteten sich zunächst über das gesamte Spektrum der musikalischen Gattungen, erfuhren aber bald eine Spezialisierung: bei Mendelssohn auf Instrumental- und Kirchenmusik, bei Meyerbeer auf die Oper. Die unterschiedlichen Gattungspräferenzen waren die Folge höchst individueller Personalstile, die sich immer weiter auseinander entwickelten. Dies führte dazu, dass sich beide zwar öffentlich stets mit Respekt begegneten, aber auf künstlerischer Ebene kaum miteinander kommunizierten. Vor allem Mendelssohn fehlte jeglicher Zugang zur aktuellen dramatischen Musik und ihren Innovationen, für die nach dem Urteil der Zeitgenossen vor allem Meyerbeers französische Opern standen. Robert le diable (1831), den er wenige Wochen nach der Uraufführung in Paris hörte, ließ Mendelssohn kalt: „[…] die Musik ist ganz vernünftig […] – aber ein Herz ist nicht dabei […] Musik ist es nicht, ein Gedicht auch nicht, Alles andere unnachahmlich schön.“[3] Für den Enthusiasmus des Publikums und das Lob der Fachkritiker und Komponistenkollegen, die das Werk als Epochenwende in der Geschichte der dramatischen Musik feierten, ging Mendelssohn das ästhetische Sensorium gänzlich ab.


Anders Richard Wagner: Seit er sich zum Opernkomponisten berufen fühlte, drängte es ihn mit aller Kraft aus der provinziellen Enge des deutschen Stadttheaterbetriebs, in dem er seine Anfänge als Komponist und Dirigent absolvieren musste, in die Internationalität der Metropolen. Nach einem kurzen Flirt mit der italienischen Oper, die ihm durch die inspirierende Erfahrung der Gesangs- und Darstellungskunst Wilhelmine Schröder-Devrients in der Rolle des Bellinischen Romeo nahe gebracht geworden war (in dieser Rolle, nicht – wie er später glauben machen wollte – als Beethovensche Leonore, erlebte Wagner die Sängerin erstmals auf der Bühne), wählte er sich Meyerbeer zum künstlerischen Vorbild, in dessen Opern er sein Ideal eines nationale Stile überwindenden musikalischen Ideentheaters verwirklicht sah. Als er sich am 4. Februar 1837 erstmals brieflich an Meyerbeer wandte, den „verehrte(n) Herr(n) und Meister“ (so seine Anrede), formulierte er in der Beschreibung von dessen Werk unverhohlen auch sein eigenes künftiges Programm als Opernkomponist. Seit er in der musikalischen Praxis stehe, so Wagner, „[…] haben sich meine Ansichten über den gegenwärtigen Standpunkt der Musik u. zumal der dramatischen, bedeutend geändert, u. soll ich es leugnen, daß gerade Ihre Werke es waren, die mir diese neue Richtung anzeigten? Es wäre hier jedenfalls sehr am unpassenden Orte, mich in ungeschickten Lobeserhebungen Ihres Genius aus zu lassen, nur soviel, daß ich in Ihnen die Aufgabe des Deutschen vollkommen gelöst sehe, der sich die Vorzüge der italienischen u. französischen Schule zum Muster machte, um die Schöpfungen seines Genie’s universell zu machen. Dieß hat mich denn ungefähr auf meine jetzige Bahn gebracht.“[4] Sodann bittet Wagner Meyerbeer um ein Urteil über seine Oper Das Liebesverbot (1836), deren Partitur er zuvor an Meyerbeers Pariser Librettisten Eugène Scribe gesandt hatte; er bietet an, im Falle einer günstigen Meinung, ein neues Werk für die Pariser Opéra zu komponieren, für das er auch bereits einen Textvorschlag unterbreitet. Vorrangige Absicht seines Briefes war es, überhaupt in Kontakt zu treten mit dem berühmtesten und einflussreichsten Opernkomponisten der Zeit, um dessen Protektion er schmeichelnd bettelt: „Künstlerruhm kann Ihnen fast nicht mehr zu Theil werden, denn Sie erreichten schon das Unerhörteste; überall, wo Menschen singen können, hört man Ihre Melodien. Sie sind ein kleiner Gott dieser Erde geworden; – wie herrlich ist es nun für den, der diesen Standpunkt erreicht hat, zurückzublicken, u. denen, die er soweit hinter sich ließ, die Hand zu reichen, um auch sie wenigstens in Ihre Nähe zu ziehen.“[5] Wie Meyerbeer auf Wagners Brief reagierte, ist nicht bekannt (ein Gegenbrief ist nicht überliefert und Meyerbeers Tagebuch schweigt dazu), jedoch scheint er nicht unbeeindruckt geblieben zu sein, denn als Wagner zweieinhalb Jahre später tatsächlich nach Paris reist, um dort seine Zelte aufzuschlagen, empfängt ihn Meyerbeer im Kurort Boulogne-sur-Mer und lässt sich Teile der Rienzi-Partitur zeigen, an der Wagner damals arbeitete. Der Eindruck scheint ein positiver gewesen zu sein, denn Meyerbeer behielt das Werk im Auge und empfahl es nach seiner Fertigstellung für eine Aufführung in Dresden, die Wagners erster Opernerfolg werden sollte.


Wagner hat seinen ersten Paris-Aufenthalt von 1839-1842 später als eine Zeit menschlicher und künstlerischer Entwürdigung dargestellt, für die er „jüdische Kabale“ verantwortlich machte (einige führende Vertreter der damaligen Pariser Musik- und Kunstszene waren tatsächlich Juden). Aber klagte Wagner wirklich zu Recht an? Immerhin konnte er arbeiten und als Schriftsteller publizieren, und am Ende eröffnete sich ihm, dank Meyerbeers Protektion, eine neue lohnende künstlerische Perspektive in Dresden, wo er bald darauf Hofkapellmeister wurde. Von einem Pariser Misserfolg Wagners lässt sich nur sprechen, wenn man die Augen davor verschließt, dass Wagners Erwartungen durch nichts gerechtfertigt, ja eigentlich anmaßend waren. Die Proportionen zurecht zu rücken, hilft ein einfaches Gedankenexperiment: Wie würde man ein Jahrhundert später über einen Filmemacher urteilen, der sich nach der Produktion eines einzigen – zudem erfolglosen – Streifens in der Provinz umgehend nach Hollywood begibt in der Erwartung, dort sogleich eine Großproduktion angeboten zu bekommen? Genau in dieser Situation nämlich befand sich damals der Opernkomponist Richard Wagner. Öffentlich vorzuweisen hatte er gerade einmal eine Oper, eben Das Liebesverbot, deren einzige (!) Aufführung in Magdeburg zudem in ein Debakel mündete; die bereits fertig komponierten Feen waren noch unaufgeführt und blieben es bis zu Wagners Tod. Die Größen des Pariser Musiklebens standen Wagner keinesfalls feindselig gegenüber, zumal er in Meyerbeer einen prominenten Fürsprecher besaß, dennoch konnte er für sie nichts anderes sein, als ein noch unbeschriebenes Blatt, einer jener zahlreichen, mitunter vielversprechenden jungen Musiker, die in der Metropole mit mehr oder weniger Erfolg ihr Glück versuchten.


Meyerbeers offenkundiges Wohlwollen an seiner Person und seine eigene zunehmende Ungeduld veranlassten Wagner, immer drängender um die Gunst des berühmten Komponisten nachzusuchen und sich ihm im Gegenzug als Helfer und Förderer anzudienen: angesichts ihrer beider Stellungen in der Musikszene ein abwegiger Vorschlag, den der vornehme Meyerbeer kaum anders denn als peinlich empfunden haben kann. Hier eine Probe aus einem Brief vom 3. Mai 1840: „Ich bin auf dem Punkte, mich an Jemand verkaufen zu müssen, um Hülfe im substantielsten Sinne zu erhalten. Mein Kopf u. mein Herz gehören aber schon nicht mehr mir, – das ist Ihr Eigen, mein Meister; – mir bleiben höchstens nur noch meine Hände übrig, – wollen Sie sie brauchen? – Ich sehe ein, ich muss Ihr Sclave mit Kopf und Leib werden, um Nahrung u. Kraft zu der Arbeit zu erhalten, die Ihnen einst von meinem Danke sagen soll. Ich werde ein treuer, redlicher Sclave sein, – denn ich gestehe offen, daß ich Sclaven-Natur in mir habe; mir ist unendlich wohl, wenn ich mich unbedingt hingeben kann, rücksichtslos, mit blindem Vertrauen. Zu wissen, daß ich nur für Sie arbeite u. strebe, macht mir Arbeit u. Streben bei weitem lieber u. werthvoller. Kaufen Sie mich darum, mein Herr, Sie machen keinen ganz unwerthen Kauf!“[6] In einem nachfolgenden Brief an Meyerbeer vom 4. Juni 1840 entschuldigt sich Wagner zwar für den von ihm hier angeschlagenen Ton, mit dem er – so seine Worte – „die Gränze des Zartgefühls u. der Bescheidenheit überschritt“[7], um dennoch alsbald in ebendiesen Ton zurückzufallen. Einen weiteren Brief an Meyerbeer vom 26. Juli 1840 unterzeichnet Wagner gar mit „Ihr unterthänigster Sclave“, wobei die Herausgeber der Wagner-Briefausgabe „Sclave“ als verballhorntes „Scolare“ (= „Schüler“) transkribierten: ein Beschönigungsversuch, der sich weder philologisch noch von der Sache her erschließt, denn Wagners Unterschrift ist zweifelsfrei als „Sclave“ lesbar, und daß Wagner sich gegenüber Meyerbeer so bezeichnet und dies dazu noch ausführlich begründet hat, bezeugt der Text des zitierten Briefes.[8]


Texte wie diese werden hier nicht zitiert, um einen bedeutenden Künstler bloßzustellen. Man muss sie aber kennen, will man sich ein zutreffendes Bild der Beziehungen zwischen den Personen machen, offenbart sich doch hier weit mehr als nur fehlendes Stilgefühl im zwischenmenschlichen Umgang, nämlich ein Mangel an Charakter, und dies mit absehbaren Folgen für den Betroffenen selbst. Wer sich vor seinem Gegenüber derart entblößt, sich ihm in so entwürdigender Weise ausliefert, wird früher oder später den Zeugen der eigenen Schwäche zutiefst hassen, unabhängig von dessen Reaktion. Eine Antwort Meyerbeers an Wagner ist nicht überliefert, es hat sie aber gegeben, wie aus dem Postskriptum eines Briefes Meyerbeers an seinen Pariser Sekretär Louis Gouin vom 15. Juli 1840 hervorgeht: „Lieber Freund! Ich lege einen Brief für Herrn Wagner bei, den ich Sie bitte, ihm baldmöglichst zustellen zu wollen. Dieser junge Mann interessiert mich, er besitzt Talent und Feuer, aber das Glück lächelt ihm nicht: er hat mir einen langen, sehr bewegenden Brief geschrieben, und dies ist der Grund, weshalb ich Sie bitte, ihm die Unterstützung zukommen zu lassen, die mein beiliegender Brief enthält.“[9] Diese Zeilen bezeugen nicht nur Meyerbeers Sympathie und Wertschätzung für Wagner, sondern darüber hinaus seine Hilfsbereitschaft. Welcher Art die „Unterstützung“ war, die er dem vermeintlich mittellosen Kollegen in dem verloren gegangenen Brief in Aussicht gestellt hat, läßt sich analog zu zahlreichen ähnlich gelagerten Fällen vermuten: Es dürfte sich um finanzielle Unterstützung gehandelt haben. Wagners Abrücken von Meyerbeer setzte denn auch bald darauf ein, umso mehr, als er sich ihm eigentlich zur Dankbarkeit verpflichtete fühlen musste. Vor sich selbst, aber auch gegenüber anderen, rechtfertigte Wagner sein Verhalten mit der Unterstellung, Meyerbeer hätte nicht genügend für ihn getan, gar ein falsches Spiel mit ihm getrieben. Zunehmend gereizt reagierte er auf öffentliche oder private Äußerungen, sein eigenes Schaffen zeige deutliche Meyerbeerische Züge, vorgebracht u.a. von Robert Schumann im Hinblick auf Tannhäuser (1845), was Wagner umso mehr treffen musste, als er wusste, dass Schumann Meyerbeer überhaupt nicht schätzte. Auch Mendelssohn dürfte so gedacht haben. Zu ihm hatte Wagner den Kontakt noch früher gesucht als zu Meyerbeer, und ihm die Partitur seiner C-dur-Symphonie zugesandt, worauf Mendelssohn überhaupt nicht reagiert hat.[10] Bei der Berliner Holländer-Aufführung 1844 war Mendelssohn unter den Zuhörern. Es kam zu einer kurzen Begegnung zwischen ihm und Wagner, bei der Mendelssohn den Kollegen zum „Erfolg“ gratulierte (der so eindeutig gar nicht war), sich aber mit einem Urteil über das Werk auffällig zurückhielt.[11] Was Mendelssohn tatsächlich dachte, hat später Clara Schumann überliefert; er sei „ganz indigniert“ gewesen.[12] In seinen Leipziger Gewandhaus-Konzerten dirigierte Mendelssohn ein einziges Mal Wagner, am 12. Februar 1846 die Tannhäuser-Ouvertüre. Der anwesende Hans von Bülow erinnerte sich später: „[...] die mißmuthige Miene des Dirigenten autorisierte gewissermaßen schon das Publikum zur Mißfallensbezeugung“[13].


Demgegenüber war Wagners Einstellung zu Mendelssohns Musik nicht eindeutig negativ. Rückhaltlos bewunderte er – manchmal widerwillig – ihre meisterliche Machart, vor allem ihre melodischen Qualitäten. Besonders schätzte er die Konzertouvertüren sowie die Schottische Symphonie, die er häufig dirigierte. Mendelssohns Oratorium Paulus nannte er 1843 gar „ein Zeugnis von der höchsten Blüte der Kunst“.[14] Im Alter klang das dann ganz anders. Mit Widerwillen habe er Paulus durchgesehen (immerhin tat er das): „[…] der ganze Jude sei da, mit Leichtigkeit der Form, Seichtigkeit des Inhalts.“[15] Er mäkelte am vokalen Schlusssatz der „Lobgesang“-Symphonie, dessen Rückbezug auf Beethovens Neunte, die er als Geburtsurkunde seiner eigenen Musikauffassung in Anspruch nahm, er dem Kollegen verübelte.[16] Immerhin brauchte Wagner den als Opernkomponist kaum ausgewiesenen Mendelssohn nicht als Rivalen zu betrachten, was den Ton seiner Urteile merklich entschärfte. Ganz anders im Falle Meyerbeers: Die vermutete menschliche und künstlerische Nähe zu ihm, verbunden mit einem zunehmend antijüdischen Ressentiment, empfand er als Belastung, von der er sich zu befreien gedachte. Jens Malte Fischer hat es treffend ausgedrückt: „Wagner biß die Hand, die ihn streichelte, und daß es eine jüdische Hand war, machte ihm die Sache, als er den Zusammenhang zu erkennen glaubte, erheblich leichter“.[17] Sein Misserfolg bei den neuerlichen Versuch, sich in Paris als Opernkomponist zu etablieren, zeitgleich mit dem ihn zutiefst verstörenden Erlebnis von Meyerbeers jüngster Oper Le Prophète, ließen in Wagner den Entschluß reifen, den Grund seines Scheiterns – wie er ihn sah – zu benennen: die Macht des Judentums in der Gesellschaft und in der Kunst, vorzugsweise der Musik.


Wagners „Judentum“-Essay besteht im Wesentlichen aus einer Abrechnung mit Mendelssohn und Meyerbeer als den herausragenden Repräsentanten der aktuellen „jüdischen Musik“, wobei er Meyerbeer nicht ausdrücklich mit Namen nennt (warum, bleibt unklar, denn die Charakterisierung läßt keinen Zweifel, wer gemeint ist). Zu Mendelssohn heißt es: „Dieser hat uns gezeigt, daß ein Jude von reichster spezifischer Talentfülle sein, die feinste und mannigfaltigste Bildung, das gesteigertste, zartest empfindenden Ehrgefühl besitzen kann, ohne durch die Hilfe aller dieser Vorzüge es je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten [...]“[18] Zu Meyerbeer: „Ein weit und breit berühmter jüdischer Tonsetzer unserer Tage hat sich mit seinen Produktionen einem Teile unserer Öffentlichkeit zugewendet, in welchem die Verwirrung alles musikalischen Geschmacks von ihm weniger erst zu veranstalten, als nur noch auszubeuten war.“ Das moderne Publikum giere danach, so heißt es weiter, über sich selbst getäuscht zu werden. „Die Besorgung dieser Täuschung hat nun jener berühmte Opernkomponist zu seiner künstlerischen Lebensaufgabe gemacht […]. Wir glauben wirklich, daß er Kunstwerke schaffen möchte, und zugleich weiß, daß er sie nicht schaffen kann […]“.[19] Warum nicht? Die krude Begründung lautet: Weil der Jude als Fremder die Sprache der Nation, in der er lebt, nur äußerlich, nicht in ihrem Geiste zu seiner eigenen machen könne. Gleiches gelte für die Musik, die ihm nur als glänzende Oberfläche, nicht in ihrem Wesen zugänglich sei: „[…] so wirft der jüdische Musiker auch die verschiedenen Formen und Stilarten aller Meister und Zeiten durcheinander“.[20] Im Nachwort zur Neuausgabe von 1869 versteigt sich Wagner dann sogar dazu, eine gewaltsame Lösung der "Judenfrage", so wie er sie versteht, zumindest in Erwägung zu ziehen: "Ob der Verfall unsrer Kultur durch eine gewaltsame Auswerfung des zersetzenden fremden Elementes aufgehalten werden könnte, vermag ich nicht zu beurteilen [...]"[21] Wagners Polemik gegen Meyerbeer ist im Ton schärfer als gegen Mendelssohn, zielt gegen diesen jedoch tiefer, insofern sie völlig ausblendet, dass Mendelssohn sich gar nicht als Jude verstand, nicht einmal konvertiert, sondern seit seiner Kindheit getaufter und überzeugter Christ war. Das Wort „Rasse“ fällt zwar nirgends, aber es ist offensichtlich, dass Wagner „jüdisch“ als anthropologische Qualität versteht, die allem menschlichen Tun – auch seinem künstlerischen Schaffen – vorgeschaltet ist und es negativ beeinflusst. Inwiefern Mendelssohn und Meyerbeer in ihren Kompositionen den nationalen Stil verfehlen, worin dieser überhaupt bestehen soll, dazu bleibt Wagner jede konkrete Aussage schuldig, belässt es bei der pauschalen Behauptung. Auch Wagners spätere Schriften, vor allem „Oper und Drama“, flüchten sich in diesem Punkt ins Allgemeine und in vage Konstrukte, wie die berühmte „Wirkung ohne Ursache“, die Wagner an einer Szene aus dem Prophète als Charakteristikum der Meyerbeerschen Musik überhaupt ausgemacht haben will.[22]


Einen Text Wagners aber gibt es, der die Forderung nach musikhistorischer Konkretheit tatsächlich einlöst. Seine Bedeutung kann kaum übererschätzt werden, skizziert er doch unter der Überschrift „Über den Standpunkt der Musik Meyerbeers“ anhand von dessen Werken, vor allem der Huguenots, die aktuelle Situation der Oper und eröffnet zugleich eine Perspektive für die weitere Entwicklung der Gattung, die Wagner – unausgesprochen aber unmissverständlich – für sich selbst reklamiert. Der Text entstand während der Schlussphase von Wagners erstem Parisaufenthalt, also zu Beginn der 1840er Jahre, wohl für eine französische Zeitschrift, erschien aber erst nach Wagners Tod im Druck.[23] Seine opernhistorische Bedeutung kann kaum überschätzt werden. Darin heißt es: „Meyerbeer schrieb Weltgeschichte, Geschichte der Herzen und Empfindungen, er zerschlug die Schranken der Nationalvorurteile, vernichtete die beengenden Grenzen der Sprach-Idiome, er schrieb Thaten der Musik […].“[24] Die letzten Worte lassen aufhorchen, sprach doch Wagner 1872 in seinem Aufsatz „Über die Benennung ‚Musikdrama’“ von „ersichtlich gewordene[n] Thaten der Musik“,[25] nun freilich bezogen auf sein eigenes Werk. Der philosophisch-religiöse Aspekt der Meyerbeerschen Oper, ihr Ideenkontext, wird von Wagner klar herausgearbeitet: „Es ist auch nicht mehr nötig, große, gelehrte und ritualmäßige Messen und Oratorien zu schreiben, wir haben durch diesen Sohn Deutschlands erfahren, wie auch auf der Bühne Religion gepredigt werden kann […].“[26] Meyerbeer stellt er in einer Reihe mit Händel, Gluck und Mozart, mit denen er gemeinsam habe, erst durch die Überwindung nationaler Schranken in seine opernhistorische Rolle hineingewachsen zu sein. Mit Meyerbeer sei die letzte Periode der dramatischen Musik, die Rossini eingeleitet habe, zum Abschluss gelangt, und nun müsse „[…] die Zeit in ihrer rastlosen Schöpfungskraft eine neue Richtung hervorbringen […], in der dasselbe wieder zu leisten sein würde, was jene Heroen geleistet haben.“[27] An wen Wagner hier dachte, braucht nicht ausdrücklich gesagt zu werden. Wagner sieht sich also in der Tradition der großen Opernmeister nicht als nationalen, sondern als europäischen Künstler.


Wie reagierten Mendelssohn und Meyerbeer auf Wagners zunehmend gehässige Polemik? Mendelssohn starb zu früh (1847), als dass er sie noch hätte zur Kenntnis nehmen können. Meyerbeer hatte den „Judentum“-Essay in seiner Erstveröffentlichung gar nicht bemerkt; den Neudruck, der dann hohe Wellen schlug, hat er nicht mehr erlebt. Seit Anfang der 1850er Jahre konnte ihm aber nicht verborgen bleiben, dass Wagner von seinem bewundernden Anhänger zu seinem erbitterten Gegner mutiert war. Darauf reagierte er zwar enttäuscht, aber gelassen und behielt diese Haltung bis zu seinem Tode bei. Grund genug dazu hatte er: Seine Position im Musikleben als Großmeister der Oper blieb bis auf weiteres unangefochten, so sehr Wagner auch dagegen anrennen mochte. Auch dieser hatte inzwischen einen beachtlichen Bekanntheitsgrad erreicht, jedoch sahen die Zeitgenossen in ihm kaum mehr als einen begabten Avantgardisten, der durch seine operntheoretischen Schriften mehr Aufsehen erregte als durch seine Werke, die ihre Abhängigkeit von Meyerbeer – dies sahen die meisten sehr klar – nicht verleugnen konnten. Diese Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis war auch der tiefere Grund für das Debakel des Tannhäuser an der Pariser Opéra, nicht angebliche Intrigen, hinter denen gar – wie die Wagnerianer insinuierten – Meyerbeer persönlich gestanden haben solle. Diese Unterstellung ist eindeutig widerlegt durch einen Eintrag in Meyerbeers rein persönlich geführtem Tagebuch, in dem auf das Ereignis folgendermaßen Bezug genommen wird: „Heute trafen die Nachrichten von der 1. Vorstellung des Tannhäuser ein, der einen vollständigen Fiasco gemacht haben soll. Das Publikum soll viele Stellen förmlich (sowohl in Bezug der Musik wie des Textes) ausgelacht u. zuweilen gepfiffen haben. Die Fürstin Metternich und Gräfin Seebach, deren Protektion man die Aufführung des Werkes zuschreibt, wurden so höhnend vom Publikum betrachtet, daß sie nach dem 2. Akt das Theater verließen. Eine so ungewöhnliche Art des Mißfallens einem doch jedenfalls sehr beachtenswerten und talentvollen Werke gegenüber scheint mir ein Werk der Cabale und nicht des wirklichen Urteils zu sein […]“.[28] Tannhäuser kannte Meyerbeer damals bereits; um das Werk erstmalig zu hören, hatte er 1855 bei einer Reise eigens einen Umweg nach Hamburg nicht gescheut. Seine Eindrücke schilderte er so: „Die Oper selbst ist unstreitig eine höchst interessante musikalische Kunsterscheinung. Zwar ist großer Mangel an Melodie, Unklarheit, Formlosigkeit, aber doch sehr große Genieblitze in Auffassung, Orchesterkolorit und zuweilen sogar in rein musikalischer Hinsicht, namentlich in den Instrumentalsätzen“.[29] Ein Urteil, dass von Objektivität und Sachkenntnis zeugt; was Meyerbeer hier „Auffassung“ nennt, deckt sich mit dem heutigen Begriff „Konzeption“ und vor allem auf ihr – dies sieht die moderne Musiktheaterforschung nicht anders – beruht die musikhistorische Bedeutung des Werkes.


Und Humboldt? Mendelssohn und Meyerbeer, wie auch ihren Familien, blieb er bis zu seinem Tode aufs Herzlichste verbunden. Wagners Aufstieg hätte er während seiner letzten Lebensjahre noch verfolgen können, jedoch deutet nichts darauf hin, dass er ihn überhaupt zur Kenntnis genommen hat. Für den an der Vollendung seines Kosmos arbeitenden Gelehrten blieben die neuesten musikalischen Entwicklungen, sofern sie nicht seine alten Freunde betrafen, außerhalb des Erfahrungshorizonts, und sollte er sie doch zur Kenntnis genommen haben, so ließen sie ihn jedenfalls unberührt. Was ihm wirklich wichtig war, offenbart sein Kondolenzbrief an Meyerbeer aus Anlass des Todes von dessen geliebter Mutter Amalie, der auch er zeitlebens in liebender Verehrung zugetan gewesen war: „Mein theurer, innigst verehrter Freund! […] Auch ein lange drohendes Unglück ist, wenn es ein so mächtiges ist, in seiner tiefen Wirkung, wie ein unvorbereitetes […] Möchte der lange Todeskampf doch durch Bewusstlosigkeit gemildert worden sein!! Als ich vor 3 Tagen dem König und der Königin […] von Ihren Leiden, von Ihrer Unsichtbarkeit auch für den nächsten Freund und Verehrer Ihrer Familie sprach, so befahl der König sogleich mit inniger Theilnahme für Sie und die theure Mutter , dass man schicken und womöglich Hofnungen {sic) einfordern solle. Die Theilnahme ist eine wahre, ungeheuchelte; die Grossartigkeit des Charakters Ihrer Mutter (ich weiss keinen mehr charakterisierenden Ausdruck) hat Eindrücke hinterlassen, die in das Jugendalter des Monarchen hinaufsteigen. Wie wohlhtuend ist der Gedanke, dass Ihre Anwesenheit den letzten Tagen noch Erquickung hat darbieten können […] Möge Ihre herrliche Gattin unser Flehen unterstüzen [sic], dass Sie sich nicht in eine Trauer versenken, die Ihre Gesundheit gefährdet; dass Sie in Ihrem nächsten Familienkreise den Trost finden mögen, den der Anblick blühender Jugendkraft und schöner geistiger Entwicklung Ihnen heimisch gewährt; Mit alter, unverbrüchlicher durch Rührung erhöhter Verehrung und Liebe Ihr Al Humboldt.“[30] Der Brief ist ein bewegendes Zeugnis Humboldts als öffentliche und private Person: als Hofmann, der er nach wie vor ist und der seine Nähe zum König gebührend herausstreicht, zugleich aber und vor allem als Meyerbeers lebenslanger treuer Freund.

Tagungsband über das Historische Symposium

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