Читать книгу Gender Studies und Literatur - Sigrid Nieberle - Страница 9

2. Missverständnisse: Was Gender Studies nicht leisten

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Frauenbilder, Männerbilder

So manche Erkenntnisinteressen, die für die Frauenforschung noch als wichtig erachtet wurden, stehen für die Gender Studies heute nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit. Hierzu gehören zum Beispiel Untersuchungen, die darauf abzielen, wie Frauen- und Männer-,Bilder‘ in literarischen Texten gestaltet sind. Diese mediale Metapher des Bildes wurde aufgrund ihrer statischen Qualität im Laufe der Jahre immer stärker kritisiert und von prozessorientierten Ansätzen abgelöst (Geschlechterdiskurs, Genderperformanz). Zudem ist es höchst fraglich, welche Schlüsse sich aus einem bestimmten ‚Frauen- oder Männerbild‘ ziehen ließen bzw. welche Funktionen und Qualitäten diesen ‚Bildern‘ zugeschrieben werden. Der Ansatz der ‚Bildbeschreibung‘ greift deutlich zu kurz, weil er übersieht, dass hierfür häufig von einem sehr schlichten mimetischen Welt-Text-Verhältnis ausgegangen wurde, demzufolge der literarische Text das historische Geschlechterverhältnis lediglich nachzeichnen würde. Ein literarischer Text kann sich hingegen sehr weit von den zeitgenössischen Sitten, Gebräuchen und Gesetzen seiner Zeit entfernen, auch oder gerade wenn sie die literarische Imagination des Geschlechterverhältnisses betreffen.

Widerspiegelung

Darüber hinaus können Frauenfiguren nicht umstandslos mit einer Vorstellung von Weiblichkeit und Männerfiguren mit derjenigen von Männlichkeit verknüpft werden, wie dies normativ von Philosophen des 19. Jahrhunderts exponiert worden war (Feuerbach, Schopenhauer u.a.). Vielmehr sorgt ein komplexes Wechselspiel zwischen literaturästhetischer Konvention einerseits und deren innovativer Kritik andererseits für entsprechende Genderkonzepte. Nur auf diese Weise können Figuren in den meisten, aber nicht allen Fällen als geschlechtlich konnotierte Figuren wahrgenommen werden. Die häufig verwendete Metapher des Widerspiegelns, die literarische Texte als lediglich seitenverkehrtes Abbild ‚realer‘ Verhältnisse beschreibt, taugt deshalb nicht zur wissenschaftlichen Analyse. Denn nicht der Text oder sein Autor bzw. seine Autorin gestalten eine anzunehmende vorgängige Geschlechtsidentität der Figuren aus, sondern umgekehrt: Handlungs- und Gestaltungselemente im literarischen Text lassen die Leserinnen und Leser auf ein Geschlecht der Figuren schließen. Der Name einer Figur oder die Erzählstimme sind dabei nur zwei wichtige Gestaltungselemente unter vielen anderen Möglichkeiten. Diesbezüglich ist die normative Wirkung von Genreregeln und deren Außerkraftsetzen für die Produktion und Rezeption literarischer Texte kaum zu überschätzen. Interpretationen, die sich vorrangig auf Frauen- und Männerfiguren im Text konzentrieren, nehmen zudem häufig ihre eigenen Ergebnisse vorweg, erweisen sich doch zum Beispiel die Frauenfiguren stets als emanzipiert oder angepasst, die Männerfiguren hingegen als heroisch oder krisengeschüttelt. Solche stark wertenden Interpretationen reduzieren den literarischen Text auf eine psychosozial konzipierte Charakterstudie der Protagonisten, die darüber hinausweisende Strukturen außer Acht lassen (Raum, Zeit, narrative oder dramatische Instanz, lyrische Rede u.a.m.). Das, was einen literarischen Text ausmacht und ihn von anderen Texten wie Krankengeschichten oder Gerichtsakten unterscheidet, gerät auf diese Weise in den Hintergrund. Erst in einem zweiten Schritt können dann auch genreübergreifende Aspekte berücksichtigt werden, damit intertextuelle Bezüge und literarische Diskursfunktionen zutage treten.

Rezeption außerhalb der Wissenschaft

Für anfängliche Missverständnisse bei einer Beschäftigung mit den Gender Studies kann es noch weitere Gründe geben. Mitunter entstehen Schwierigkeiten, wenn Vorurteile, Missverständnisse oder Ressentiments den Zugang zu jeder wissenschaftlichen Beschäftigung, auch derjenigen mit der Kategorie Geschlecht, verstellen. Vor allem in populären Unterhaltungsmedien werden Vokabeln wie „Feminismus“/„FeministIn“ manchmal pejorativ genutzt, semantisch nicht weit entfernt von der „Emanze“ oder dem abwertenden Adjektiv „schwul“, das während der letzten Jahre als Schimpfwort vor allem in der Jugendsprache inflationär gebraucht wird. Sowohl das anspruchsvolle Feuilleton als auch die feministische Presse tun sich schwer mit den mittlerweile akademisierten Gender Studies. So ist zum Beispiel häufiger zu lesen, dass Gender Studies die Geschlechterdifferenz angeblich einebnen oder ‚wegdiskutieren‘ wollen. Auch ist der wissenschaftliche Nutzen der Gender Studies, zumal in ihren institutionalisierten Formen, für manche Kritiker und Kritikerinnen nicht auf Anhieb zu erkennen. Hierzu gab es während der letzten Jahre immer wieder journalistische Provokationen, die an Diskurs und Gegendiskurs zu partizipieren versuchten. Dies lässt sich etwa in den regelmäßigen Kolumnen im ZeitMagazin oder Spiegel Online beobachten. Auch die zahllos publizierte Ratgeberliteratur hängt ebenso wie die einfallslose Comedy der naturalisierten Geschlechterdifferenz besonders stark an. Das liegt daran, dass aus vermeintlich inadäquaten, im Grunde nur ungewohnten Verhaltensweisen sowohl ernsthafte Sozialkonflikte als auch die verlachende Komik erwachsen können. Pseudo-Erklärungen speisen sich dann aus Geschlechtsstereotypen, die sich jedoch auf entsprechende Behauptungen beschränken, wie Männer und Frauen so ‚sind‘ und warum sie ‚nicht zusammenpassen‘. Von geschlechtsnormierten Verhaltensweisen abzuweichen, ruft regelmäßig Kommentare zur so genannten Selbstverständlichkeit‘ und ‚Natürlichkeit‘ auf den Plan. Dabei wird jedoch die Differenz zwischen biologischem und sozialem Geschlecht nicht nur einmal mehr aufgerufen, sondern auf diese Weise immer wieder neu ‚erfunden‘ und kommuniziert. Auch dem Feminismus der 1970er Jahre wurde einst vorgeworfen, dass er zur geschlechtlichen Indifferenz und zur Egalität der Geschlechter führe, was sowohl der Biologie als auch der abendländischen Kultur und ihren Werten zuwiderlaufe. Mit einigem polemischem Aufwand wurden und werden damals wie heute allerdings Grenzen gezogen und verteidigt, die gar nicht zur Disposition stehen. Denn das Anliegen der Gender Studies ist es ja gerade, solche Differenzmarkierungen in ihrer Argumentationsweise und Instrumentalisierung zu erforschen, sie jedoch möglichst nicht selbst zu benutzen. Geschlechterdifferenzen hängen von politisch, ökonomisch, ethisch und ästhetisch recht unterschiedlichen Faktoren ab. Deshalb können sie allein in ihren vielfältigen historischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Dimensionen beschrieben werden. Keinesfalls lässt sich weiterhin von dem einen, singulären Unterschied zwischen den Geschlechtern sprechen. Herausfinden, wie Geschlechterdifferenzen entstehen, was die Ursachen dafür sind und welche Wirkungen sie im menschlichen Zusammenleben zeigen, ist somit weder eine kurzfristige ‚modische‘ sozialpolitische Handlungsoption noch ein individuelles Problem der beteiligten Forscherinnen und Forscher bzw. Studentinnen und Studenten.

Subjektivität

Damit ist eine zweite Hürde vor jeglicher wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Gender Studies angesprochen. Es bedürfte im Grunde einer bewussten Abstraktion vom eigenen Geschlecht, die jedoch niemals vollständig zu leisten ist. So wie Gehirnforschung nur mit dem menschlichen Gehirn zu leisten ist und genau darin der Grund für die angezeigte Skepsis gegenüber ‚blinden Flecken‘ liegt, hat jede/r Wissenschaftler/in eine Geschlechtsidentität, die ihre und seine Erkenntnisinteressen beeinflusst. Davon ist wiederum nicht nur die Genderforschung betroffen, sondern jegliche Forschung. Trotz dieses hinlänglich bekannten erkenntnistheoretischen Dilemmas gelten Distanzierung, Deduktion und Abstraktion weithin als produktive wissenschaftliche Methoden. Freilich hat sich die neuzeitliche Vorstellung von einer ‚neutralen‘ und ‚objektiven‘ Forschung ohnehin als epistemologisches Konstrukt des abendländischen Denkens erwiesen. Kaum jedoch ist eine Forschungsrichtung mehr belächelt worden als die Frauenforschung der 1970er Jahre als eine Forschung ‚von, für und über Frauen‘, was zugleich höchste Subjektivität implizierte. Manche Reaktion von Studierenden lässt auch heute an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, wenn sie das Erkenntnisinteresse der Gender Studies als irrelevant erachten und diese Irrelevanz mit der Tatsache begründen, dass sie doch selbst Frauen oder Männer seien und deshalb den Forschungsgegenstand selbst am besten kennten („Ich bin doch eine Frau, wo soll das Problem sein.“). Was so einfach und selbstverständlich erscheint, verweist jedoch auf einen komplexen kulturanthropologischen Prozess sozialer Kollektivität. Indem Individuen als repräsentativ für unterschiedliche soziale Gruppen gelten können und diese Gruppen wiederum nur über diesen Prozess der Repräsentation als stabil wahrgenommen werden (Geschlecht, Nation, Religion, Alter u.a.m.), schreiben sich die Prämissen und Werte der Gruppe wiederum auf das Individuum zurück. Dabei ist es nicht erheblich, wie ‚weiblich‘ eine Frau ist, sondern inwiefern sie als solche von sich selbst und von anderen wahrgenommen wird. Die Kategorie Geschlecht ist eine sozial instabile Kategorie, denn sie entsteht im Rahmen historisch und kulturell variabler Prozesse der symbolischen Repräsentation, indem Handeln auch als geschlechtlich konnotiertes Handeln gedeutet wird. Über den Verweis auf die vermeintliche Stabilität der Biologie erfährt das Geschlecht seine Naturalisierung, d.h. Geschlecht wird als ‚natürlich‘ ausgewiesen und kommuniziert. Stimmen biologische und soziale Kriterien nicht überein, kommt es im einfachsten Fall zu gleichsam überkreuzten Bedeutungszuschreibungen (,männliches‘ Verhalten bei Frauen, ‚weibliches‘ bei Männern). Bekanntlich kann es nicht bei solchen binären Verkehrungen bleiben, sobald die Annahme der Zweigeschlechtlichkeit zugunsten möglicher Geschlechtervielfalt und Trans-/Inter-Identitäten abgelöst wird. Allerdings bedarf es dafür ausdifferenzierter Beschreibungsinstrumentarien.

Definitionsprobleme

Dass das Argument der ‚Biologie‘ zumeist nur als vereinfachender Platzhalter für vielfältige Geschlechtermodelle dient, zeigt bereits ein kurzer Blick in physiologische und psychologische Lehrbücher. Bekanntermaßen konkurrieren genetische, neurologische, endokrinologische, psychologische und juristische Ansätze in der Frage, wer die ausschlaggebende Definitionsmacht für das Geschlecht für sich beanspruchen darf (Fausto-Sterling 2000). Den größten Vorsprung hat seit einigen Jahren die Genetik. Jedoch muss dies nicht so bleiben, denn der Blick auf die Geschichte lehrt uns, dass solche Paradigmenwechsel zur Wissensgenerierung und Wissenschaftsentwicklung dazugehören. Noch geht die Transsexualitätsmedizin weitgehend von der Idee eines ‚richtigen‘ oder ‚falschen‘ Körpers aus, der dem psychosozialen Geschlecht hormonell und operativ angepasst werden kann. Aus diesen Eingriffen an Körper und Psyche sollen Stabilität und Zufriedenheit für die Betroffenen folgen. Dagegen ist es ein langer und schwieriger Prozess, dass ganze Gesellschaften, die Betroffenen selbst sowie ihr Umfeld einen veränderten und positiven Umgang mit geschlechtlicher ‚Uneindeutigkeit‘ erlernen können. Ein drittes Geschlecht wird nicht nur die strikte Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit markieren und in Frage stellen; es stabilisiert seinerseits das etablierte Dispositiv, weil es als das jeweils ‚Andere‘ fungiert (Dietze in Dietze/Hark 2006). In Indien, Pakistan, Nepal, Neuseeland und Australien ist es bereits möglich, im Pass eine dritte Kategorie X für ‚unspecified identity‘ anzugeben. Das bundesdeutsche reformierte Personenstandsgesetz sieht ab dem 1. November 2013 vor, für intersexuell geborene Kinder keinen Personenstand eintragen zu können (§ 22 PStG). Die vielfältigen Konsequenzen dieser ‚Leerstelle‘ im Pass sind noch nicht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit durchgedrungen.

Naturalisierung

Der Verweis auf biologische Unveränderlichkeit ist während der letzten Jahre als diskursives Verfahren der Naturalisierung zunehmend in Verruf geraten. Was nämlich für die Kategorie Geschlecht noch denkbar ist und häufig praktiziert wird, hat sich für die ethnische Kategorie als kaum mehr plausibel erwiesen: Während im populären Geschlechterdiskurs für Frauen und Männer immer noch vom natürlichen‘ biologischen Geschlecht auf ihre Eigenschaften und Verhaltensweisen geschlossen wird, indem etwa Evidenz der geschlechtsspezifischen Gehirnforschung behauptet wird (einige Stichworte wie Einparken, Schuhe kaufen, räumliche Orientierung und Sozialkompetenz sollen hier genügen!), so sind solche Analogiebildungen für ebenso natürliche‘ ethnische Kriterien wie Hautfarbe und Körperwuchs nicht mehr statthaft. Der Rassismus wurde im politischen Diskurs der letzten drei bis vier Jahrzehnte weitgehend vom Sexismus abgekoppelt, obgleich beide Argumentationsmuster auf vergleichbare Weise organisiert sind (Kerner 2011). Man kann von einem Diskurs der Naturalisierung ausgehen, der Körper und Kultur in ein argumentatives Verhältnis setzt und sie als gegenseitige machtpolitische Legitimationsstrategien nutzt. Der ‚Biologie‘ die geschlechtsbezogene Definitionsmacht zuzugestehen, hieße vor allem, soziale und kulturelle Verantwortung an eine imaginäre Instanz wünschenswerter Vereindeutigung zu delegieren. Hier kommt nun die Literatur ins Spiel, die es kaum einmal nicht mit Gender-Aspekten zu tun hat. Denn literarische Texte sind Medien der Veruneindeutigung, sonst würden sie nicht den großen Aufwand der Interpretation erfordern. Geschlecht wird in literarischen Texten als eine überaus variationsreiche Größe innerhalb eines Kontinuums von Identitätsentwürfen lesbar. Wie diese Beziehung zwischen Geschlecht und Literatur gestaltet sein kann, entfalten die folgenden Kapitel.

Unterscheidung Sex und Gender

Obgleich es auch Tendenzen innerhalb der Gender Studies gibt, auf der aus dem anglo-amerikanischen Sprachgebrauch herrührenden Unterscheidung zwischen sex und gender (biologisches vs. soziokulturelles Geschlecht) zu beharren, spricht auch vieles dafür, diese Trennung für problematisch zu halten. Die operationalisierte Unterscheidung für die Gender Studies geht zurück auf Gayle Rubins Aufsatz „The Traffic in Women: Notes on the ‚Political Economy‘ of Sex“ (1975). Im Zuge kritischer Überlegungen wird jedoch nicht mehr das soziokulturelle mit dem biologischen Geschlecht legitimiert, sondern es wird nach Möglichkeiten gesucht, die physiologische Konstitution von Geschlecht als diskursive Praxis aufzufassen und somit auch das biologische Geschlecht als performative Größe zu beschreiben. Solche postfeministischen Ansätze thematisieren den Zusammenhang von Geschlecht und Soziokulturalität auf einer sprachtheoretischen und kulturwissenschaftlichen Ebene fortwährend neu. Gender Studies sind also weder der einseitigen und ideologischen Kulturkritik noch einer selbstbezogenen Nabelschau der Wissenschaften verpflichtet, sondern durchziehen als vielfältig und komplex ausformulierte Erkenntnisinteressen mittlerweile nahezu sämtliche Disziplinen von den Sozial- und Kulturwissenschaften bis zu den Naturwissenschaften.

Gender Studies und Literatur

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