Читать книгу Österreichische Schriftstellerinnen 1800-2000 - Sigrid Schmid-Bortenschlager - Страница 26
Ausweitung des Talentepools
ОглавлениеZwar bleibt die prestigeträchtige und einträgliche Theaterwelt den Frauen, trotz vieler Versuche, nach wie vor verschlossen.24 In der Lyrik, angeblich dem klassischen Betätigungsfeld von Frauen,25 findet Paoli keine wirkliche Nachfolgerin, vielleicht mit Ausnahme von Marie von Najmájer, die jedoch nie Paolis Status erreicht. Ada Christen verkörpert einen völlig anderen Lyrik-Typus. Erst gegen Ende des Jahrhunderts wird Lyrik bei Maria Janitschek und Eugenie delle Grazie wieder größere Bedeutung im Werk einnehmen, doch steht auch bei ihnen die Prosa im Zentrum; eine Entsprechung zu Annette von Droste-Hülshoff gibt es im Habsburgerreich nicht.
Der Bereich, den sich die Schriftstellerinnen um die Mitte des 19. Jahrhunderts erobern, ist die Prosa, und zwar die erzählende, ebenso wie – mit etwas Verspätung – die essayistische und journalistische. Dies mag etwas mit den schon öfter angesprochenen und hier gegebenen günstigen Verdienstmöglichkeiten zu tun haben, es entspricht aber auch den literarischen Strömungen, die sich nun durchsetzen – dem Realismus und dem Naturalismus, und es entspricht auch sogenannten „typisch weiblichen“ Eigenschaften. Da der öffentliche Raum den Frauen verschlossen ist, können und müssen sie im Inneren des Hauses die Fähigkeiten der sozialen Interaktion entwickeln, die Interaktion mit Starken und mit Schwachen, mit Kindern, Personal, Ehemann und Verwandten, was die psychologische Beobachtungs- und Analysefähigkeit schult. Die größte Zahl der Werke ist unter der Rubrik „Beziehungen“ (familiäre und amouröse) zu fassen, wobei häufig, aber keineswegs ausschließlich, Frauen die Hauptrollen zugeordnet werden und auch häufig aus ihrer Perspektive erzählt wird. Doch die wenigsten dieser Werke sind „emanzipatorisch“ im Sinne der Frauenbewegung. Zwar treten gar nicht so selten Frauen mit emanzipatorischen Ideen auf, doch sind sie nur Nebenfiguren und werden häufig nicht sympathisch gezeichnet; auf jeden Fall erweist sich ihr Gesichtspunkt durch die Logik der Erzählung als falsch.26
Wenn im Kontext der zweiten Frauenemanzipation um 1970 von Schriftsteller/inne/n und Wissenschaftler/inne/n immer wieder betont wird, dass die Literatur keine Identifikationsmuster für weibliche Lebensentwürfe biete, so trifft dies nur für die von der Literaturgeschichte kanonisierte Literatur zu, nicht für den sehr viel breiteren Bereich, den wir hier skizzieren. Richtig ist aber, dass sich die weiblichen Lebensentwürfe und Lebensmöglichkeiten in den letzen 150 Jahren so dramatisch verändert haben, dass viele der im 19. Jahrhundert vorgestellten Muster für die Gegenwart kaum mehr relevant sind.27 Das trifft allerdings auf die Künstler-Biographien wie Goethes Wilhelm Meister, Novalis’ Heinrich von Ofterdingen oder Kellers Grünen Heinrich ebenso zu.
Neben „Beziehungen“ werden soziale Fragen in der Literatur von Frauen häufig behandelt. Die Hinwendung zu den Schwachen und Armen entspricht dem Weiblichkeitstopos der Mütterlichkeit, doch steht sie in unserer Periode auch mit der erstarkenden sozialistischen Bewegung auf der Ebene der Politik und dem Naturalismus im Bereich der Kunst im Zusammenhang. Wir finden eine große Zahl von historischen Romanen und Erzählungen sowie historische Versepen.28 In diesen Bereichen teilen sich die Schriftstellerinnen die Themen mit ihren männlichen Kollegen – der „Professorenroman“ ist eine anerkannte Rubrik in den literarhistorischen Darstellungen, wenn auch heute meist nur mehr von akademischem Interesse. Die soziale Erzählung wird spätestens mit dem Naturalismus zu einem Schwerpunkt, und das triangle oder carré erotique ist seit jeher die Domäne der erzählenden Literatur.
Die hier behandelten Autorinnen gehören der Generation der in den 40er Jahren Geborenen an. Ada Christen (1839 –1901) wurde aufgrund der Inszenierung ihres zeitgenössischen Erfolgs als Lyrikerin bereits behandelt; mit ihrer Prosa, mit den sozialen Erzählungen gehört sie allerdings auch hierher. Ähnliches gilt für Ebner-Eschenbach, deren Sonderstatus als quasi offizielle österreichische Prosa-Autorin ihre Behandlung im Abschnitt „Wege zum Schreiben“ motiviert hat.
Von den zahlreichen Autorinnen ist heute noch, zumindest dem Namen nach, primär Bertha von Suttner (1843 –1914) bekannt. Ihr Roman Die Waffen nieder! ist ein Titel aus einem umfangreichen Œuvre – auch in ihrem Fall liegen Gesammelte Werke, diesmal in 12 Bänden,29 vor. Die Waffen nieder! ist ihr neuntes Buch, es ist ihr erfolgreichstes und es hat auch ihr Leben nachhaltig bestimmt. In der Folge widmet sie sich primär der Propagierung des Friedensgedankens und sie erhält als erste Frau 1905 den Friedensnobelpreis. Auch ihre schriftstellerische Tätigkeit ist sehr stark von dieser Thematik beeinflusst (z. B. die Fortsetzung ihres Erfolgsromans Marthas Kinder, 1903), sie schreibt aber auch Bücher mit anderen Inhalten – meist Beziehungsgeschichten – sowie einige Dramen.
Eine ähnliche Breitenwirkung wie Suttner hat auch Minna Kautsky (1837–1912), deren inhaltliches Anliegen der Sozialismus ist und die primär durch ihre Romane, die zuerst in sozialistischen Zeitungen in Fortsetzungen erschienen sind, ein breites Publikum erreicht – allerdings außerhalb des „normalen“ literaturwissenschaftlich wahrgenommenen Spektrums. Ihr Beiname „die rote Marlitt“ weist auf diese beiden Komponenten hin. Ihr Œuvre ist sehr viel schmaler als das von Suttner, auch die „Tendenz“ ist weniger deutlich ausgeprägt. Sie beginnt erst spät zu schreiben; als ihr erster Roman 1879 in Fortsetzungen in Die Neue Welt erscheint, ist sie bereits 42. Ihre „Botschaft“ ist in traditionellen Erzählmustern quasi versteckt, um im Anschluss an Bekanntes größere Wirkung für Neues zu erreichen. Bereits nach 10 Jahren ist ihre aktive schriftstellerische Karriere zu Ende; mit der Aufhebung der Sozialistengesetze scheint es den verantwortlichen Redakteuren nicht mehr notwendig, die sozialistischen Ideen fiktional zu „verpacken“. Auch das Publikum hat sich verändert; es will nun nicht mehr Liebesgeschichten mit sozialem Touch, sondern bevorzugt – durch den Naturalismus geschult – harte Sozialkritik; Adelheid Popps Jugendgeschichte einer Arbeiterin30 von 1909 entspricht eher dem Geschmack des neuen Jahrhunderts als Kautskys Helene (1884) oder Viktoria (1889).
Das traditionelle bürgerliche Lesepublikum, an das sich Ebner-Eschenbach und Suttner wenden, wird auch durch die Werke von Maria von Najmájer (1844 –1904) und Emil Marriot (1855 –1938) bedient.
Emil Marriot hat, im Gegensatz zu Suttner, die das männliche Pseudonym primär für ihre theoretischen Texte benutzt,31 den männlichen Namen als Schutz vor der Rubrizierung als „typisch weibliche“ Schriftstellerin ihr Leben lang beibehalten, auch als ihre wahre Identität schon lange bekannt ist.32
Eine Geschichte der Pseudonyme zu schreiben, wäre eine lohnende Aufgabe; ein Blick in die entsprechenden Lexika bestätigt auf jeden Fall die Annahme, dass es unzählige Frauen gegeben hat, die männliche Pseudonyme gewählt haben, während zumindest mir keine Männer bekannt sind, die unter eindeutig weiblichen Pseudonymen publiziert haben33. Wir finden die männlichen Pseudonyme häufig am Beginn der Karriere, häufig bei Zeitschriftenpublikationen, was den Schluss erlaubt, dass die Rezeptionshaltung gegenüber einer Schriftstellerin offenkundig eine andere ist als die gegenüber einem Schriftsteller. Es mangelt ihr an Autorität, an der Berechtigung zur künstlerischen Tätigkeit, die Kritik bleibt schon am Geschlecht hängen, bevor sie sich mit Inhalt und Qualität des Textes auseinandersetzt – frau hat das Gefühl, fast zu hören, wie die verschiedenen Vorurteile im Hirn einrasten.
Marriots umfangreiches Romanwerk ist eine scharfe Kritik des Bürgertums, wobei sie brisante Themen wie Kirchenstreit und Euthanasie aufgreift; aufgrund der Härte ihrer Kritik und aufgrund des häufig fehlenden Happy Ends ihrer Texte (es gibt bestenfalls einen offenen Schluss, wenn nicht eine Katastrophe) wird sie, wenn sie überhaupt behandelt wird, dem Naturalismus zugerechnet. Wie bei den meisten anderen Schriftstellerinnen auch verliert sie mit der Jahrhundertwende, spätestens mit dem Weltkrieg, ihr Publikum – den Anschluss an die literarischen Strömungen, die mit den Namen Schnitzler und Hofmannsthal verknüpft sind, hat diese Generation nicht geschafft.
Dies trifft auch auf die jüngere Ossip Schubin (1854 –1934)34 – ebenfalls ein männliches Pseudonym für Lola Kirschner – zu, die aus dem tschechischen Teil der Monarchie stammt und ebenfalls Gesellschaftsromane, allerdings ohne die Härte der Kritik Marriots, dafür häufig recht ironisch, geschrieben hat. Wie bei Ebner-Eschenbach ist ihr bevorzugtes Milieu der Adel, ihre Kritik hat allerdings nicht deren humanistisches Pathos, sondern bewegt sich eher an der Oberfläche.
Auch Irma von Troll-Borostyáni (1847–1912), deren Essays durch ihre feministische Radikalität beeindrucken, bleibt im belletristischen Bereich, der bei ihr primär der Verbreitung ihrer Ideen dient, dem Realismus des 19. Jahrhunderts verhaftet35 – lediglich in einigen ihrer Erzählungen erweist auch sie sich als eine Repräsentantin eines österreichischen Naturalismus. In der Erzählung Brot wird die Not der Näherinnen dem Luxusleben der Fabrikbesitzer gegenübergestellt. Die Protagonistin Elise wird zur Diebin, um den Hunger der kranken Mutter zu stillen. Nach ihrer Verurteilung begeht sie Selbstmord, während sich der Sohn des Fabrikbesitzers mit seiner Mätresse vergnügt.
Für alle genannten Autorinnen – mit Ausnahme von Ebner-Eschenbach und Najmájer – ist Schreiben auch eine ökonomische Notwendigkeit. Alle stammen aus einem breit verstandenen Bürgertum, und viele von ihnen müssen den Verlust einer finanziell gesicherten Existenz erleben, sei es durch die Wirtschaftskrise und den Börsenkrach von 1873, sei es durch Tod, Krankheit oder Geschäftsuntüchtigkeit bzw. Spielsucht von Vater oder Ehemann. Das Milieu des assimilierten Judentums in Wien spielt zwar in der Förderung der literarischen Aktivitäten – man denke an die Sponsoren des Vereins der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen – eine wichtige Rolle, bringt jedoch bei den Frauen, anders als bei den Männern, wenig schriftstellerische Talente hervor. Auch noch um die Jahrhundertwende sind Elsa Bernstein (= Ernst Rosmer) (1866 –1949) und Else Jerusalem (1877–1942?)36 Einzelerscheinungen. Erst in der Literatur der Zwischenkriegszeit wird sich die literarische Emanzipation der Autorinnen jüdischer Herkunft manifestieren.
Zu weiteren biographischen Übereinstimmungen gehört, dass zwar fast alle Schriftstellerinnen verheiratet sind (mit Ausnahme von Paoli, Najmájer und Marriot), dass aber die wenigsten Kinder haben (nur Kautsky und Sacher-Masoch).37 Schreiben, speziell für Zeitungen und Zeitschriften, ist eine der wenigen lukrativen Tätigkeiten, die den Frauen aufgrund ihrer mangelnden formalen Bildung offen steht. Doch die ökonomische Notwendigkeit ist natürlich nur ein Motiv, meist eines, das dazu beigetragen hat, dass aus der Dilettantin eine professionelle Schriftstellerin wird.
In den biographischen Angaben vieler Autorinnen finden sich Hinweise, dass sie schon sehr früh zu schreiben begonnen haben (bei Najmájer z. B. ist es, wie bei Pichler, das zwölfte Lebensjahr, in dem sie ihre Gedichte an mögliche Förderer heranträgt, Marriot schreibt ihre Napoleon-Dramen mit dreizehn – das Schreiben steht also in engem Zusammenhang mit der beginnenden Pubertät). Viele Autorinnen berichten auch über ihre Weigerung, die weibliche Rolle, ausgedrückt in weiblicher Kleidung, zu akzeptieren (Marriot, Pfeiffer, Druskowitz, Troll, Mayreder). Häufig findet sich auch die bewusste Kontaktaufnahme mit verehrten Schriftstellern, von denen sie sich Förderung erhoffen; manchmal geht diese Kontaktaufnahme über Familienmitglieder, wie bei Ebner-Eschenbach zu Grillparzer, manchmal ist es ein angeblich zufälliges Zusammentreffen wie bei Saar und Christen,38 manchmal wird der Kontakt aber auch ganz direkt eingeleitet, so bei Marriot und bei Angelika Rümelin, der späteren Wanda von Sacher-Masoch, die sich beide brieflich an den damals angesehenen und aufgrund seiner eigenen Zeitschrift sowie seiner literarischen Beziehungen sehr einflussreichen Sacher-Masoch39 gewendet haben.
Ähnlich wie Saar, der Christens Texte redigiert hat, scheut auch Sacher-Masoch offenbar keine Mühe, um (häufig weibliche) literarische Talente zu fördern. Er korrigiert nicht nur die ihm zugesandten Texte sorgfältig und versieht sie mit präzisen Erklärungen (warum eine Metapher nicht angebracht ist, was an der Konstruktion des Plots zu verbessern sei etc.), er stellt seinen Briefpartner(inne)n auch konkrete Aufgaben für die Texte, die teilweise im Hinblick auf Publikationsmöglichkeiten in bestimmten Zeitschriften ausgewählt sind, teilweise seinen eigenen Obsessionen entsprechen. Doch ist er keineswegs böse, wenn diese Themenvorschläge, wie z. B. von Marriot, da ihr nicht entsprechend, abgelehnt werden. Auch die Ignorierung seines rekurrenten Briefschlusses, ob die Briefpartnerin nicht Lust hätte, ihn einmal im Pelzkostüm auszupeitschen, nimmt er offenbar nicht übel.40