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DAS TREFFEN DER ELEMENTE
ОглавлениеIm größten Canyon unserer Welt trafen sich unweit eines lautstarken Wasserfalls seltsame Gestalten. Mehrere standen, andere schwebten hin und her oder im Kreis, und der Rest lagerte auf weichen Moospolstern. Eine Unterhaltung war nicht möglich, da die Wassermassen mit ganzer Kraft wirbelnd und laut auftrumpfend in die Tiefe stürzten, um im Flussbett allmählich Ruhe zu finden.
Langsam wurde es dunkel. Der Mond hatte sein Gegenüber, die Sonne, verlassen und war vom Himmelszelt herabgestiegen. Da noch nicht alle Eingeladenen anwesend waren, vertrieb er sich die Wartezeit, in dem er auf dem Rand des Canyons entlang rollte. Leise kichernd gab er sich ganz diesem Vergnügen hin.
Jetzt warteten alle nur noch auf die Sonne, die noch einige Zeit brauchte, um ihre Umlaufbahn zu beenden. Inzwischen war der Mond auf die Idee gekommen, nicht nur über die kleinen Felsspalten, sondern von einer Seite des Canyons auf die andere zu springen. Seine Fröhlichkeit war ansteckend und drang sogar durch das Tosen des Wasserfalls bis auf den Boden der Schlucht.
Nun war auch die Sonne eingetroffen. Den ganzen Tag schien sie vom wolkenlosen Himmel und war ziemlich erschöpft und blass, so dass es ihr keine Mühe bereitete, auch ihre vorwitzigsten und neugierigsten Finger, die wir Menschen als Strahlen wahrnehmen, schlafen zu schicken.
Mutter Erde hatte die Elemente und Wandler eingeladen. Damit keine Unbefugten sie sehen oder gar belauschen konnten, hatten die Dunkelheit und der Wind die Menschen weit fortgetrieben. Der Nebel verschloss die Sicht von oben mit einer dicken Watteschicht. Während ihm alle zusahen, wie er sein Werk vollendete, erhob sich eine Gestalt und berührte mit eisiger Hand das sprudelnde Wasser. Sofort erstarrte es und bizarre Eisformen bildeten sich.
Die tiefen Furchen auf der Stirn von Mutter Erde zeigten ihren Ärger an. „Dazu hattest du keinen Auftrag!“
Frau Kälte warf ihr einen verächtlichen Blick zu und schwieg. Die Sonne schenkte dem Eis ein Lächeln. Sofort schmolz es, und nur noch sanft flüsternd fielen die Wassertropfen vom Berg.
Mutter Erde begann zu sprechen: „Mit Absicht habe ich zu diesem Treffen eingeladen und nicht die verantwortlichen Götter, denen ihr untersteht. Wie ausreichend bekannt ist, sind beim letzten Mal viele wichtige Hinweise gar nicht oder verstümmelt bei den Adressaten angekommen. Aber ich will keine langen Vorreden halten und auch niemanden für das Misslingen verantwortlich machen. Wichtig ist nur, wir lernen aus den Fehlern. Es geht wieder einmal um das Zusammenleben zwischen uns und den Menschen. Beide Seiten schaffen es nicht, miteinander zufrieden zu sein.“
Kaum war der letzte Ton von Mutter Erde verklungen, begann eine rege Diskussion. Untereinander beschwerten sie sich, was die Menschen doch für undankbare Geschöpfe seien.
Nichts könne man ihnen recht machen. Sie glaubten, alles zu wissen. Dabei wüssten sie gar nichts. Ständig forschen sie und behaupten, uns schützen zu wollen. Als ob wir ihren Schutz nötig hätten! Ohne sie wären wir viel besser dran.
Bevor noch jemand seinen Unmut kundtun konnte, schaltete sich Mutter Erde in die Debatte ein. „Stopp, stopp, meine Lieben! Gäbe es bei den Menschen zum gleichen Thema eine Versammlung, was sagten sie wohl über uns?“
Bestürztes Schweigen trat ein. „Genauso wie wir jetzt“, sagte Mutter Erde. „Sie geben uns oder zusammengefasst der Natur die Schuld. Immer wieder muss ich feststellen, dass wir alle sehr vergesslich sind. Ohne unser Dazutun spazierten die Menschen nicht auf mir herum. Wollen wir sie vernichten?“
Jedes Jahr sterben Menschen durch die Elemente und Wandler, durch Erfrieren, Hitze, Ertrinken, Erdbeben, Lavaausbrüche, Sturm. Nicht etwa, dass einige von ihnen Unschuldsengel wären. Aber alle Menschen? Dem Wasser fiel sogleich ein, wie glücklich Peter im Närrischen Meer badete. Diesen liebenswerten Jungen sollte er ertrinken lassen? Auch andere Menschen, die er sehr gern mochte und mit denen er oftmals nicht gerade höflich umgegangen war, sollten sterben? „Nein!“, schrie es verzweifelt. Eine riesige Welle stürzte in den Fluss. Selbst der Nebel konnte den Aufschrei nicht dämpfen, und alle erschraken auf das Heftigste. Dieses „Nein“ hing wie das Damoklesschwert über den Anwesenden.
Die Kälte klirrte vor Empörung über das Wasser. Die Sonne stimmte in das „Nein“ ein. Da der Mond seine schöne Schwester nie im Stich lässt, unterstützte er das „Nein“.
„Gut“, sagte Mutter Erde, „dann sollen die Menschen leben. Etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet.“
„Wie kommst du darauf?“, unterbrach sie das Feuer. „Weder ich noch der Wind, die Luft, der Nebel und die Kälte haben zugestimmt. Wir sind fünf, also die Mehrzahl.“
„Ich stimme für „Nein“, mischte sich der Nebel ein, „und die Meinung von Mutter Erde haben wir eben gehört.“
Die Kälte enthielt sich ihrer Stimme.
Der Wind entschied sich für „Nein“. Die Menschen sollten nicht sterben. Es war doch lustig, den Mädchen und Frauen unter die Kleider zu fahren, sie hinter den davonfliegenden Handtaschen oder Hüten her laufen zu lassen und sie ungestraft überall berühren zu dürfen. Er trieb aber nicht nur Unfug. Erhitzen Gemütern kühlte er die glühenden Gesichter. Die trocknende Wäsche umgab er mit seiner unnachahmlichen Frische.
Die Luft bewegte sich wie auf einem Schaukelstuhl. Wippte sie nach vorn, sagte sie „Ja“. Ging der Schwung nach hinten, sagte sie „Nein“.
Nach einigen Minuten machte Mutter Erde dem Spiel ein Ende. Alle wussten, dass von der Luft keine Entscheidung kommen werde.
Mürrisch prasselte das Feuer: „Dann soll es eben so sein, mögen die Menschen leben. Hoffentlich rauben sie jedem Einzelnen von euch ganz brutal den Nerv.“
„Mutter Erde, ich möchte daran erinnern, dass Vollmond ist. Du weißt sicher schon, wie es weitergehen soll?“
„Ja, in der Tat. Alle Elemente und Wandler sollen in Extreme verfallen, nicht gleichzeitig, sondern nacheinander. Die Kälte beginnt. Ist diese Periode überwunden, wird die Sonne den Planeten zum Glühen bringen. Schauen wir mal, wie die Menschen darauf reagieren und was sie zu tun gewillt sind, um das Gleichgewicht wieder her zu stellen. Ihr werdet euch selbstverständlich gegenseitig unterstützen. Und noch eines ist mir wichtig! Bestraft nicht immer die Ärmsten der Armen. Lasst ihnen ihre Hütten. Nehmt die, die das Sagen haben. Macht die Paläste zeitweilig unbewohnbar, damit sie lernen, wie wertvoll Hütten sind.“
„Ich nehme an, der Vorschlag von Mutter Erde ist einstimmig angenommen“, und ohne eine Antwort abzuwarten, stieg der Mond mit Siebenmeilenstiefeln zum Himmel empor. Dort nahm er sein aus dem Flaum der Himmelsschäfchen gewebtes Tuch und putzte die Nebelfeuchtigkeit von seinem Körper. Dann schickte er einen Strahl in Peters Zimmer und kitzelte ihn an der Nase.
„Hatschi“, nieste Peter und schlief weiter.
Der Mond lächelte und begab sich auf seine Himmelstour. „Hoffentlich sitzen sie im Canyon nicht noch ewig“, dachte er. „Es wird Zeit für die Flut. Dazu brauche ich das Wasser.“
Dem Mond war nicht entgangen, dass die Furchen im Gesicht von Mutter Erde noch tiefer geworden waren, als die Kälte den Wasserfall abstellte. Er betrachtete das Wasser als das Blut der Erde, während das Feuer behauptete, es sei das Blut der Erde. „Warum sollte Mutter Erde bei ihrer Größe nicht zwei unterschiedliche Blutbahnen haben?“, überlegte der Mond.