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Gesellschaftsromane

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Doch diese weiblichen Pendants zu dem im deutschsprachigen bürgerlichen Realismus so beliebten Entwicklungsroman sind selten, häufiger finden sich die Romane „aus dem socialen Leben“, um den Untertitel von Kapff-Essenther zu zitieren, deren Frauenehre wir als Entwicklungsroman behandelt haben. Die Gesellschaftsromane, im Sinn des französischen und englischen Realismus, bilden in dieser Zeit das Gros der Texte von Schriftstellerinnen; der Bogen reicht von ironischen Schilderungen der „besseren“ Gesellschaft wie bei Ebner-Eschenbach oder bei Schubin bis zu massiver Sozialkritik wie bei Marriot oder Troll-Borostyáni. Die Untertitel wie Roman aus dem bürgerlichen Leben oder Roman aus den bürgerlichen Kreisen weisen in diese Richtung.44

Marriots (1855 –1938) Texte – wir sind ihr schon als „Schülerin“ Sacher-Masochs begegnet – könnte man als Prosa-Versionen Strindberg’scher Ehe- und Familienhöllen bezeichnen. Die Unerträglichkeit der Familiensituation ergibt sich dabei perfiderweise nicht aus der Auflehnung von Frauen – oder von Männern – gegen die herkömmliche Ordnung, vielmehr wird die Erfüllung der bürgerlichen Erwartungen zum Ursprung des Elends. Die Männer in Marriots Romanen wählen die klassisch hübsche, aber beschränkte höhere Tochter zur Frau wie der Arzt Dr. Norberg in Menschlichkeit (1902), der diese Wahl damit begründet, dass er sich zu Hause erholen wolle, keine gescheite Frau brauche, sondern das kindliche Geplauder seines hübschen und sexuell attraktiven Weibchens suche, das er in dieser Form auch liebt. Und auch die Frauen finden das, was sie suchen, den gesellschaftlich angesehenen Mann, der für ihr materielles Wohlergehen zu sorgen weiß, in Menschlichkeit genauso wie in Junge Ehe (1897) und anderen Romanen Marriots. Dass diese Ehen, in denen ja die beiderseitigen Erwartungen erfüllt werden, trotzdem zur Katastrophe für die Betroffenen werden – die Ehen werden selbstverständlich weitergeführt –, liegt nicht an den Personen, sondern am Konzept selbst: Die Männer können Beruf und Alltag nicht so vollkommen trennen, wie sie geglaubt haben; aus dem Beruf stammende Probleme wirken sich auch auf das gesellschaftliche Umfeld aus, in dem die Frauen agieren, und ohne Wissen um die beruflichen Probleme erfahren sie Schwierigkeiten als persönliche Kränkungen; die Männer nehmen sich das Recht auf Liaisons mit interessanteren Frauen, und die kindlich-naiv-dummen Ehefrauen reagieren mit Szenen, Krankheiten etc.

Häufig wird dieser eheliche Machtkampf über die Kinder geführt, die die ersten Opfer sind. In Menschlichkeit, in dem das Thema Euthanasie zentral ist, übernimmt die Ehefrau die Vorurteile der Gesellschaft und verweigert die Behandlung des Sohnes durch den Vater. Sie verursacht mit dieser Weigerung sowohl den Tod des Kindes als auch ihren eigenen. In Junge Ehe kann das Leben von Fanny/Franziska bei der komplizierten Geburt nur durch die Tötung des Kindes gerettet werden – wiederum war es das gesundheitswidrige Verhalten der Mutter, bedingt durch eine Liaison des Ehemanns, das die Komplikationen hervorgerufen hat. Die Versöhnung am Ende steht unter dem Zeichen ihrer Resignation:

Wie las ihr ernüchterter Blick so scharf und klar in der Brust dieses Mannes! Wie war es so wahr, daß er sich nimmer ändern würde! […] Die Zeit würde bald kommen, wo sie ihm mit ihrer Traurigkeit beschwerlich fallen würde […] Auch das sah sie voraus.45

Marriots Kritik richtet sich, ähnlich wie die Suttners, gegen Fundamente der bürgerlichen Gesellschaft. Wie wir gesehen haben, geht es – neben den großen Themen der Zeit wie Rolle der Kirche, Fragen der Volksgesundheit im Kontext von Nietzsches Übermenschen, Schopenhauers Pessimismus – um die Institution der Ehe. Sie ist nicht durch eine bessere Erziehung der Mädchen – die auch gefordert wird – zu retten. Die Ehe wird bei Marriot als komplizierter, aber unentrinnbarer Machtkampf dargestellt,46 ein Kampf, der auch der gesellschaftlich schwächeren Position der Frau Möglichkeiten gibt, Macht auszuüben. Am Ende der Romane Marriots siegt zwar oft scheinbar die (bürgerliche) Moral. In Menschlichkeit hat der Pfarrer das letzte Wort und seine Schwester Susanne scheint seinen Standpunkt zu akzeptieren – er hat aus moralischen Überlegungen Dr. Norberg, den Freigeist und Anhänger der Euthanasie, regelrecht aus dem Dorf vertrieben. Doch seine Figur ist im gesamten Roman so negativ und blass gezeichnet, dass dieser Schluss nicht zu überzeugen vermag. Susanne resigniert zwar, kann den Freund aber nicht verurteilen, im Gegenteil, sie weist die billige Moral des Kaplans zurück, der im Tod von Norbergs Kind die Strafe Gottes sieht; sie macht darauf aufmerksam, dass auch Kinder von Gerechten an der Diphtherie gestorben seien. Susanne repräsentiert die im Werk Marriots immer wieder auftretenden „emanzipierten“ Frauen, die in der Arbeit – hier im Spital des kleinen Ortes – einen Lebenssinn finden; für die Männer kommen sie allerdings nur als Kameradin in Frage und müssen auf Liebe, Sexualität und Familie verzichten.

Marriots Romane bewegen sich im bürgerlichen Milieu und zeichnen hier ein sehr genaues und kritisches Bild der Geschlechterverhältnisse mit einem starken Einschlag des Schopenhauer’schen Pessimismus, der ihre Gedankenwelt prägt. Insofern ist ihr auch der Optimismus der Frauenbewegung fremd, die sie zwar zur Kenntnis nimmt,47 der sie sich aber nicht anschließt. Erst die Vertreterinnen der Frauenbewegung werden das dargestellte Spektrum auf die dem Naturalismus so wichtigen Unterschichten hin ausweiten, insbesondere die Prostituierten spielen in der Literatur um 1900 eine wichtige Rolle, eine Rolle, die sie in der zweiten Frauenbewegung nicht mehr haben werden.

Die Romane von Minna Kautsky (1837–1912), der „roten Marlitt“, hingegen spielen, wiewohl zur Zeit des Naturalismus geschrieben, im adeligen und bürgerlichen Milieu; Arbeiter/innen kommen zwar vor, doch sind sie keine Protagonisten; das Schicksal der Held/inn/en, das dem traditionellen Familienroman folgt, bestimmt sich jedoch nach der jeweiligen Einstellung zum „vierten Stand“. Literarisch bemerkenswert sind die Darstellungen der Arbeiter bei Kautsky insofern, als sie für die – quantitativ nicht sehr umfangreichen – Schilderungen genaue Recherchen durchgeführt hat. In einem gewissen Sinne können diese Passagen über die Fabrikarbeit als frühe Formen der Dokumentarliteratur angesehen werden – sie werden auch heute immer wieder als solche isoliert abgedruckt. Im Kontext des Gesamtromans spielen sie nur eine untergeordnete Rolle. Sie haben für die Leser/innen vielleicht ein Identifikationspotential dargestellt; für Kautsky scheint die Dokumentation die Möglichkeit gewesen zu sein, sich dem ihr fremden Milieu ohne Verlogenheit anzunähern.

Die Tendenz zum sozialen Engagement wird große Teile der Literatur von Frauen im 20. Jahrhundert bestimmen. Die politische Bewegung des Sozialismus und die mit ihm oft in Zusammenhang gebrachte literarische Entwicklung des Naturalismus sind wichtige Impulse, doch werden diese allgemeinen Einflüsse verstärkt durch die traditionelle Frauenrolle, die in der Fürsorge für die Schwachen, in der caritas, schon immer einen wichtigen Aufgabenbereich gesehen hat. Verstärkt wird dieser Trend auch durch die konkrete Erfahrung zumindest der Bedrohung durch Armut, die zahlreiche Schriftstellerinnen zum Schreiben gebracht hat. Verstärkend wirkt aber auch die Frauenbewegung, die schon damals versucht, ein gewisses „Wir-Gefühl“ zu kreieren, auch wenn die erste Frauenbewegung eindeutig als „bürgerlich“ klassifiziert werden kann.48

Österreichische Schriftstellerinnen 1800-2000

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