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UNTERWEGS

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Der Kontrolleur sollte recht behalten. Nichts als Eiswüste. Bäume, Sträucher und Gräser sahen sich selbst nicht mehr ähnlich. Sie waren zu undefinierbaren Eisformen geworden, die wie furchteinflößende Figuren in der einst so lieblichen Landschaft dem Betrachter Schauer des Grauens über den Rücken jagten.

Nach etwa einer Stunde stoppte Peter seine Karawane. „Du willst doch nicht etwa schon Pause machen?“, fragte der Smutje.

„Nein, ich will testen, ob das Lösungswort noch gültig ist. Erstarrt.“ Peter wartete eine Weile. Nichts geschah. „Erstarrung.“ Wieder nichts. „Erstarrtheit.“ Er sah Gina an: „Fällt dir nichts ein, Gina?“ Traurig schüttelte sie den Kopf.

„Dann tut es mir leid. Einen Versuch war es wert. Weiter geht’s.“

Sie tasteten sich eher vorwärts, als dass sie wirklich liefen. Der Himmel war schwarz von Wolken. Den ganzen Tag wurde es nicht hell. Während einer kurzen Trinkpause wollten die Matrosen die Verpackung des Schlittens mit der Bekleidung öffnen.

„Was macht ihr denn da?“, wollte der Kapitän wissen.

„Neue Socken rausholen. Unsere haben Löcher.“

Der Kapitän wurde ärgerlich. „Auf dem Meer seid ihr wirklich tolle Kerle. Bessere kann ich mir nicht wünschen. Aber an Land benehmt ihr euch wie die Babys. Die Socken warden so lange getragen, bis nicht eine ganze Stelle mehr dran ist und sie von selbst von den Füßen fallen.“

„Aber wir haben doch genug“, verteidigten sich beide. „Könnt ihr mir sagen, wie lange wir noch unterwegs sind?“

Darauf wussten sie keine Antwort.

„Wir begleiten Peter, um ihm seine Aufgaben zu erleichtern, und nicht, um ihm zusätzliche Probleme zu schaffen.“

Am späten Nachmittag beschlossen sie einmütig, es für heute genug sein zu lassen. Obwohl die Zelte nur für vier Personen gedacht waren, wollten sie wegen der Kälte und fehlenden Heizmaterials alle in einem schlafen. Das zweite benutzten sie als Überzelt. Bei allem Ungemach war es zum Glück windstill.

Jetzt begannen für den Koch die Probleme. Im Laufe des Tages hatten sie nur zwei Trinkpausen eingelegt. Dazu hatte er alles, was er im Kloster an Thermosgefäßen finden konnte, mit Tee befüllt. Sie waren leer. Nun musste er für Nachschub und warmes Essen sorgen. Leider hatte er nur einen kleinen Kocher finden können, der mit Brennspiritustabletten in Gang gebracht werden musste. Auf ihn passte nur ein kleiner Topf. Alle hielten es für selbstverständlich zu warten.

Sehr dichtgedrängt saßen sie im Zelt, um dem Koch eine gewisse Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Peter, Gina und Bella waren immer an der Spitze gelaufen, die ihnen niemand streitig machte. Nun kamen dem Kapitän Bedenken. Was wäre, wenn sie im Kreis gelaufen und nicht wirklich vorangekommen waren? Er äußerte seine Zweifel. „Die musst du nicht haben“, beruhigte ihn Gina. „Überall wohin ich gehe, speichere ich automatisch die Koordinaten, um sie bei Bedarf abrufen zu können.“

Der Kapitän sah in die Runde. „Dann hat wohl niemand etwas dagegen, wenn ihr weiter unsere Wegweiser bleibt.“

„Auf Grund der Vorbereitungen hatte ich gar keine Gelegenheit, mich mit Gina zu unterhalten. Während wir warten, kann sie uns erzählen, wie es im Roboterland aussieht“, schlug Peter vor.

„Käpt’n, Smutje, Peter, Rubens, Freddy und auch du, Bella, es war fantastisch, wieder bei meinem Robby zu sein und nicht ständig irgendwo in der Welt herumzuschwirren, einfach wie eine ganz normale Familie zu leben, sich mit Freunden zu treffen.“

„Die gleiche Meinung hatte meine Mutter auch“, dachte Peter ohne Ginas Erzählung zu unterbrechen.

„Dass Haupt zum Arbeitsroboter wurde, weißt du sicher noch Peter. Er ist der unmöglichste Aro, den es jemals gegeben hat, immer unzufrieden, immer widersprechend. Wir konnten nicht herausfinden, was von seinem Gedankengut als Haupt noch vorhanden ist. Er versucht jeden zu schikanieren, und lässt den nötigen Respekt vor uns, der Ersten Serie, fehlen. Professor Tut Gut vermissen wir sehr. Ihm wäre sicher die richtige Lösung eingefallen. Vielleicht tragen wir einen Teil Schuld, weil wir ihn mit Haupt und nicht mit Aro und einer Nummer ansprechen. Während seine Gehässigkeiten gegenüber den Aros, den Mames und Memas leidlich zu erdulden sind, treibt er es mit den Menschen ganz schlimm. Am Gefährlichsten benimmt er sich gegenüber den Bummlich-Fummlichs. Wir mussten Aros, die uns ergeben sind, als Wachen vor das Wohngebiet stellen, um sie vor Haupt zu schützen. Ruhe vor ihm gibt es nur, wenn seine Batterien leer sind. Das Gesetz im Roboterland besagt, dass alle ausgefallenen Aros gesucht und funktionsfähig gemacht werden müssen. So haben wir immer nur einen kurzen Moment zum Aufatmen.“

Inzwischen hatten alle ihre Mahlzeit eingenommen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Peter war enttäuscht. Sein Einsatz hatte nicht wirklich dem Roboterland Frieden gebracht. „Das Roboterland muss endgültig von Haupt befreit werden. Wollte er nicht die Erste Serie bei Ungehorsam ihm gegenüber von den Aros zerlegen und die Einzelteile in Säure legen lassen, bis von ihnen nichts mehr übrig ist? Warum macht ihr das nicht mit Haupt? Noch besser, er wird mit einem Auftrag in das Bummlich-Fummlich-Land geschickt. Sind seine Batterien aufgebraucht, ist niemand da, der ihm hilft.“

„Die Idee ist wirklich gut“, stellte Gina fest. „Schade, dass ich nicht mit Robby sprechen und ihm deinen Vorschlag mitteilen kann. Umso wichtiger ist es, hier so schnell wie möglich unseren Auftrag zu erfüllen.“

Am nächsten Morgen hatten sie den Eindruck, es sei wärmer geworden. Eine blasse Sonne erhellte den Tag und machte unseren Reisenden Lust auf große Taten. Nach etwa zwei Stunden hatte die Sonne wohl genug von der Welt. Blitzschnell verschwand sie hinter einer dicken Nebelwand. Außer Gina konnte niemand etwas sehen, nicht einmal mehr die sprichwörtliche Hand vor den Augen. Das Schlimmste und Zeitraubendste wäre, ginge eine Person verloren und müsste gesucht werden. Sich gegenseitig etwas zuzurufen, ging auch nicht. Der Nebel verschluckte alle Geräusche.


Gina band einen Schlitten hinter den anderen. Obwohl alle ihre zugewiesenen Schlitten ziehen mussten, wurden auch sie rechts oder links am nächsten Schlitten festgebunden. Sobald jemand mehrere Schritte abwich, war für ihn nicht mehr erkennbar, wo er sich befand. In dieser Situation sehnten sie die Pausen herbei. Wie lange kämpften sie sich schon durch den Nebel? War es noch Vormittag, Nachmittag oder ganz und gar schon Nacht? Liefen sie noch auf Mutter Erde oder etwa schon durch Wolken?

Da, endlich kam der Wind und vertrieb den Nebel. Er hatte nicht vor, wieder zu gehen, sondern plusterte sich zum Sturm auf und zerrte mit dem größten Vergnügen an Seilen und allen, was sich bewegen und ins Schwanken bringen ließ. Dabei wechselte er ständig die Richtung. Heißa, dies Spiel war so richtig nach seinem Geschmack. „Hallo, Gevatterin Kälte, reich mir deine Hand, damit ich den Menschlein dort in der Eiswüste den letzten Funken Wärme aus ihren Körpern saugen kann.“ Die Kälte reichte ihm die Hand. Vereint ließen sie die Temperaturen im Sturzflug in den Keller rauschen. Den diffusen Lichtverhältnissen nach musste es Abend sein. Niemand hatte Lust, auf seine Uhr zu sehen und so dem Sturm ein winziges Fleckchen nackter Menschenhaut preiszugeben. Es gab keinen Wald, keine Senke, absolut keinen Schutz vor dem tobenden Sturm und der nagenden Kälte. Die Menschen wünschten sich anstatt ihrer nur zwei Arme ganz viele, um all das festzuhalten, was der Sturm ihnen rauben wollte.

Beim Aufstellen der Zelte gerieten sie ins Schwitzen. Obwohl sie wieder ein Zelt über das andere stellten und zusätzlich mit Heringen sicherten, fand der Sturm seine Angriffsflächen und Zwischenräume. An warme Getränke und Essen war nicht zu denken. Zum Eisstückchen lutschen hatte niemand Lust. Erschöpft krochen sie in ihre Schlafsäcke, drängten sich ganz eng aneinander und schliefen sofort ein. Als der Sturm hier nichts mehr ausrichten konnte, verzog er sich, um neue Opfer zu finden. Frau Kälte blieb.

Tag drei hatte begonnen. Die Hündin stand bellend vor dem Zelt. „Bella, halt die Schnauze“, knurrte der Smutje, sich mühsam aus dem Schlaf reißend, und die schweren Augenlider öffnend.

Gina und Peter wühlten sich aus den Schlafsäcken, und schon standen sie neben der Hündin. Was war denn das für eine Gestalt, die Bella so wütend anknurrte und vor ihren Annäherungsversuchen zurückwich? Ihre Beißversuche liefen ins Leere. Eine menschliche oder tierische Figur war nicht zu erkennen, eher in verschiedenen Größen zusammengesetzte Klumpen, Kugeln und Bretter. Daran hingen überall Eiszapfen. Peter und Gina blickten einige Minuten dieses Etwas an, das versuchte, in das Zelt zu gelangen, jedoch an Gina nicht vorbeikam.

„Guten Morgen, Frau Kälte“, begrüßte Gina sie. „Was verschafft uns die Ehre?“

„Natürlich! Hätte ich mir ja denken können. Schon wieder ihr drei. Warum schleppt ihr die Seeratten auch noch mit? Ich will es gar nicht wissen. Aber merke dir, Peter, diesmal erreichst du dein Ziel nicht, selbst wenn dir alle Bewohner des Landes helfen sollten. Das allein ist ein Verstoß gegen die Gesetze und strafbar. Als Strafe werde ich jeden Einzelnen von euch zerbrechen, und du, Peter, wirst zusehen müssen, denn du kommst als Letzter dran.“ Frau Kälte drehte sich um. Dabei verlor sie ein paar Eiszapfen. Laut höhnisch lachend und vor Frost klirrend, ging sie davon.

„Du machst mir keine Angst“, rief Peter ihr nach. „Gleich fangen wir an, dir Feuer unter deine verlorenen Glieder zu machen und daraus herrlich heißen Tee! Was glaubst du, wie warm uns wird? Da gerätst selbst du ins Schwitzen.“

Gerade wollte Peter ins Zelt zurückkehren, als Bella freudig bellte. Eine hübsche junge Frau kam im bunten Sommerkleid tanzend und springend auf sie zu. „Frau Angst, Sie werden immer hübscher und jünger“, stellte Peter erstaunt fest.

„Du weißt doch, dass ich meine Jugend immer aus den Ängsten der Menschen schöpfe. Da sie immer vor etwas Angst haben, werde ich so lange leben, wie es Menschen auf dieser schönen Welt gibt. Was wollte dieses Unwesen von dir? Doch nicht Angst machen? Und euch doch wohl auch nicht?“ Sie sah in vier vom Schlafen noch etwas müde Männergesichter, die sich bei ihrem Anblick sofort aufhellten.

„Tschüss, meine Lieben.“

Tanzend und springend entschwand sie.

„Dann wollen wir nachholen, was wir gestern Abend versäumten. So viel Zeit muss sein“, entschied der Koch und sorgte für das Frühstück.

Die Seeleute waren vom Närrischen Meer einiges gewöhnt. Aber das eben? Wie Teenager, die das erste Mal verliebt sind, gerieten sie ins Schwärmen. Dabei bemerkten sie nicht, wie schweigsam Peter und Gina waren.

Als die Schlitten gepackt waren, bat Peter: „Stellt die Schlitten bitte so auf, dass sie wie ein Stern aussehen. Wir stellen uns dazwischen und halten uns ganz fest an den Händen.“

„Warum? Wollen wir Ringelreihe spielen?“, fragte Freddy lachend.

„Quatsch nicht, tu es!“, wies ihn der Kapitän zurecht.

Als sich alle ganz festhielten, sagte Peter laut und deutlich: „Zusammenhalt!“

Es knallte. Sie standen kurz vor dem

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