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I. Grundlagen: Literatur und Geschlechterforschung

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„Lehrjahre“

Die Einsicht, dass Geschlecht nicht allein von der Biologie definiert wird, sondern in höchstem Grad von sozialen und kulturellen Faktoren abhängig ist, wurde von Simone de Beauvoir in einem prägnanten Satz programmatisch zusammengefasst: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ (2000, 265) Der Satz eröffnet den zweiten Teil ihres berühmten Buches Le deuxième sexe aus dem Jahr 1949 (dt. Das andere Geschlecht, 1951), das bei seinem Erscheinen heftige Debatten in Frankreich und weit darüber hinaus auslöste. Darin rekonstruiert und entfaltet die Philosophin und Schriftstellerin die jahrhundertelangen Entwicklungen, die das Geschlechterverhältnis prägten und die Unterordnung der Frau verfestigten. Dass Frauen im Vergleich zu Männern häufig benachteiligte symbolische, politische und ökonomische Positionen in Gesellschaften zukamen und vielerorts heute noch zukommen, ist unstrittig. Hierzu haben sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungen während der letzten Jahrzehnte zahlreiche Belege geliefert. Wie sich diese Benachteiligungen jeweils darstellen, ist dabei historisch und kulturgeographisch sehr genau zu unterscheiden. Zudem hat sich die Einsicht durchsetzen können, dass der viel zitierte Satz Beauvoirs nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer und jegliche andere Identität gelten muss. „Männlichkeit entwickelt sich nicht ‚von selbst‘, sondern sie muss aktiv bewiesen und erkämpft werden. Ein Mann muss handeln, indem er nicht nur erhabene Ziele hat, sondern diese auch erreicht – und das immer wieder.“ (Läubli/Sahli 2011) Das Kapitel „Lehrjahre der Männlichkeit“ in Friedrich Schlegels Roman Lucinde (1799), so die Herausgeberinnen des zitierten Bandes, zeige die longue durée an, mit der das immer wieder zu bekräftigende Werden/Erwerben des Geschlechts im kulturellen Wissen präsent ist. Obwohl sich die theoretischen Positionen des erworbenen Frauund Mannseins ihrer Idee nach zunächst nicht zu unterscheiden scheinen, fällt bei näherem Hinsehen doch auf, wie zurückhaltend, ja passiv das Werden der Frau bei Beauvoir beschrieben ist, während Männlichkeit schon wieder oder immer noch mit aktivem Handeln, Selbstbehauptung und Kampf verbunden zu sein scheint. Solche geschlechtsspezifischen Konnotationen samt ihrer historischen und literarischen Konzeptionen werden in diesem Buch noch häufig zur Sprache kommen.

„doing gender“

An jenem erwähnten „Werden“ von Geschlecht, das Beauvoir als entscheidend für Geschlechtsidentität und Geschlechterdifferenz ansieht, sind vielfältige Prozesse und Institutionen beteiligt. Überlegungen, wie dies vonstatten geht, führten zum Konzept des so genannten „doing gender“, wie es die amerikanischen Ethnologen West und Zimmerman skizziert haben (1987). Es ist als ein komplexer Prozess der Fremd- und Selbstbestimmung zu verstehen, der auf kontinuierlichen Deutungsschablonen gesellschaftlichen Handelns beruht. Insbesondere das verbal- und körpersprachliche Handeln wurde von der Forschung als entscheidend bewertet. Geschlecht wird demzufolge – als einer von mehreren Aspekten von Identität – nach spezifischen Regeln stetig neu hergestellt und kann deshalb nicht länger als stabile Eigenschaft eines Menschen gesehen werden. Zu einer performativen (d.h. sich im stetigen Vollziehen herstellenden) Geschlechtsidentität tragen darüber hinaus politisches und ökonomisches Handeln und ebenso jegliche sprachliche und symbolische Praxis in Alltags- und Festkultur bei. Zu erforschen, inwiefern Literatur und ihre Medien daran beteiligt sind, ist Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Gender Studies.

Zielsetzung

Die Diskussionen und die Weiterentwicklung der bisher vorliegenden Forschungsansätze in ihren Grundzügen nachzuzeichnen und in ihrer Relevanz für die germanistische Literaturwissenschaft darzustellen, ist Aufgabe dieses Buchs. Es möchte einen ersten Überblick über die literaturwissenschaftlichen Gender Studies sowie die wichtigsten Ansätze und Begriffe vermitteln. Diese Einführung soll vor allem herausarbeiten, welche Fragen die Geschlechterforschung in Bezug auf literarische Texte hat, welche Bereiche der Literaturwissenschaft davon berührt sind und schließlich, welche Antworten und sich daraus ergebenden Folgefragen bisher zu verzeichnen sind. Während Studienbücher gegenwärtig auch häufig für Forschungsberichte und Theoriediskussionen genutzt werden, soll der einführende Charakter in vorliegendem Band tatsächlich gewahrt bleiben. Der Schwerpunkt der doch eigentlich knappen Erläuterungen liegt deshalb eher auf der Nachzeichnung wichtiger Argumentationen als auf der Darstellung feinster Verästelungen einzelner Forschungszweige oder terminologischer Debatten.

Gender Studies in allen Disziplinen und gleichermaßen in den Literaturwissenschaften speisen sich im besten Falle aus intensiver internationaler und interdisziplinärer Vernetzung. Zugleich sind ihre Debatten häufig von einer hohen Theoriedichte und der Bereitschaft zur Selbstreflexion gesättigt. Der Schwerpunkt der vorliegenden Einführung liegt vorrangig auf der neueren deutschen Literaturgeschichte seit der Aufklärung. Methodische Aspekte und Fragen ließen sich sicherlich an Texten aus früheren Zeiten und anderen Sprachen und Literaturen genauso ergiebig diskutieren.

Gender Studies und Literatur

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