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IM UNBEKANNTEN LAND DER FROMMEN

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Dunkelheit umgab Peter. Er schien zu schweben. Neben ihm winselte Bella. Bei dem Versuch, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen, wollte er nach dem Arm des Vaters greifen. Doch er griff in Bellas Fell. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dunkle. Bella und er befanden sich in einer durchsichtigen Luftblase. Daneben tauchte Prinzesschen auf und winkte ihnen zu. Mit einem kräftigen Schwanzschlag schwamm sie an ihnen vorbei, ergriff ein Seil, das an der Blase angebunden war, und zog sie wie ein Luftballon hinter sich her. Die Reise schien Stunden zu dauern. Versuchte Peter, Halt zu finden, beulte die Hülle aus, und er griff ins Leere. Endlich, endlich war mit dem Erscheinen des Tageslichtes das Ende der Reise in Sicht.

Vorsichtig wurde die Blase aus dem Wasser auf einen Laufsteg gehoben. Die Kälte nahm sie sofort in Besitz, und sie platzte. Helfende Hände befreiten Peter und Bella vom Rest. Peter sah sich um. Es war der Steg zum Unbekannten Land der Frommen. Prinzesschen winkte ihnen zu und tauchte ab.

Bella hatte ihre Begrüßungszeremonie bereits beendet. Vier Männer umringten Peter. „Da seid ihr ja endlich. Hätten wir noch länger warten müssen, wären wir erfroren.“

Hillarius kam ihnen entgegen. „Kommt schnell ins Warme.“ Sie betraten das Kloster. In einem Raum standen auf einem Tisch sechs Tassen, aus denen Dampf stieg. Der Koch schnupperte: „Ingwertee, der wärmt durch.“

Nachdem alle ihre Handschuhe ausgezogen hatten und die Hände an den Tassen wärmten, sagte Hillarius: „So, Peter, jetzt können wir dich begrüßen. Den Kapitän, den Koch und die beiden Matrosen kennst du ja. Das Närrische Meer trägt eine dicke Eisschicht. Das Schiff gibt es nicht mehr. Der Frost hat es in einzelne Planken zerlegt. Die vier waren verantwortlich, den Anlegesteg eisfrei zu halten, damit du und Bella hier anlanden konntet. Du hast selbst gemerkt, wie kalt es hier ist, viel kälter als bei dir Zuhause. Du warst noch nicht lange weg, als diese unsägliche Kälte über uns hereinbrach. Seitdem konnten wir nicht säen und nicht ernten. Reserven an Lebensmitteln sind kaum noch vorhanden. Alles Wasser ist metertief gefroren, so dass es immer erst aufgetaut werden muss. Die Menschen sind in ihrem Wesen so kalt geworden wie die Umgebung draußen. Natürlich musst du erst wieder durch die Quarantänestation.“

„Hillarius, welche Strafe hast du dir diesmal für mich ausgedacht? Ich gestehe dir ganz freimütig, sie hat nicht gewirkt. Ich helfe sehr gern, obwohl mir im Augenblick noch nicht klar ist, wie. Aber irgendwann möchte ich nur noch nach Hause. Schade, dass Gina nicht da ist.“

„Peter, wir vier würden dir sehr gern helfen. Vielleicht nimmst du uns als Ersatz für Gina mit?“, bot der Kapitän an.

„Käpt’n, das darf ich nicht zulassen. Gegen die Gesetze darf nicht verstoßen werden“, ermahnte ihn Hillarius.

„Ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen“, widersprach der Kapitän. „Würdest du unsere Hilfe annehmen, Peter?“

„Selbstverständlich!“

Hillarius schüttelte den Kopf. „Was macht ihr mit mir? Obwohl ich euch persönlich kenne, müsst ihr durch die Quarantänestation, wenn ihr Peter begleiten wollt.“

„Dann fang gleich mit mir an“, forderte der Koch. „Zur Feier des Tages möchte ich heute was Vorzügliches auf den Tisch bringen.“

Während Hillarius und der Koch in die Behandlungsräume verschwanden, begaben sich die anderen in ihre Zimmer.

Peter und Bella liefen, nein, sie rutschten und schlitterten durch den Wald. Bella versuchte mit ihren Krallen Halt zu finden. Als sie erneut ausglitt, bellte sie wütend dieses kalte Etwas an und versuchte hineinzubeißen. Ein kleines Eisstück hatte sie zwischen den Zähnen, auf dem sie krachend herumkaute, bis es schmolz. Die Kälte schien ihr nichts auszumachen. Peter hatte über seine Mütze die Kapuze weit ins Gesicht gezogen und die Hände tief in die Taschen seines Parkas geschoben. Trotz der widrigen Wegverhältnisse versuchte er, zügig voranzukommen.

Der Koch war aus der Quarantänestation zurück.

Aus dem Wenigen, das er vorfand, hatte er eine schmackhafte Suppe gezaubert. Er hatte sich nicht geirrt. In der Vorratskammer fand er viele getrocknete Kräuter, die er bis auf ganz wenige alle kannte.

Es hätte ihn auch gewundert, gäbe es in einem Klostergarten keine Kräuter. Im Topf blieb nicht ein Tröpfchen Suppe zurück. Nach dem Essen blieb man bei Ingwertee noch zusammen. „Hat dich Hillarius auch richtig unter die Lupe genommen?“, versuchten die Matrosen den Koch auszuhorchen. Er schwieg.

„Hab dich nicht so“, sagte Rubens.

Hillarius erklärte ihm, dass er darüber nicht reden dürfe. „Warum nicht, wir werden doch alle untersucht?“

„Vielleicht verläuft sie bei dir ganz anders“, erklärte Hillarius. Wenn du so neugierig bist, kannst du gleich morgen drankommen.“

„Ich dachte, ich bin morgen dran“, warf Peter ein.

„Nein, du bist diesmal der Letzte!“

„Sehen die Wege im Land überall so aus wie im Klosterwald? Die Regentropfen müssen beim Auftreffen auf den Boden sofort gefroren sein. Seltsam das Ganze. Nicht eine Schneeflocke gibt es.“

„Was ist daran seltsam, Peter?“, fragte Hillarius.

„Weil der Boden kälter gewesen sein muss als die Luft. Sonst hätte es nicht geregnet, sondern geschneit oder gehagelt. Die Regentropfen hatten keine Zeit, zu zerplatzen oder zu zerlaufen. Deshalb sind die Wege so teuflisch. Die Regentropfen sind …“, er suchte nach dem richtigen Ausdruck, „sie sind erstarrt.“

Der Tisch begann zu tanzen. Die Tassen verrutschten. Die Wände des Klosters erzitterten. Das Eis im Närrischen Meer krachte ohrenbetäubend. Alle waren von den Stühlen gesprungen. Bella drückte sich schutzsuchend gegen Peters Beine, auf denen er sich durch die schwankenden Bewegungen des Raumes kaum selbst halten konnte.

„Ein Erdbeben?“

Das Entsetzen stand jedem Einzelnen ins Gesicht geschrieben. Hillarius gelang es, seine flache Hand auf den Tisch zu legen. „Ruhe, bitte Ruhe. Peter hat das Lösungswort für den Weg genannt. Es tut mir sehr leid Peter, bevor nicht alle Untersuchungen abgeschlossen sind, darf ich keinen gehen lassen. Ob das Lösungswort dann noch gilt, weiß ich nicht.“

Eine schmerzhafte Stille trat ein. Nach dem sie sich etwas von dem Schreck erholt hatten, sagte der Koch: „Für heute reicht es mir. Ich gehe schlafen.“

„Gute Nacht“, murmelte ein jeder und schlich mit immer noch zitterten Gliedern in sein Zimmer.

Die Untersuchungen waren abgeschlossen. Der erste Tag verging, auch der zweite, ohne dass Hillarius die Auswertungen vornahm. Am dritten Tag fragte Peter, wann es sein werde.

„Wenn alle Ergebnisse vorliegen“, antwortete Hillarius.

Es klopfte. Bevor jemand „herein“ sagen konnte, ging die Tür auf. Peter sprang von seinem Stuhl. „Gina!“

„Peter, mein Menschensohn!“

Sie umarmte ihn, schob ihn von sich weg, um ihn genau zu betrachten und wieder in die Arme zu nehmen. Dann schob Gina Peter erneut einige Schritte weg. „Bist du groß geworden, fast schon ein Mann“, stellte sie fest.

„Nun übertreib nicht“, brummte der Kapitän in seinen Fünftagebart. „Wir sind auch noch da.“

Ehe Gina den Herrn des Klosters und die Seeleute begrüßen konnte, war Bella der Ansicht, sie sei zu erst dran. Jeder für sich nahm es schmunzelnd zur Kenntnis. Damen lässt man den Vortritt!

Peter konnte nicht mehr an sich halten. Er prustete los vor Lachen. „Entschuldige Gina, aber in deinem Watteanzug siehst du wirklich zum Totlachen aus.“

„Bevor das passiert, kommst du lieber gleich mit mir, Gina. Darf ich bitten!“ Hillarius gab sich ganz als Kavalier.

Nun war klar, warum es noch keine Auswertungen gegeben hatte. Wie konnte es Peter nur vergessen? Bei ihm wurde die Dreieinigkeit im Land der Gefühle verlangt, „Mensch, Tier, Maschine.“ Warum es bei anderen nicht so war, darauf hatte er noch keine Antwort gefunden und von niemandem eine erhalten. Morgen würde es die Auswertungen geben. Dann konnten sie übermorgen das Kloster verlassen. Als Peter das erste Mal hier war, brauchten sie bei idealem Wetter zwei Tage bis zum ersten Dorf. Mit den Seeleuten stand er im Gerätehaus.

„Haben wir wirklich nichts vergessen, Käpt’n?“, fragte Peter. Ein riesiger Berg an Material lag vor ihnen. Gefunden hatten sie aber nur drei Schlitten. Die Kunst war nun, alles zu verstauen. Die Matrosen fertigten Kisten an und schraubten sie auf die Schlitten. Zu schwer durften sie nicht werden. Andererseits mussten sie damit rechnen, eine nicht absehbare Zeit unterwegs zu sein. Der Kapitän legte seine schwere Pranke auf Peters Schulter: „Wir schaffen es!“

Natürlich. Sie mussten es schaffen. Der Kapitän und seine Mannschaft waren ein Leben lang auf dem Närrischen Meer rumgeschippert. Sie wussten nichts vom Land.

„Wie viele Paar Socken haben wir?“, fragte Peter.

„Für jeden sechs Paar“, antwortete Rubens.

„Mehr nicht?“

„Da waren noch welche. Aber die müssen Riesen getragen haben!“

„Die sind genau richtig. Hole sie bitte. Wir ziehen sie über die Stiefel.“

„Socken über die Stiefel?“ Rubens und Freddy lachten. Der Kapitän würgte mit einer Handbewegung die Fröhlichkeit ab.

„Peter entschuldigt eure Unwissenheit. Ist es sehr glatt und man hat nicht solche Spikes wie Gina, dann zieht man Socken über die Schuhe oder Stiefel. Sie bremsen den Rutscheffekt. Bei diesen Wegen werden sie nicht lange halten. Also nehmt alles mit, was vorhanden ist.“

Die beiden stoben davon. Als sie mit einem prallen Beutel zurückkamen, trugen sie Socken über ihren Stiefeln.

„Hillarius hat mir erzählt, dass wir vom Schlimmsten ausgehen müssten. Alles, was ich bisher über Kälte im Fernsehen gesehen habe oder mir mein Vater erzählt hat, sei nichts dagegen, was wir im Land antreffen könnten. Und was machen wir mit Bella? Sie hat jetzt schon eine wunde Pfote. Hillarius reibt sie mit seiner Spezialsalbe ein. Den Rest gibt er uns mit. Damit muss äußerst sparsam umgegangen werden.“

„Leder hilft bei der Glätte nicht. Verbandsmaterial haben wir sehr wenig. Aber ich kann stricken. Wolle und Nadeln habe ich immer dabei. Bella wird so viele Strümpfe bekommen, wie ich bis zu unserer Abreise schaffe. Irgendwo habe ich Fellreste gesehen. Damit kann ich sie auspolstern. Kommt, helft mir suchen“, forderte Rubens sie auf.

Am nächsten Tag waren die Auswertungen. „Die Damen zuerst.“ Lange blätterte Hillarius in seinen Papieren. Dann sah er Gina an. „Du bist energischer geworden. Das muss aber kein Fehler sein. Die Damen dürfen gehen.“ Wieder blätterte er ewig. Die Spannung war kaum noch zu ertragen. Jedem einzelnen sah er streng ins Gesicht. „Die Herren sind alle durchgefallen. Peter, du mit deinem Heimweh und ihr? Hilfe ist verboten! Und was macht ihr? Ihr brennt vor Begeisterung, Peter helfen zu dürfen.

Macht bloß, dass ihr morgen verschwindet, bevor ich es mir anders überlege.“

Ein Jubelschrei erfüllte den Raum.

Der Tag ging viel zu schnell zu Ende. Eben hatte Peter den letzten Posten auf der Liste durchgestrichen. Alles war verpackt und mit Seilen gesichert. Es wurde eine kurze Nacht.

Woher Hillarius zum Frühstück Salzkartoffeln mit Rührei und Speck hatte, blieb sein Geheimnis. Mit vollem Bauch, körperlich gut durchgewärmt und mit den besten Wünschen von Hillarius verließen sie das Kloster. Bella musste erst von der ungewohnten Fußbekleidung überzeugt werden. Als sie dem Kontrolleur die Papiere geben wollten, öffnete er in einem Fenster eine winzige Luke. „Schiebt sie durch den Schlitz.“ Dann nuschelte er noch etwas, dass sich anhörte wie: „Müsst ganz schön verrückt sein, in die Eiswüste zu gehen“, und schon war die Luke wieder zu.

Frostige Gefühle

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