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1. Erkenntnisinteressen
ОглавлениеUmfrageergebnis
Studierende im BA-Studiengang Germanistik, die sich vor einiger Zeit für ein Hauptseminar zur „Einführung in die Gender Studies“ anmeldeten (ihnen sei für das anregende Erlanger Seminar herzlich gedankt!), begründeten ihr Interesse mit folgenden wohl überlegten und wiederkehrenden Punkten: Zunächst interessierten sie sich dafür, welche Geschlechterrollen für Frauen und Männer in literarischen Texten zu finden sind und wie sich diese Entwürfe durch die Epochen hindurch verändern, denn mit unveränderlicher ‚Natur‘ hätten diese wohl nichts zu tun. Vielmehr dränge sich der Verdacht auf, dass nur die Kultur- und Sozialwissenschaften die ‚eigentliche‘ Wahrheit über die historische Entwicklung der Geschlechterdifferenz zu erforschen imstande wären – und gerade nicht die Biologie und Medizin. Einige Studierende hielten es für wichtig, die mit Weiblichkeits- und Männlichkeitsentwürfen verknüpften Machtstrukturen näher zu beleuchten. Außerdem stellten sie wiederholt die Frage, welche Relevanz die in literarischen Texten beschriebenen Geschlechterverhältnisse für den jeweiligen sozialhistorischen Kontext gehabt haben und welche Bedeutung ihnen gegenwärtig zukommt. Für ebenso interessant befunden wurde in diesem Zusammenhang die Beziehung zwischen philosophischen Entwürfen von Männlichkeit und Weiblichkeit und deren Darstellung in literarischen Texten. Wissenschaftsgeschichtliche Neugierde bestand in Bezug auf die schwierige Abgrenzung zwischen feministischer Literaturwissenschaft und den Gender Studies, deren Aktualität und Relevanz für die kulturwissenschaftliche Forschung vermutet wurde. Insgesamt bot die Umfrage einen aufschlussreichen Überblick über Voraussetzungen und Fragestellungen, die Studierende in ein solches Seminar mitbringen. Mit ihren Erkenntnisinteressen formulierten sie bereits die hauptsächlichen Anliegen der Gender Studies plausibel und umfassend.
Vier Arbeitsbereiche
Bereits 2005 schrieb Renate Hof in ihrer Handbuch-Einleitung von der „neuen Unübersichtlichkeit“ der Gender Studies. Mit „einer beinahe unüberschaubaren Fülle von Büchern und Aufsätzen“ habe sich die Geschlechterforschung sowohl im anglo-amerikanischen als auch im deutschsprachigen Raum quantitativ und qualitativ ausdifferenziert (Bußmann/Hof 2005, 3). Die höchst produktive und rasche Entwicklung dieses Forschungsbereichs kann allgemein für sozial- und geisteswissenschaftliche Disziplinen beobachtet werden. So entstanden zahlreiche Einzelstudien aus ihren jeweiligen Fächern heraus. Zugleich können Zeitschriftengründungen, eine zunehmende Institutionalisierung und intensive Bemühungen um eine entsprechende Enzyklopädisierung als Anzeichen dafür gelten, dieser neuen „Unübersichtlichkeit“ entgegentreten zu wollen, sie aber ihrerseits auch wiederum zu befördern. Angesichts stetig anwachsender Forschungserträge lässt sich die literaturwissenschaftliche Geschlechterforschung zunächst grob in vier große Arbeitsbereiche einteilen. Diese wiederum können mit spezifischen Fragen überschrieben werden, nach denen sich auch die folgenden Buchkapitel organisieren.
Literaturgeschichte
Wer schreibt? Ein früher Ansatz der Frauenforschung, der scheinbar immer noch fortgeführt werden muss, umfasst die Ergänzung und Korrektur einer von Autoren dominierten Literaturgeschichte (vgl. Kap. II). Traditionell schrieben Männer über Männer; schreibende Frauen kamen weder als Subjekt noch Objekt der Literaturgeschichte in nennenswerter Anzahl und Wertschätzung vor. Dabei kam und kommt es nicht nur darauf an, schreibenden Frauen in der Literaturgeschichte einen angemessenen Platz einzuräumen. Genauso wichtig ist es, die Prozesse zu erforschen, die zu dem weitestgehenden Ausschluss der Autorinnen aus der Literaturgeschichte geführt haben. Im Zuge solcher Kanon- und Wertungsforschung erfolgt die Rekonstruktion derjenigen Bedingungen, die Frauen zum Schreiben veranlasst oder es ihnen erschwert haben. Methodisch bietet sich für diese Arbeiten die sozialhistorische Überblicksdarstellung genauso an wie die Einzel- oder Kollektivbiographik.
Ästhetik und Poetik
Wie werden Texte geschrieben? Die Frage danach, ob es eine spezifisch weibliche Art des Schreibens gäbe (frz. „écriture féminine“), die sich von der (unmarkierten) männlichen Poetik kategorisch unterscheiden ließe, ist seit Langem feministischer sowie antifeministischer Diskussionsgegenstand. Strukturalistische und poststrukturalistische Impulse haben in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte dazu angestoßen, das Verhältnis zwischen sprachlichem Zeichen und Geschlecht zu problematisieren (vgl. Kap. III). Der Ausschluss ‚weiblicher‘ Sprachformen präge – so die entsprechende These – die Realität und deren Wahrnehmung in entscheidender Weise. Sprache hat sich als einer der wichtigsten kulturellen Ausschlussmechanismen erwiesen, der für eine mangelnde symbolische Repräsentanz des Weiblichen sorgt und die asymmetrischen Machtverhältnisse immer wieder aufs Neue bestätigt. Hingegen hätte ein Wandel in der Sprache, der den selbstverständlichen Umgang mit weiblichen grammatischen Formen und subversiven Schreibweisen bedeuten würde, weitreichende Folgen für die Performanz der Geschlechter. Im besten Fall könnte dann eine gleichwertige sprachliche Präsenz von Diversität das männlich dominierte Hegemoniedenken ablösen. Somit ist eine weibliche oder männliche Art des Schreibens nicht an das biologische Geschlecht der Autorinnen und Autoren gekoppelt; vielmehr handelt es sich um eine grundlegende Kritik an der abendländischen binären Ordnung des Denkens.
Gattung und Genre
Was wurde nach welchen Regeln geschrieben? Der Zusammenhang von Literatur und Geschlecht hat sich Jahrhunderte lang dahingehend entwickelt, dass spezifische Gattungen und Genres an das Geschlecht von Autoren und Autorinnen, aber auch von Lesern und Leserinnen gekoppelt sind (vgl. Kap. IV und V). Texte werden aufgrund gattungsspezifischer ästhetischer Normen an ein spezielles Publikum adressiert. Das Genre ‚Frauenliteratur‘ hat mit der Frauenforschung gemeinsam, dass es auf wenig konkrete Weise mit ‚Frauen‘ assoziiert ist. Es handelt sich womöglich um Literatur und Forschung von, für oder über Frauen. Diese Assoziationen stellen sich über die Kombination von Codes her – beispielsweise im Literaturbetrieb mittels der Konzeption der Titelheldin bis hin zur Umschlaggestaltung eines Buchs – und hängen darüber hinaus mit sozialhistorischen Faktoren der Bildungs- und Mediengeschichte zusammen. So wurden etwa Briefe und (Brief-)Romane während der Aufklärung zu spezifisch weiblichen Genres deklariert. Die Geschlechtsspezifik der Genres ist ihrerseits vielfältigen Prozessen des Fort- und Umschreibens unterworfen.
Interdisziplinarität und Intermedialität
Welche inter- und intradisziplinären Fragen werfen die Gender Studies auf? Mit der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Kulturwissenschaften in den 1990er Jahren traten zahlreiche Forschungsfelder zutage, die mit geschlechtsspezifischen Aspekten korrelieren (vgl. Kap. VI). Im Zuge dieser Entwicklungen haben sich insbesondere identitätspolitische und hegemoniekritische Ansätze als überaus wichtig und ergiebig für eine Vernetzung mit der Postkolonialismus-Forschung erwiesen. Identität kann weder im Hinblick auf Geschlecht noch auf Ethnizität als stabile Größe gesehen werden, sondern beide Kategorien sind auf intrikate Weise miteinander verbunden. Der weiße Mittelschichtsmann der westlichen Hemisphäre geriet als unmarkierte Definitionsinstanz für das Eigene und Fremde folglich besonders in die Kritik. So untersuchten erst die Men’s Studies – parallel zur Frauenforschung – verstärkt seit etwa Anfang der 1990er Jahre Konstruktionen von Männlichkeit unter soziokulturellen und historischen Gesichtspunkten. Soziologische Theorien der Diversität und Intersektionalität, die vor allem auch die Hierarchisierungen der unterschiedlichen identitätsspezifischen Aspekte (Geschlecht, Ethnie, Klasse, Religion u.a.m.) in den Blick rücken, tragen diesen Zusammenhängen Rechnung. Auch sexuelle Präferenz kann für die Subjekte der westlichen Welt nicht mehr schlicht vorausgesetzt werden, indem schwules und lesbisches Begehren als Abweichung von einer heteronormativen Ordnung beschrieben wird. Diesbezüglich haben sich Queer Studies und Gender Studies während der vergangenen zwanzig Jahre produktiv miteinander auseinandergesetzt. Recht zügig entwickelten sich im Austausch mit diskursanalytischen Projekten der Literatur- und Medienwissenschaften zugleich genderrelevante Fragestellungen zum modernen Subjektbegriff. Leitfragen in diesem Forschungsbereich könnten beispielsweise lauten: Welche medialen Voraussetzungen und Konsequenzen haben technische Innovationen? Und welche Perspektiven der Subjektkonstitution eröffnen sich mit spezifischen Medien?