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Drei
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Gegen Schmerzen der Seele
Gibt es nur zwei
Heilmittel: Hoffnung
und Geduld.
Pyhtargoras
Die Abenddämmerung legte sich in rosigem Schimmer über die grasbewachsenen Dünen, als Thierry die hölzernen Stufen der Veranda hinauf stieg.
In den späten Tagesstunden waren die Temperaturen wieder milder geworden, und ein erstes Aufbrechen der Wolkendecke hatte den zarten Sonnenstrahlen einen Weg gebahnt.
Der Anblick des hellen Sonnenlichtes hatte seine aufgewühlte Seele besänftigt und für kurze Zeit den Schmerz gemildert.
Dennoch hatte er es nicht erwarten können, seinen vier Wänden zu entfliehen.
Thierry hatte es vorgezogen, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erwecken und daher das Auto in der Garage stehen lassen.
Eine leichte Mütze, tief ins Gesicht gezogen, den Kragen seiner grauen Wolljacke aufgestellt, war er schließlich ein weiteres Mal unbehelligt durch den Ort gekommen.
Natürlich waren ihm Menschen begegnet. Den einen oder anderen hatte er sogar gekannt, dennoch hatte ihm, vermutlich ob seiner Verkleidung, niemand wirklich Beachtung geschenkt. Im Vorbeigehen hatten ihm die Fischer, wie all den anderen auch, die an diesem Nachmittag unterwegs waren, einen rauen Gruß hingeworfen ohne genau hinzusehen, wen sie da überhaupt grüßten. Und Thierry hoffte, dass er sich noch ein paar Tage in dieser Sicherheit bewegen konnte.
Am Strand waren mehr Leute unterwegs. Junge Paare, Familien mit Hunden und Kindern, Angler...
Doch niemand hatte dem einsamen Mann, der sich ein wenig abseits vom allgemeinen Treiben hielt, wirklich Beachtung geschenkt, und so war er unbemerkt an Lilianas Strandhaus angelangt.
Schon aus einiger Entfernung erkannte er, dass im Innern des Hauses kein Licht brannte. Auch stieg kein Rauch aus dem Schornstein auf, was darauf schließen ließ, dass sie kein Feuer im Kamin entzündet hatte.
Die ungewöhnliche Stille, welche das Haus umgab, und die nur hin und wieder von dem Schrei einer Möwe, die ihre Kreise hoch oben am Abendhimmel zog, durchbrochen wurde, erfüllte ihn mit Unbehagen.
Und so trieb er sich an, eilenden Schrittes die letzten Meter zurückzulegen, voller Ungewissheit, was ihn erwartete.
Er klopfte an die verschlossene Tür und als keine Antwort folgte, klopfte er noch einmal, drückte jedoch im selben Moment die Klinke hinunter und öffnete den hölzernen Zugang.
Sie saß auf dem Chaiselongue und war so versunken in die Betrachtung eines Bildes, welches sie in den Händen hielt, dass sie seine Anwesenheit gar nicht zu bemerken schien.
Ungeahnte Erleichterung durchflutete ihn bei ihrem Anblick und der Gewissheit, dass sie wohlauf war.
Sie hatte sich fest in die Patchwork-Decke gewickelt und dennoch zitterte sie so sehr, dass ihre Hände bebten.
Thierry trat ein und schloss lautlos die Tür hinter sich.
Sie war umgeben von einer namenlosen Trauer die ihn frieren ließ und ihm verdeutlichte, dass die Krise, in der sie sich am gestrigen Abend befand, noch nicht überwunden war.
In diesem Moment hob sie den Blick und sah ihn an. Sie erschrak nicht, zuckte nicht einmal zusammen, als er so plötzlich mitten in ihrem Haus stand.
Ihm fiel auf, dass ihre Augen gerötet waren, vermutlich vom Weinen. Dunkle Schatten der Erschöpfung zeichneten sich unter den feuchten Wimpernkränzen und einen verzweifelten Moment fragte er sich, ob sie irgendetwas genommen hatte. Vielleicht die Überdosis eines Medikamentes um so an ihr Ziel zu gelangen.
„Liliana?“ Er flüsterte fast, aus Angst, seine raue Stimme könne sie erschrecken.
„Alles in Ordnung?“ fragte er behutsam, während er einen Schritt nach vorn machte und zu ihren Füßen in die Knie sank.
Zittrig kam ein tiefer Atemstoß über ihre Lippen. Mit bebenden Händen fuhr sie sich müde über das Gesicht.
„Ja...ja es geht schon. “ Erschöpft ließ sie sich schließlich zurücksinken, die Lippen fest aufeinander gepresst, so als müsse sie gegen eine neuerliche Tränenflut ankämpfen.
„Du zitterst. Es ist kalt hier drin. Ich werde ein Feuer im Kamin entzünden und dann… “ Mit dem rechten Arm hob er eine Tragetasche, die er in den Händen hielt.
„… werde ich dir erst mal ein vernünftiges Abendessen zubereiten. Ist das ein Angebot?“
„Ich bin nicht hungrig.“
„Der Hunger kommt mit dem Essen, pflegte meine Mutter immer zu sagen. Und sie hatte meistens recht.“
Thierry erhob sich, streifte die Wollmütze vom Kopf und entledigte sich seiner Jacke, bevor er an die Feuerstelle trat.
Der Kamin war bereits vorbereitet. Die Asche entfernt, das Holz aufgestapelt. Es hatte den Anschein, als hätte Liliana Feuer machen wollen, sei dann jedoch, durch was auch immer, davon abgelenkt worden.
Er riss ein Streichholz an und entfachte das Brennholz. Sekunden später züngelten die ersten Flammen empor und verliehen dem Raum, der im schwindenden Tageslicht schon fast völlig im Dunklen lag, eine behagliche Atmosphäre.
Zusätzlich entzündete er eine Leselampe, die auf einem Beistelltisch stand.
Wenn die Seele schwarze Schatten warf, und das war bei Liliana an diesem Abend ganz sicher der Fall, war es wichtig, diese Schatten mit Licht zu vertreiben, das wusste er nur allzu gut aus seinen eigenen dunklen Erfahrungen, die das Leben ihn die letzten Jahre gelehrt hatte.
Schweigend hielt sie das gerahmte Bild fest an ihr Herz gepresst, während ihr Blick in weite Ferne gerückt war.
Thierry sank auf die gepolsterte Sitzfläche neben ihr. Die Federn gaben ein gequältes Geräusch von sich, als sie unter seinem Gewicht nachgaben.
Einen Moment betrachtete er die junge Frau von der Seite. Ihre gebeugte Haltung drückte den tiefen Schmerz aus, den sie empfinden musste.
„Darf ich“, fragte er schließlich sanft und streckte die Hand nach dem Bild aus.
Sie wandte den Kopf und sah ihn erstaunt an. Er hatte fast den Eindruck, dass sie seine Anwesenheit längst vergessen hatte.
Zögernd war ihre Haltung, so als müsse sie erst abwägen, ob es richtig war ihn ins Vertrauen zu ziehen.
Mit einem Seufzer, der aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen schien, reichte sie ihm schließlich den hellen Holzrahmen.
Es überraschte ihn nicht, dass es sich um eine Fotografie handelte.
Als erstes fiel sein Blick auf die junge Frau mit dem langen dunklen Haar, das in sanften Wellen ihre Züge umschmeichelte. Die grünen Augen sprühten vor Lebensfreude.
Auf Anhieb erkannte Thierry Liliana in dieser Frau. Sie war nicht so schlank und zerbrechlich wie heute, ihre Züge nicht so scharf umrissen und ausgemergelt, sondern weicher und voller.
Die Liliana auf dem Foto war lebendig und ... sehr schön, fuhr es Thierry durch den Kopf.
Sein Blick glitt zu dem kleinen Mädchen, das sie auf den Armen hielt. Sie mochte zwei, vielleicht drei Jahre alt sein und war eine eins zu eins Ausgabe ihrer Mutter. Das gleiche dunkle Haar, dieselben grünen Augen. Ein bezauberndes Lächeln auf den vollen Lippen, das zwei Grübchen in die Wangen zeichnete.
Thierry warf einen schnellen Seitenblick auf Liliana, die seinen Augen, welche das Bild abtasteten, gefolgt zu sein schien.
„Deine Tochter“, stellte er fest.
Nickend schluckte sie gegen die Tränen an, die sich doch so verräterisch in ihren Augen sammelten.
Thierry wagte es kaum die Frage zu stellen, aus Angst vor der Antwort, doch es war wichtig für den weiteren Umgang miteinander, zu erfahren, was aus dem Mädchen geworden war.
Hier, bei Liliana, lebte sie augenscheinlich nicht. Und wäre zwischen Mutter und Kind alles so, wie es sein sollte, hätte sie wohl kaum versucht ihr Leben zu beenden.
„Was ist mit ihr?“ Rau durchbrach seine Stimme die unheimliche Stille, die nur vom Knistern des Feuers untermalt war.
Liliana senkte den Kopf in die Hände und vergrub die Finger im Haar. Am Beben der Schultern erkannte er, dass der Damm gebrochen war und die Tränen nun ungehindert flossen.
Er spürte, dass sein Herz sich seltsam schmerzhaft zusammenzog, beim Anblick des tiefen Leides, das aus ihr herausbrach, und war auf das Schlimmste gefasst.
Sie war so sehr in der Flut ihrer Tränen gefangen, dass es ihr unmöglich schien zu sprechen.
Vorsichtig berührte er sie an der Schulter.
„Ist sie...Liliana, ist sie tot?“
Sie fuhr hoch und sah ihn mit tiefem Entsetzen an. Seine Worte schienen sie aus ihrem apathischen Zustand zu reißen.
Mit zitternden Fingern versuchte sie der Tränen Herr zu werden.
„Nein...nein, es geht ihr gut, das hoffe ich zumindest ... “ Schluchzend presste sie eine Hand auf die Lippen und wandte beschämt den Kopf ab.
Sie sprach in Rätseln. Gleichwohl wusste er, dass er sie jetzt nicht zu sehr bedrängen durfte. Früher oder später würde sie ihre Geschichte vielleicht von selbst erzählen.
Er senkte den Blick wieder auf das Bild, welches er noch immer in den Händen hielt, um die dritte und letzte Person darauf in Augenschein zu nehmen.
Als er den hochgewachsenen Mann genauer betrachtete, lief ein eiskalter Schauer seinen Rücken hinab und ließ ihn, trotz des wärmenden Feuers, frösteln.
Er musste sich täuschen.
Und dennoch, das dunkle, fast schwarze Haar, das markante Gesicht, die Grübchen auf den Wangen, die er an sein Kind weitergegeben hatte.
Er sog scharf die Luft ein, und ein, wie er glaubte, lautloses: „Gütiger Gott!“ Entfuhr ihm, als er den Blick aus diesen stechenden, dunklen Augen, die ihn von der Fotografie her anzustarren schienen, erwiderte.
„Was?“ Liliana sah ihn verwundert an und ihm wurde bewusst, dass seine Reaktion alles andere, als verborgenen geblieben war.
„Was ist?“, wiederholte sie ihre Frage.
Er räusperte sich, versuchte seine Stimme unter Kontrolle zu halten, um sie nicht noch mehr zu verunsichern.
„Das ist...war dein Mann?“
„Ja, das ist Mathieu“, ein liebevolles Lächeln legte sich auf ihre Lippen als sie seinen Namen aussprach.
„Wenn du früher hier gelebt hast, dann kanntest du ihn vielleicht.“
Er konnte den Blick nicht von dem Mann lösen und vermutete, dass ihr das nicht entging, darum hatte es keinen Sinn ihr die Wahrheit zu verschweigen.
„Ich kannte Mathieu, sehr gut sogar.“
Wenn es ihm auch widerstrebte über seine Verbindung zu Mathieu zu sprechen, so erkannte er deutlich, dass diese Neuigkeit Liliana regelrecht zum Leben erweckte.
Sie drehte sich mit echtem Interesse in den Zügen zu ihm um, schlug die Beine unter und sah ihn erwartungsvoll an.
„Erzähl mir von eurer Verbindung. Wart ihr befreundet? Ich glaube, Mathieu hat nie von dir erzählt.“
Das überraschte ihn nicht. Seine Freundschaft zu Mathieu war sehr intensiv, zugleich aber auch sehr komplex gewesen.
„Wir waren Freunde“, endlich gelang es ihm seinen Blick von der Fotografie zu lösen.
Er reichte ihr das Bild zurück und sah ihr direkt in die Augen.
Ihm fiel auf, dass die dunkle Pupille von einem bronzefarbenen Ring gerahmt war.
Die Tränen hatten ihre Iris in einen intensiven Grünton gefärbt. Der seltsame Glanz darin brachte ihn einen Moment aus dem Konzept, so dass er den Blick hob und einen Punkt hinter ihr fixierte.
„Sehr gute Freunde. Als Mathieu vor etwas mehr als fünfzehn Jahren erstmals auf die Insel kam, haben wir sehr schnell zueinander gefunden.
Innerhalb kürzester Zeit eröffnete er sein Restaurant. Ich belieferte ihn täglich mit fangfrischem Fisch, und so haben wir uns kennengelernt. Es passte einfach, von Anfang an. “
So hatte er zumindest damals geglaubt.
„Du bist Fischer?“
Ein knappes Nicken war die einzige Antwort.
Ein leises Lächeln löste sich von ihren Lippen und beschleunigte seinen Herzschlag. Na also. Für ihn mochte es mit unangenehmen Erinnerungen verbunden sein, über Mathieu zu sprechen, aber wenn das der Preis dafür war, sie wieder ins Leben zurück zu holen, dann war er bereit ihn zu zahlen.
„Wie lange wart ihr verheiratet?“
Melancholie tränkte ihre Züge und sie strich behutsam über das geschliffene Glas des Bilderrahmens.
„Nicht mal vier Jahre. Elise, unsere Tochter war gerade drei, als dieser Unfall geschah.“
Sie hob den Blick und sah ihn nachdenklich an: „Aber wenn du so lange fort warst, dann weißt du vermutlich gar nicht, was geschehen ist.“
Einen Augenblick fühlte er sich in die Enge getrieben, nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte, nicht schlüssig, was er sagen konnte ohne zu viel von sich preis zu geben. Natürlich hatte Pascal ihn über Mathieus Ableben in Kenntnis gesetzt.
Doch sie enthob ihn einer Antwort, indem sie weiter sprach.
„Wenn ihr euch so gut kanntet, dann weißt du sicher, dass seine große Leidenschaft das Segeln war. Mathieu hat jede freie Minute auf dem Wasser verbracht. Sämtliche Wettkämpfe, die Küste hinauf und herunter, waren für ihn eine Herausforderung. Und er gehörte immer zu den Besten.
Und das ist es, was es so unbegreiflich macht. Ein Mann mit seiner Erfahrung hätte nie einem solchen Unglück zum Opfer fallen dürfen.“
Thierry wusste das alles. Schon damals, als sie noch eng miteinander verbunden waren, war er geradezu besessen von diesem Sport.
Liliana sah ihn nicht an, fast so als wäre ihr entfallen, dass er neben ihr saß. Während sie weiter sprach, richtete sie ihren Blick selbstvergessen in die Ferne.
„Es war der 14. September 2010. Mir klingt es noch in den Ohren, wie er sagte: Ideale Windbedingungen heute, Liliana. Er fragte mich, ob ich ein paar Stunden allein zurecht käme im Restaurant, damit er das Wetter nutzen könne. Bis zum Abendgeschäft, versprach er, sei er wieder da.
Ich habe an diesem Tag keine Wettervorhersagen gehört. Erst später erzählten mir die Leute, dass die Meteorologen schon in den frühen Morgenstunden vor einem aufkommenden Unwetter gewarnt hatten.“
Sie hob in einer hilflosen Geste die Schultern, fast so, als suche sie eine Entschuldigung für ihren Mann, der wider besseren Wissens aufgebrochen war um seinem Vergnügen nachzugehen und somit, ohne Rücksicht auf seine Familie, sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte.
Doch vielleicht war das auch nur seine Sicht der Dinge. Er zwang seine eigenen Gefühle nieder und versuchte eine neutrale Haltung einzunehmen.
Liliana hatte diesen Mann geliebt und tat es allem Anschein nach noch. Er hatte kein Recht durch aus falschen Beweggründen getätigte Aussagen ihre Erinnerungen zu beschmutzen.
„Vielleicht hat auch er nicht genau hingehört und nicht geahnt, wie heftig der aufziehende Sturm sein würde. Vielleicht war er auch in dem Glauben rechtzeitig zurück zu sein ...
Wie auch immer ... Niemand weiß wirklich, was geschehen ist.
Als man die „Majeste“ schließlich fand, stellte man fest, dass der Großbaum nicht gesichert war. “ In einer Geste, aus der Unruhe und Verzweiflung sprach, rang sie die Hände so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Vermutlich hat er noch zu manövrieren versucht, dabei muss ihn der Baum getroffen und über Bord geschleudert
haben ... “ Sie brach abrupt ab und Thierry ahnte, dass sie mit den geisterhaften Bildern rang, die sich aus ihrer Vorstellung des Geschehens erhoben.
„Ich weiß nicht, ob er gelitten hat ... War er bewusstlos? Oder gleich tot ... oder ist er möglicherweise ... qualvoll ertrunken ...“ Ihre Stimme erstarb und bevor Thierry genauer darüber nachsann, ergriff er ihre verkrampften Hände und löste sie behutsam.
„Quäle dich nicht mit diesen Bildern, Liliana. Sie ändern ohnehin nicht, was geschehen ist.“
„Nein, “ hauchte sie, „das wohl nicht. Dennoch suchen sie mich immer wieder heim. Gerade dann, wenn ich am wenigsten damit rechne.“
Ihre Worte spülten die eigenen Qualen langer Nächte an die Oberfläche, die er mühsam zu verdrängen suchte
Er überlegte, was es zu sagen gab, das ihr Leid lindern konnte, und ahnte doch, dass er nicht die Macht hatte, diese Schatten mit ein paar Worten zu beseitigen. Die Dämonen der Vergangenheit waren gierige Barbaren, das wusste er leider zu genau.
Unbewusst hatte er mit dem Daumen besänftigende Kreise auf ihrem Handrücken gezogen. Nun spürte er, wie die Muskulatur sich langsam lockerte. Sie blickte hinunter auf ihre verschlungenen Hände und entzog sie ihm schließlich leicht verlegen.
Zitternd strich sie sich durch das Haar: „Das Meer hat seinen Leichnam bis heute nicht preisgegeben.“ Ihre Stimme war schwer vor Resignation.
„Wir konnten nie richtig Abschied nehmen. Alles, was uns blieb, war eine Trauerfeier im engsten Kreis, Mathieu zur Ehre.“ Müde strich sie sich über die geröteten Augen, und Thierry konnte die tiefe Erschöpfung, welche sie plötzlich übermannte, fast greifen.
„So ist es fast immer, wenn Seemänner auf dem Meer verunglücken. Der weite Ozean mit seinen undurchdringlichen Tiefen nimmt ihre Körper gefangen und bettet sie in einem feuchten, unbekannten Grab.“ Thierry deutet nachdenklich noch einmal auf das Familienporträt: „ Als Fischer kann ich dir versichern, dass es für einen Sohn des Meeres keine größere Gnade gibt, als darin zur Ruhe gebettet zu werden.“
Er beobachtete, wie sie nachdenklich, seine Worte prüfend, ihre Unterlippe zwischen die Zähne zog.
„Vielleicht hast du Recht. Mathieu hat das Meer geliebt ... “Sie seufzte erneut und legte das Bild schließlich auf den angrenzenden Tisch.
„Hast du deshalb das Meer als eigenes Grab gewählt? Um ihm nahe zu sein?“ So behutsam wie möglich stellte er diese Frage.
Stumm nickend presste sie die Lippen fest aufeinander.
„Genug der schmerzhaften Erinnerungen. Ich denke, wir sollten uns nun dem leiblichen Wohl widmen.“ Er erhob sich und trat an die Küchenzeile.
Aus der mitgebrachten Tasche angelte er die fangfrischen Shrimps, die Pascal ihm am Morgen mitgebracht hatte. Die Portion war mehr als ausreichend für zwei.
Baguette, eine Flasche kalt gepresstes Olivenöl, frische Petersilie, Ingwer, Knoblauch und eine Zitrone legte er zu den Crevetten auf die Arbeitsplatte, bevor er im Schrank nach einer geeigneten Pfanne suchte.
„Warum bist du von hier fort gegangen?“
Die Frage traf ihn so unvorbereitet, dass ihm das Messer, mit dem er die Petersilie klein schnitt, entglitt und seinen Finger traf.
„Verflucht“, entfuhr es ihm.
Thierry griff nach der Rolle Haushaltspapier, die in einer Halterung an der Wand montiert war, und riss ungehalten ein Blatt ab. Weiterhin leise fluchend drückte er die behelfsmäßige Kompresse auf die blutende Wunde.
Plötzlich stand Liliana neben ihm und reichte ihm ein Pflaster: „Oh je, meine Frage hat dich ganz schön aus der Bahn geworfen. “
Das Lächeln auf ihren Lippen veranlasste ihn dazu, den heftigen Widerspruch, der ihm auf der Zunge lag, hinunter zu schlucken.
„Unsinn“, sagte er stattdessen. „Ich war lediglich etwas unkonzentriert.“
Sie musterte ihn mit wachsamen Blick, so als wisse sie genau um die Geheimnisse, die ihn umgaben und die er doch so sehr zu verbergen suchte.
Thierry senkte die Lieder und befasste sich damit den verletzten Finger zu verbinden.
„Bei der Reaktion kann nur eine Frau schuld an deiner Flucht sein.“
„Bitte?“ Ruckartig riss er den Kopf hoch, einen Moment verwirrt über ihre Worte, starrte er sie mit zusammengekniffenen Augen an.
„Dein Fortgehen“, erinnerte sie ihn, „ich vermute, dass eine Frau dahinter steckt.“
Er wandte sich ab, griff nach der Zitrone und teilte sie, augenscheinlich gelassen, in zwei Hälften. Seine Gefühle jedoch fuhren Achterbahn. In den letzten neun Jahren hatte er gelernt diese unter Kontrolle zu halten. An dem Ort, wo er gelebt hatte, konnte ein Gefühlsausbruch tödlich enden. Das hatte er einmal am eigenen Leib erfahren müssen und nur mit knapper Not überlebt. Seither verstand er sich prächtig darauf sein Denken und Fühlen im Verborgenen zu halten.
Er schluckte hart und ahnte, dass er ihr die Antwort nicht schuldig bleiben konnte.
„Eine Frau, ja.“
Thierry goss Öl in die Pfanne und wartete bis es heiß genug war um die Garnelen hinein zugeben. Ein zischender Laut erklang, als der Fisch in das heiße Fett glitt.
„Und nun hast du die Demütigung überwunden. Oder hat sie die Insel verlassen und dir den Weg frei gemacht? Wer war sie? Vielleicht kenne ich sie ja...“
Ihm wurde plötzlich bewusst, mit welcher Heftigkeit er die Garnelen in der Pfanne wendete.
Thierry legte den Löffel an die Seite und sah sie mit einem tiefen Seufzer an.
Liliana hob beide Hände in die Luft, zum Zeichen dafür, dass sie aufgab.
„Okay, ich habe es begriffen, du möchtest nicht über sie reden.“
Er nickte leicht und deutete auf den Tisch, bevor er den geriebenen Ingwer an die Garnelen gab und die Petersilie über das Pfannengericht verteilte. Zum Schluss träufelte er den Saft der Zitrone über den Fisch.
„Wie wäre es wenn du schon mal den Tisch deckst. Das Essen ist fertig. In der Tasche dort drüben ist noch eine Flasche Bordeaux, schmeckt hervorragend zum Fisch.“
Wenige Augenblicke später saßen sie sich gegenüber. Liliana hatte ihm ein Glas von dem Wein eingeschenkt, sich selbst jedoch nur Wasser.
„Du trinkst keinen Wein?“ Sie schüttelte den Kopf.
„Nun gut, du weißt nicht was dir entgeht.“ Er hob sein Glas und die schwere Flüssigkeit schimmerte im sanften Schein der Kerze, die Thierry mitgebracht und Liliana entzündet hatte, rubinrot.
„Dann lass uns auf das Leben trinken“, er spürte ihr Zögern. Lilianas rechte Hand umschloss das Glas so fest, dass er fast glaubte es müsse jeden Moment zerspringen.
Sie wich jedem Augenkontakt mit ihm aus und hielt die Lieder eisern gesenkt.
„Liliana;“ sagte er sanft: „Sieh mich an.“
Sie hob den Kopf und da sah er sie wieder, diese abgrundtiefe Verzweiflung, welche ihren Blick überschattete.
„Ich finde nicht, dass das Leben mir so viel Schönes bietet, um darauf zu trinken ...“ Ihre Stimme brach.
„Ich weiß.“ Sanft und doch eindringlich waren seine Worte. „Was ich meinte, war auch eher das neu gewonnene Leben und die Möglichkeiten zur Veränderung, die es bietet“, und damit sprach er ebenso für sich wie auch für sie.
Ein zittriges Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie ihr Wasserglas anhob.
„Glaubst du wirklich an das, was du da sagst?“
„Ich bin überzeugt davon.“ Und in seiner Stimme lag mehr Festigkeit, als er empfand.
Mit einem leisen, melodischen Klingen stießen die Gläser gegeneinander und jeder nahm einen ersten, zaghaften Schluck.
„Guten Appetit, Liliana. Ich hoffe, es schmeckt dir.“
Erst jetzt spürte er, wie hungrig er war. Seit dem Morgen, als er bei ihr das trockene Croissant gegessen hatte, hatte er seinem Körper nichts mehr angeboten.
Thierry lernte in den vergangenen Jahren, die Ansprüche seines Körpers und dessen eindeutige Sprache zurückzustellen.
Er hatte gelernt Hunger, Krankheitssymptome und Bedürfnisse jeglicher Art zu ignorieren. Manchmal gelang dieses, doch zeitweise hatte er nur mit Mühe den Versuchungen standhalten können.
Mit Heißhunger und dem Bewusstsein, das er gerade eine Delikatesse zu sich nahm, wie er sie seit Jahren nicht mehr geschmeckt hatte, genoss er sein Mahl, sekundenlang die Welt um sich ausblendend.
„Unglaublich !“ Lilianas Ausruf holte ihn aus seiner Versunkenheit zurück und ließ ihn sichtbar zusammenfahren.
Er hob den Kopf und beobachtete, wie sie das Fett von ihren Fingern leckte. Auf dem Teller vor ihr häufte sich bereits ein beachtlicher Berg an Schalen. Es freute ihn zu sehen, dass der Genuss der Schalentiere sie scheinbar aus ihrer Erstarrung gelöst hatte und sie diese mit Begeisterung aß.
Schließlich griff sie nach der gelben Papierserviette, die zur Rechten neben dem Teller lag, und tupfte ihren Mund ab.
Lächelnd schüttelte sie den Kopf, während sie die Serviette auf den Teller warf, diesen ein Stück weiter auf den Tisch schob und sich zufrieden in ihren Stuhl zurück lehnte.
„Ich hätte nie gedacht noch einmal in den Genuss zu kommen, von derart gut zubereiteten Shrimps.“
„Freut mich zu hören“, Thierry riss ein Stück Brot vom Laib ab und tunkte es in den verbliebenen Saft.
„Nein, im Ernst, Thierry. So konnte nur Mathieu die Garnelen zubereiten. Niemandem, nicht einmal mir, hat er das Rezept je verraten. Er sprach immer von einem uralten Familiengeheimnis.“ Sie hob bedauernd die Schultern, „Und dieses Geheimnis, so glaubte ich zumindest, hat er mit ins Grab genommen. Doch..., “mit einer Handbewegung deutete sie auf ihn, “...dir hat er es scheinbar verraten.“
Sie beugte sich vor, stützte einen Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hand. Ein versonnener Ausdruck ließ ihre Augen leuchten.
„Ihr müsst wirklich sehr gute Freunde gewesen sein.“
Das angenehme Aroma auf seiner Zunge, von Salz, Fisch, Zitrone und Ingwer, wandelte sich schlagartig in einen bitteren Geschmack, der ihm leichte Übelkeit verursachte.
Um ihr die Stimmung nicht zu verderben und sie in neuerliche Zweifel zu stürzen, würde er Liliana nicht verraten, dass jenes heiß gehütete Familiengeheimnis von ihm, Thierry, stammte.
Er hatte Mathieu mehr als einmal die Zubereitung von fangfrischen Crevetten gezeigt.
„Ja, wir waren sehr gute Freunde“, und die Betonung des „waren“ erschien ihm selbst eigentümlich hart, als er sich erhob und die Reste der Garnelenschalen mit einem Messer in den Mülleimer unter dem Spültisch kratzte.
Liliana, die sich ebenfalls erhob, stellte die verbliebenen Teller ineinander und trug sie zur Arbeitsfläche.
„Ich kann mir nicht helfen, ... aber irgendwie klingst du verbittert.“
Er richtete sich auf, stellte den Teller zu den anderen und strich sich mit einer fahrigen Geste durch das Haar.
„Ich bin nicht verbittert, nur zu lange fort gewesen. So vieles hat sich verändert...“ Wen versuchte er hier eigentlich zu überzeugen. Sie, oder doch mehr sich selbst?
Heiß dampfendes Wasser ergoss sich in das Keramikspülbecken, als er den Hahn aufdrehte.
Zeitgleich griffen sie nach der Flasche mit dem rosafarbenen Spülmittel, welches auf dem Ablaufbrett stand und für den Bruchteil einer Sekunde berührten sich ihre Hände.
Er sah wie sie zusammenzuckte. Sie zog ihre Hand so schnell zurück, als hätte sie ihre Finger in heißer Glut gebadet.
Thierry maß dem kaum Beachtung bei. Sie waren einander fremd, und ihr Leben war noch immer fest mit dem ihres verstorbenen Mannes verbunden.
Er machte sich daran das schmutzige Geschirr abzuwaschen. Schweigend arbeiteten sie nebeneinander, bis Liliana schließlich die letzte Gabel in einer Schublade verstaute.
Thierry faltete das Geschirrtuch und hängte es zum Trocknen über den Ofengriff.
Sie lehnte mit der Hüfte an der Küchenzeile, die Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtete ihn schweigend.
Er ahnte, dass sie darüber nachsann, was er vor ihr zu verheimlichen suchte und griff ein unverfängliches Thema auf.
„Das Restaurant, existiert es noch?“
Sie zog die Stirn in Falten und presste einen Moment die Zähne aufeinander. Er konnte es daran sehen, wie ihr Unterkiefer sich verspannte. Vermutlich ein weiterer wunder Punkt, den er angeschnitten hatte.
Während er auf ihre Antwort wartete, schenkte er sich von dem Rotwein nach, nahm sein Glas und ließ sich in den Sessel sinken, in dem er die vergangene Nacht verbracht hatte.
Sie atmete tief, stieß sich von dem Schrank ab, an dem sie gelehnt hatte und setzte sich auf das Chaiselongue. Die Beine auf die Sitzfläche gezogen, griff sie nach einem der Kissen, die das Möbelstück zierten, und legte es sich auf den Schoß.
Ihm entging nicht das ihre Hände zitterten, als sie mit den Fingerspitzen durch das Fransengebilde strich, welche das Kissen umgab.
„Nein. Ich musste es verkaufen. Das „Chez Mathieu“ war hoch verschuldet. Ohnehin wäre es ohne Mathieu nicht mehr dasselbe gewesen. Die Leute kamen seinetwegen und auf Grund des fantastischen Essens, das er zubereitete. Wusstest du, dass er jeden Gast persönlich begrüßt hat? Und das, obwohl sein Job in der Küche so hohe Anforderungen an ihn stellte, dass ihm eigentlich kaum Zeit für eine Pause blieb.“
Oh ja, Thierry entsann sich nur allzu gut, als er sein Glas an die Lippen führte und einen Schluck von dem kräftigen Bordeaux nahm, der warm und vollmundig seine Zunge umspülte und die verkümmerten Geschmacksknospen zu neuem Leben erweckte.
Mathieu hatte es wie kein anderer verstanden sich in den Vordergrund zu spielen. Entweder die Leute liebten ihn, oder sie hassten ihn. Dazwischen gab es nichts.
„Aber der Laden war eine Goldgrube. In der Saison jeden Abend ausgebucht. Hat das Geschäft im Laufe der Jahre nachgelassen?“
Liliana hielt in ihrer Tätigkeit, mit den Fingern die Fransen des Kissens zu kämmen, abrupt inne. Ohne ihn anzusehen schüttelte sie schließlich den Kopf: „Nein, im Gegenteil. Bevor Mathieu starb, überlegten wir sogar das Restaurant zu erweitern, oder ein zweites in St. Trojan zu eröffnen.“
Seufzend drückte sie das Kissen an ihre Brust und schloss die Arme darum. So wie ein Kind seinen Teddy halten würde um Schutz und Geborgenheit zu finden, schoss es Thierry durch den Kopf.
„ Mathieu hat...nun er hat hin und wieder, mit ein paar Freunden, gespielt. Gepokert um genauer zu sein...“ Wieder hob sie mit einem entschuldigenden Lächeln die Schultern und sah ihn aus verständnisheischenden Augen an.
„Heute weiß ich, dass er krank war. Spielsüchtig. Diese Sucht ist ihm zum Verhängnis geworden. Er hat dabei alles verloren. Ich habe das leider viel zu spät erkannt um ihm helfen zu können.“
Thierry lauschte schweigend ihren Worten. Er entsann sich des großen Hauses, mitten in St. Pierre, der Hauptstadt der Insel, das Mathieu damals gekauft hatte.
„Oben wohnen, unten arbeiten, Thierry. Besser kann ich es gar nicht haben.“ Er sah Mathieus blendendes Lächeln und spürte wie sein Freund ihm freudig auf die Schulter schlug. Damals war Mathieu voller Ideale und Pläne. Und alles, was er anfasste, schien ihm zu gelingen.
Anfangs hatte Thierry ihn beneidet um seinen Mut und den Feuereifer, den er an den Tag legte.
Im Nu hatte er ein Restaurant erster Klasse hochgezogen. Und er war fleißig, arbeitete Tag und Nacht für seinen Erfolg.
Doch Thierry wusste auch, dass sein Freund den Hang hatte in die falschen Hände zu geraten.
Sich den falschen Freunden zuzuwenden.
Er stellte sein Glas auf den angrenzenden Wohnzimmertisch, stützte die Arme auf die Schenkel und beugte sich vor.
„Nicht du bist schuld, dass er angefangen hat zu spielen, Liliana. Bürde dir nicht auch noch diese Last auf. Ein Jeder ist selbst verantwortlich für seine Taten... “ Er legte eine kurze, bedeutungsvolle Pause ein und schloss einen Moment gequält die Augen, weil ihn die Tragweite seiner Worte an sein eigenes Schicksal erinnerte.
„... so auch Mathieu“, endete er schließlich mit einem tiefen Seufzer.
Ihre Zunge glitt nervös über ihre Unterlippe: „Ich weiß. Aber vielleicht hätte ich als seine Ehefrau bemerken sollen, in welchen Schwierigkeiten er steckte.“
„Vielleicht. Aber vielleicht hat er es auch so geschickt angestellt, dass du gar keine Chance dazu hattest.“ Mit einer vagen Kopfbewegung gab sie ihm Recht.
„Wovon lebst du jetzt?“
„Als ich Mathieu kennenlernte, war ich gerade in dieses Haus gezogen. Ich habe in Paris Kunst studiert und hatte eigentlich immer den Wunsch, irgendwo am Meer zu leben. Die Ile d' Oleron schien mir der geeignete Ort um die Natur mit den Bildern in meinem Kopf zu kompensieren.“ Mit einem verlegenen Lächeln hob sie den Kopf und sah ihn an. Irritiert registrierte er ein seltsames Prickeln in der Magengrube. Ihre Schüchternheit übte einen gewissen Reiz auf ihn aus.
„In den ersten Monaten malte ich, als wenn es um mein Leben ginge. Und ich hatte Erfolg. Mehrere Ausstellungen in La Rochelle, Bordeaux und Portier. Außerdem unterrichte ich in regelmäßigen Abständen an einer Kunstschule auf dem Festland.“
Thierry ließ seinen Blick über die Schalen, Töpfe und Vasen schweifen, die er schon am gestrigen Abend bemerkt hatte und die in unzähliger Vielfalt und kunstvoller Schönheit, Regale, Tisch und Schränke schmückte.
„Du malst“, stellte er andächtig fest und entlockte ihr ein heiseres Lachen.
„Du sagst das, als wäre es etwas Besonderes. Dabei gibt es auf der Insel unzählige Künstler.“
Das stimmte. Doch die meisten lebten von Straßenmalerei. In der Saison verbrachten sie ihre Nachmittage in der Gluthitze der Innenstädte, um Touristen dazu zu animieren sich zeichnen zu lassen, als kleines Mitbringsel für die daheim gebliebenen. Die Einkünfte der meisten waren so knapp, dass es kaum zum Leben reichte.
Er kannte niemanden, der auch nur eine, geschweige denn mehrere Ausstellungen gehabt hatten.
„Aber du bist gut. Sehr gut sogar.“ Thierry erhob sich und trat an ein Regal an der gegenüberliegenden Wand. Behutsam griff er einen Wasserkrug heraus und betrachtete das Kunstwerk. Auf kleinster Fläche hatte Liliana eine Meereslandschaft geschaffen, die in Vielfalt und Farbe nicht zu übertreffen war. Authentischer konnten Fotografien nicht sein. „Gehst du an den Strand um deine Motive zu malen?“ Er drehte den Krug im schwachen Licht der Beleuchtung und entdeckte immer wieder neue Elemente.
„Manchmal ja. Zu anderen Zeiten lasse ich einfach meiner Phantasie freien Lauf. In meinem Kopf sind so viele Bilder ... Vermutlich würde ich mehrere Leben brauchen, um sie zu Papier zu bringen. Dieses Motiv auf dem Wasserkrug allerdings ...“
„ ...ist der Strandabschnitt von Grande Village“, vollendete er ihren Satz.
Erstaunt schüttelte sie den Kopf und zum ersten Mal empfand er, dass ihre Gesichtszüge komplett entspannt waren. Keine Sorgenfalte zog sich über ihre Stirn, ein gelöstes Lächeln umspielte ihre, wie ihm plötzlich auffiel, sehr sinnlichen Lippen. Und in ihren Augen lag ein Glanz, der nur von der Liebe zu ihrem Beruf herrühren konnte.
„Ich kann nicht glauben, dass du die Landschaft erkennst. Es ist doch vermutlich das erste Mal, dass du etwas von meinen Arbeiten siehst.“
Er nickte: „Es ist präzise und detailgetreu gemalt. Der lange Strandabschnitt im Vordergrund, dahinter der Kiefer bestandene Wald, mit den vereinzelten Campingwagen, die durch das Grün blitzen.“
Vorsichtig schob er das Behältnis an seinen ursprünglichen Platz zurück und nahm die anderen in Augenschein.
„Es muss doch unglaublich schwer sein, solche genauen Zeichnungen und Gemälde auf Gefäßen anzubringen.“
„Ein Hersteller für Künstlerbedarf hat einmal gesagt: Ohne geeignetes Material, wären die Ideen in den Köpfen der Künstler gefangen. Welche Untergründe man da nimmt, spielt keine Rolle. Ich habe schon so ziemlich auf allem gemalt. Möbel, Wände, Geschirr... such dir etwas aus.“
Thierry sah sich um. Er konnte nirgendwo Farbspuren oder dergleichen entdecken. Das Atelier eines Malers hatte er sich immer übersät mit Fahrspritzern jeder Nuance vorgestellt.
„Du malst hier?“ Er wies mit dem Zeigefinger auf den Boden, um zu verdeutlichen, dass er diese Räumlichkeit meinte.
„Nein.“ Liliana lachte, ein helles, fast freudiges Lachen: „Im Anbau, hinter dem Haus habe ich ein Atelier.“
„Aber ist es dort nicht zu dunkel um zu arbeiten?“
„Kurz bevor ich hier her kam, starben meine Eltern. Von dem Erbe habe ich mir, praktisch als Andenken an sie, dieses Haus gekauft. Den Anbau, der früher Wirtschaftsgebäude war, habe ich renovieren lassen. Zusätzlich ließ ich große Fenster einbauen. An sonnigen Tagen ist der Raum Licht durchflutet.“
Sie strich sich durch das Haar und er spürte, dass ihre Stimmung kippte. Ihre Schultern verspannten sich und ein ernsthafter Zug prägte ihr Gesicht.
„Weil dieses Strandhaus praktisch das letzte Geschenk meiner Eltern an mich war, habe ich es nicht verkauft. Auch nicht nach der Hochzeit mit Mathieu. Gott sei Dank, kann ich nur sagen.
Denn andernfalls hätten Elise und ich nach Mathieus Tod keine Bleibe gehabt. Innerhalb weniger Wochen wurde das Haus in St. Pierre verkauft.“ Sie strich sich müde mit zwei Fingern über die Stirn, so als ob ein Schmerz sie quälte.
„Als ich damals zu Mathieu zog, habe ich die Malerei eingestellt. Versteh das nicht falsch! Mathieu hat das nie von mir verlangt. Im Gegenteil, wo er konnte, hat er mit meiner Kunst angegeben, war stolz auf mich... aber es blieb einfach keine Zeit mehr. Und als Elise dann da war...“ Ergeben zuckte sie mit den Schultern, so als sei es selbstverständlich, dass eine Ehefrau und Mutter zu Gunsten der Familie und dem Unternehmen des Mannes die eigene, viel versprechende Karriere opferte.
Und vielleicht war es das auch. Was wusste er schon? Hatte er sich nicht immer verzweifelt gewünscht, Nicole hätte nur einen Bruchteil der Ansichten gelebt, die Liliana ihm offenbarte?
War es nicht in der Liebe so, dass ein jeder Opfer bringen musste?
„Wie habt ihr euch kennengelernt, du und Mathieu?“
Thierry schenkte sich den letzten Schluck Wein ein. Er spürte bereits die Wirkung des Alkohols, der ihn ruhiger machte, gelassener gegenüber unvorhersehbaren Offenbarungen und Fragen dieser Frau. Doch er musste auch achtgeben, durfte nicht unvorsichtig werden. Alkohol lockerte die Zunge, und nichts lag ihm ferner, als zum jetzigen Zeitpunkt die Schleusen seiner eigenen Vergangenheit zu öffnen.
„Ich bin eines Tages in seinem Restaurant aufgetaucht und habe ihn gefragt, ob er bereit wäre meine Bilder in seinem Gästeraum auszustellen. Und tatsächlich, er ist gleich darauf eingegangen. So war es unausweichlich, dass wir einander wieder begegneten.“
Sie lächelte versonnen, in Erinnerungen daran, während sie ihren Blick auf die Hände gerichtet hielt. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand spielte sie selbstvergessen mit dem Goldreif an ihrem Ringfinger.
„Ich mochte ihn von Anfang an. Er dagegen hat etwas länger gebraucht, das zu erkennen.“
Plötzlich sah sie ihn an: „Warum erzähle ich dir das alles? Ich meine... wir sind doch praktisch Fremde.“
Nachdenklich tasteten seine Augen ihre Züge ab, und sie hielt dem stand, wich ihm nicht aus. Trotz des trüben Lichtes erkannte er die feine Röte, welche sich über Wangen und Hals zog.
„So fremd sind wir uns gar nicht. Immerhin gibt es jemanden, den wir beide sehr gut kannten und der eindeutig eine Verbindung zwischen uns herstellt. “
Er rieb sich nachdenklich mit der flachen Hand über das Kinn, spürte die rauen Stoppeln auf der Haut. Müdigkeit breitete sich aus, lähmte seine Glieder, vermutlich die Wirkung des Rotweines und nicht zuletzt der Eindrücke eines viel zu langen Tages. Sein Blick streifte die Uhr an der Wand, deren Zeiger sich unaufhaltsam Mitternacht näherten.
Zeit aufzubrechen, dachte er, während er sich erhob und seine Hände nach der Jacke griffen, die er am frühen Abend auf die Sessellehne geworfen hatte.
„Du... du willst gehen?“ Er hörte das Zittern in ihrer Stimme, das ihm deutlich die Angst vor den langen Stunden einer einsamen Nacht signalisierte.
Eine Angst, die ihm selber mehr als vertraut war.
Als er auf sie zu trat, hob sie den Kopf. Ein unsicheres Flackern in ihren meergrünen Augen unterstrich das Gefühl des Unbehagens.
Eine Sekunde war er versucht sie in die Arme zu ziehen. Verlangen breitete sich in ihm aus, ohne jegliche Vorwarnung, heiß und impulsiv, ihr den Kummer und die Sorgen von den Zügen zu Küssen. Sie nur für wenige Stunden vergessen zu lassen, welche Bürde sie mit sich trug. Vielleicht auch selbst zu vergessen, an welchem Ort er die letzten Jahre gelebt hatte und warum. Eine Nacht...
Verdammt Junge, du warst zu lang mit keiner Frau mehr zusammen, schalt er sich im Stillen und fuhr sich in einer Geste des Missbehagens ungehalten mit einer Hand über den Nacken.
„Ich muss, Liliana.“
„Kannst du... vielleicht noch eine Nacht...“ Sie führte den Satz nicht zu Ende. Senkte stattdessen verlegen die Lider. Ein dichter, schwarzer Wimpernkranz warf im schwachen Licht der Nachtleuchte dunkle Schatten auf ihre hohen Wangenknochen. Er konnte sich nicht erinnern, je etwas Reizvolleres gesehen zu haben. Ihre Schüchternheit, welche die Zerbrechlichkeit ihres Wesens noch unterstrich, ließ sie in seinen Augen femininer erscheinen als jegliches andere weibliche Geschöpft dem er begegnet war.
Die Luft zwischen ihnen schien plötzlich sehr dünn zu werden.
Er atmete tief und sank noch einmal, wie zuvor bei seiner Ankunft, vor ihr in die Knie.
„Es wäre nicht richtig, Lia. Nicht heute Nacht.“ Ohne nachzudenken kam ihm die Koseform ihres Namens über die Lippen.
„Ich werde jetzt gehen. Das heißt aber nicht, dass ich nicht schon morgen wieder nach dir sehen werde. Ich brenne darauf, einen Blick in dein Atelier zu werfen. Ich hoffe die Künstlerin gewährt mir dies?“
Seine Frage zauberte ein zittriges Lächeln auf ihre Lippen und der Anflug von Hoffnung kehrte in ihre Augen zurück.
„Sehr gerne, wenn du ehrlich interessiert bist.“
Er hob die Hand und strich mit den Knöcheln der Außenseite behutsam über ihre Wange.
Ihre Haut schien zu glühen. Fast hatte er den Eindruck, dass sie sich seiner Zärtlichkeit entgegenlehnte. So als sei auch sie ausgehungert nach menschlicher Nähe, beherrscht von dem Wunsch einander zu spüren.
Die Berührung schickte ein elektrisierendes Gefühl in seine Eingeweide.
Thierry riss sich mit einem Ruck von ihr los, aus Angst jeden Moment die Kontrolle zu verlieren.
Leicht schwankend kam er auf die Füße und trat einen Schritt zurück.
„Also dann, wir sehen uns morgen.“
Seine Stimme klang ungewöhnlich rau in die Stille hinein. Ohne einen Blick zurück trat er durch die Tür hinaus ins Freie.
Als das Schloss mit einem leisen Klicken einrastete, hielt er den Knauf fest umfasst, während seine Stirn gegen die raue Holzoberfläche sank.
Was geschah da mit ihm? Neun Jahre hatte er seine Gefühle beherrscht wie ein Theaterschauspieler das Mienenspiel zum passenden Bühnenstück. Und plötzlich überrollten ihn Empfindungen und Wünsche mit der Macht eines Tsunami, schienen jeden verbliebenen Rest von Verstand und Anstand hinwegzuspülen.
Sein Herz donnerte im selben Rhythmus gegen die Rippen wie die Wellen an den nächtlichen Strand. Der eisige Hauch des Oktoberwindes umwehte sein erhitztes Gemüt und kühlte die Glut in seinem Innern.
Er richtete sich auf und füllte seine Lungen mit der klaren Nachtluft.
Die Holzbohlen der dreistufigen Treppe knarrten unter seinen Schritten, als er sie hinabstieg und schließlich den sandigen Weg Richtung Strand einschlug.
Er beschleunigte seinen Schritt, der anfangs noch ruhig und leicht war, fiel zunächst in ein langsames Lauftempo, das er jedoch schnell in einen Sprint steigerte.
Die Furcht, sich zu verlieren, trieb ihn an. Die Angst, den Stimmen in ihm, die ihn zur Umkehr anhielten, Gehör zu verschaffen. Er konzentrierte sich auf seinen Atem, versuchte die innere Unruhe zu übertönen, während alles in ihm nach der Erfüllung eines Verlangens schrie, das er sich viel zu lange versagt hatte.
Er lief, als ob es um sein Leben ginge. Der Nachtwind schnitt ihm ins Gesicht, blies ihm das Haar aus der Stirn und zerrte an seiner Kleidung.
Von dichten Wolkenbändern verdunkelt, beschien milchiges Mondlicht nur spärlich seinen Weg. Dennoch trat er sicheren Fußes zu, fand unbeirrt seinen Weg hinunter zum Wasser.
Thierry lief. Er lief, als könne er so sein Wünschen, Fühlen und Denken, sein Begehren eindämmen. Und doch wusste er, dass man einen Steppenbrand nicht mit den Füßen löschen konnte.