Читать книгу Stigmata - Silvia Maria de Jong - Страница 11
Vier
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Jede Begegnung,
die unsere Seele berührt,
hinterlässt in uns eine Spur,
die nie ganz verweht.
Lore-Lillian Boden
Sie tauchte den Pinsel in Phatanoblau. Die Vielfalt der Blautöne war unermesslich.
Blau gehörte zu den Farben die sie wählte, wenn Zerrissenheit sie quälte, in der Hoffnung, durch die Harmonie dieser Kolorierung die stummen Dialoge ihrer Seele zum Schweigen zu bringen.
Aber sie wählte auch Blau an Tagen wie diesen, Tage wie sie sie lange nicht erlebt hatte.
In Lilianas Erinnerungen mochten sie Lichtjahre zurückliegen, einer anderen Zeit, einer fernen Galaxie angehören.
Zum ersten Mal fühlte sie wieder einen Hauch von Glück unter ihrer Haut prickeln.
Mit der filigranen Spitze ihres Malwerkzeuges, zog sie eine exakte Linie auf der Leinwand.
Ihre Hand war völlig ruhig, ihr Geist leer. Die Konzentration lag einzig und allein auf der Arbeit, die vor ihrem geschulten Auge entstand.
In den frühen Morgenstunden war sie erwacht. Am Horizont zeichnete sich der erste helle Lichtstreifen ab und im Westen stiegen dunstige Schwaden aus den grasbewachsenen Dünen auf, verkündeten einen der letzten Sonnentage des Jahres.
Sie hätte nicht in Worte fassen können, was es war, das sie aus dem Bett trieb. Doch zum ersten Mal seit Monaten drückte sie nicht diese Lethargie nieder, die sie an anderen Tagen fast magnetisch unter der wärmenden Decke hielt. Bisweilen hatte sie das Steppbett sogar über den Kopf gezogen, mit dem Ansinnen, Fühlen und Denken einfach auszublenden, sowie die ganze Welt da draußen. Sie hatte kein Leben mehr in sich pulsieren gespürt. Irgendwo, auf dem langen, dornenreichen Weg, den sie zurückgelegt hatte, war sie selbst verloren gegangen.
Doch heute war in den frühen Stunden des neuen Tages alles anders gewesen.
Sie hatte sich kaum die Zeit zum Anziehen und Waschen genommen. In Windeseile hatte sie eine Kanne Kaffee aufgebrüht und diese mit hinüber ins Atelier genommen.
Ihr Kopf war voller Bilder und sie hatte das Gefühl, wenn sie diese nicht augenblicklich zu Papier brachte, könnte ein Teil von den wundervollen Eingebungen verloren gehen.
Die Morgenluft empfing sie mit kalter Umarmung, als sie in die Dämmerung hinaustrat. Die Veranda umschloss das Haus und war gleichzeitig die Verbindung zu dem ehemaligen Wirtschaftsgebäude, der heutigen Produktionsstätte.
Als Liliana das Atelier betrat, setzte sie sich augenblicklich an ihren Arbeitstisch, entzündete den Halogenstrahler und begann erste Zeichnungen auf einem Skizzenblock anzufertigen.
Irgendwann fiel ihr auf, dass die Sonne, welche durch die hohen Fenster fiel, die die Seitenwände des Gebäudes säumten, längst das künstliche Licht überstrahlte. Seit Stunden hatte sie still und ohne jeglichen Gedanken an all die Qualen, die sonst ihr Herz bewegten, dagesessen und gearbeitet.
Nach der stillen Arbeit verlangte es sie, sich körperlich zu betätigen. Und so hatte sie begonnen die Rahmen mit der Leinwand zu bespannen.
Diese Aufgabe erforderte Konzentration und Kraft gleichermaßen. Wenn nur eine Klammer nicht richtig saß, das Tuch eine leichte Welle schlug, war der komplette Untergrund unbrauchbar. Schon zu Beginn ihrer Ausbildung hatte Liliana das Spannen der Leinwände lieben gelernt. Die physische Anstrengung bot einen angenehmen Kontrast zu der stillen, künstlerischen Tätigkeit des Malens. Außerdem liebte sie das Geräusch der Klammern, wie sie in das Holz schlugen, um sich dann mit enormer Geschwindigkeit und Kraft um den Stoff zu schmiegen.
Draußen erklang das Geräusch eines herannahenden Motors. Liliana tauchte den Pinsel in das entsprechende Gefäß und griff nach einem farbenprächtigen Lappen, an dem sie sich die Hände abwischte.
Der Mercedes kam zum Stehen und der Motor erstarb schließlich ganz.
Das Schnurren dieser Maschine war ihr in Leib und Blut übergegangen, und sie hätte wohl aus hundert unterschiedlichen Fahrzeugen heraus den Klang dieses Wagens erkannt.
In manchen Stunden sehnte sie eben jenen Klang herbei. Ihr Herz schlug dann einen freudigen, schnellen Rhythmus, erfüllt von dem Glück, das sie empfand.
Zu anderer Zeit aber verband sie jenes Geräusch mit all dem Schmerz und der Sehnsucht, die ihr Leben bestimmten, und erfüllt von dieser Pein, hegte sie dann nur noch den Wunsch, die Ohren zu verschließen und jenes vertraute Motorengeräusch zum Schweigen zu bringen.
Stimmengewirr riss Liliana aus ihren Überlegungen. Ihr Blick fiel auf die Menschen, die am Fenster vorbei schritten und freudige Erregung, vermischt mit leichter Furcht, die ihr unaufhaltsam den Rücken hinaufkroch, erfasste sie. Ganz automatisch, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, richtete sie sich zu voller Größe auf, straffte die Schultern und schob, in leicht trotziger Haltung, ihr Kinn vor.
Nur Sekunden später wurde die Tür aufgerissen und Liliana entdeckte die vertrauten Züge ihrer Tochter.
„Maman“, rief die Kleine und stürmte auf ihre Mutter zu.
Beide Ärmchen schlang Elise um ihre Mama und drückte ihr Gesicht fest an deren Leib.
Liliana umfing ihr Mädchen ebenfalls und küsste sie zärtlich auf den Scheitel, bevor sie in die Knie sank um mit der Kleinen auf Augenhöhe zu sein.
„Hallo mein Schatz, ich habe schon auf dich gewartet. Siehst du dort drüben die Leinwand?“ Sie deute auf eine Staffelei die vor einem zweiten, kleineren Arbeitstisch aufgebaut war, den sie eigens für Elise eingerichtet hatte.
„Den Rahmen habe ich heute Morgen frisch für dich bespannt. Wir haben lange nicht zusammen gemalt und ich dachte, du hättest einmal wieder Lust..., “
„Ich denke, das ist keine gute Idee. Guten Morgen Liliana.“
Beim Klang der schneidenden Stimme ihrer Schwiegermutter zuckte Liliana leicht zusammen. Sie erhob sich zögernd, weil sie den vertrauten Moment mit Elise nicht wirklich auskosten konnte, andererseits in gebückter Haltung dieser strengen Frau nicht ebenbürtig war.
„Guten Morgen, Eliane“, sie legte ihre Hände auf die Schultern ihrer Tochter, um das leichte Zittern zu verbergen, das sich ihrer bemächtigte, sobald Eliane diesen herrischen Ton anschlug.
„Elise hatte vor drei Tagen einen Asthmaanfall. Es wäre also denkbar schlecht, wenn sie sich jetzt in diesem...“ Die Ältere machte eine umfassende Handbewegung und verzog dabei den Mund geringschätzig nach unten, „...Milieu aufhalten soll. Hier wimmelt es ja regelrecht von Reizstoffen, die die ohnehin schon kranken Atemwege des Kindes unnötigerweise stimulieren würden.“
Glühende Hitze und vermutlich auch die dazugehörige Röte stieg Liliana ins Gesicht, ohne dass sie eine Möglichkeit sah, dies zu verhindern oder doch zumindest zu verbergen.
„Och Mamie, “ bettelte Elise und drehte sich zu ihrer Großmutter um, „so schlimm war es doch gar nicht. Wenn ich dir verspreche, dass ich ganz bestimmt inhaliere...“
„Ich musste sie aus dem Kindergarten abholen.“ Ganz bewusst überging Eliane die Einwände des Mädchens.
„Die Kindergärtnerin war völlig panisch. Wir sind dann sofort zum Arzt gefahren. Die Messung ihres Atemstroms beim Ausatmen fiel denkbar schlecht aus. Es wäre also wirklich ratsam, Liliana, wenn du das bei deinen geplanten Aktivitäten für das Wochenende berücksichtigst.
Elise muss, auch laut Anweisung des Doktors, sie muss sich schonen.“
Eliane strich sich mit einer Hand leicht über das perfekt frisierte Haar:
„Ich hätte sie lieber zu Hause behalten, damit ich sie im Auge habe, aber das Kind wollte ja partout hier her“, sie schüttelte missbilligend den Kopf.
Liliana spürte, dass ihre Nackenhaare sich aufstellten. Elise war hier zu Hause, bei ihr. Die Unterkunft bei den Großeltern war nur eine vorübergehende Lösung, die sich schon viel zu lange hinzog.
„Aber wir könnten doch die Staffelei nach draußen stellen. An der frischen Luft kann mir gar nichts geschehen. Du weißt doch, der Arzt hat gesagt, dass wir ans Meer fahren sollen...“
„Ja, aber er hat nichts davon gesagt, dass du dich Lösemitteln und weiß Gott was noch für Schadstoffen aussetzen sollst, die diese...“ sie beschrieb mehrere kleine Kreise mit dem Zeigefinger, bevor sie auf eine Farbtube deutete, „...Beize enthält. So sei doch vernünftig, Elise, “ appellierte sie an den Verstand ihrer sechsjährigen Großtochter, die ihre Entscheidungen noch mit dem Herzen denn mit dem Kopf traf.
„Mamie...“, versuchte die Kleine noch einmal ihre Oma zu überzeugen.
„Nein Elise. Deine Grandmaman hat Recht. Deine Lunge braucht jetzt erst mal Zeit sich zu erholen. Der Keilrahmen gehört dir. Wir verschieben das Malen einfach auf einen späteren Zeitpunkt.“ Liliana fasste das offene, lange Haar ihrer Tochter zusammen und drehte es im Nacken zu einem Zopf, den sie mit der linken Hand hielt, während sie mit der rechten über die , vor Aufregung gerötete Wange des Kindes strich.
„Das Wetter ist schön und wir können viel Zeit am Wasser verbringen, wenn du magst.“
„Sie darf sich aber auf keinen Fall jetzt auch noch erkälten. Eine Bronchitis wäre fatal. Du weißt nicht...“
„Ich weiß sehr gut, Eliane“, fiel Liliana ihr mit scharfen Ton ins Wort, „Elise ist meine Tochter. Wir leben mit dieser Krankheit seit ihrem zweiten Lebensjahr. Ich bin auf Schulungen gewesen, habe mehrere Fachbücher studiert und mit versierten Ärzten gesprochen. Ich bin also über das chronische Leiden meines Kindes bestens informiert. Du kannst beruhigt zurück nach Tours fahren. Wir zwei kommen schon zurecht, nicht wahr Elise?“
Die Kleine drehte sich zu ihrer Mutter um und lächelte sie an. Dabei entblößte sie eine große Zahnlücke.
„Hey, dein Zahn ist ausgefallen,“ Liliana versuchte dem Kind zuliebe Begeisterung zu äußern, doch ihr Herz zog sich so schmerzhaft zusammen, dass sie sich leicht nach vorn beugen musste, um überhaupt noch Atmen zu können. Wieder eines der vielen großen Ereignisse, an denen sie nicht Teil gehabt hatte. Diese wundersamen Erlebnisse, wie zum Beispiel das Schwimmen lernen, Fahrrad fahren oder das Binden der Schuhschleife, blieben stets Patrice und Eliane vorbehalten. Ihre Zeit mit Elise war so knapp bemessen, dass kaum die Möglichkeit blieb, ihr die wichtigen Dinge, die zur kindlichen Entwicklung dazugehörten, beizubringen.
Elise schob ihren kleinen Zeigefinger an die Stelle, wo vor kurzem noch der wackelige Schneidezahn saß, den sie stolz präsentiert hatte.
„Heute Morgen erst. Sonst hätte ich dich ja auch angerufen, aber ich wollte, dass du es selber entdeckst.“
Liliana lächelte traurig. Um wenige Stunden hatte sie dieses Abenteuer verpasst.
Sie beobachtete, wie ihre Tochter eine Streichholzschachtel aus der Seitentasche ihrer leicht gefütterten Jacke zog und diese behutsam öffnete.
„Sieh mal, ich habe ihn mitgebracht. Dann können wir ihn gemeinsam unter das Kopfkissen legen. Vielleicht kommt ja heute Nacht die Zahnfee und holt ihn ab.“ Aus großen Augen, grün wie die ihren, sah das Mädchen sie aufgeregt an.
Liliana lächelte, strich Elise mit beiden Händen über das Haar und umfasste schließlich das kleine Gesicht: „Ganz bestimmt, mein Schatz.“ Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, als sie zärtlich mit den Lippen Elise Stirn berührte.
„Wir sollten ins Haus gehen. Ihr seid sicher durstig nach der langen Fahrt, und von deinem Lieblingskuchen hab ich ein großes Stück gekauft.“
Elise riss die Augen auf: „Den mit den dunklen Streuseln und dem hellen Guss?“
Liliana lachte: „Genau den.“
Eliane räusperte sich während sie mit der rechten Hand imaginäre Falten in ihrem teuren, cremefarbenen Leinenkostüm glättete.
„Ich werde gleich wieder fahren. Es gibt noch einiges zu erledigen, wenn ich schon mal hier auf der Insel bin, bevor ich dann die Rückreise antrete.“
Es fiel Liliana schwer ihre Erleichterung zu verbergen. Aus reiner Höflichkeit hätte sie ihrer Schwiegermutter nach der langen Fahrt, wenigstens eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffee anbieten sollen. Doch sie fürchtete an den Worten zu ersticken, sollte sie auch nur den Versuch dazu unternehmen.
„Nun gut. Wie du meinst, wir möchten dich nicht aufhalten.“
Liliana nahm die kleine Hand ihrer Tochter in die ihre und begleitete Elian hinaus.
Die Sonne erwärmte, für Oktober mit erstaunlicher Kraft, die Erde und warf tanzende Lichter in das Geäst der Bäume, die noch Blätter trugen.
„Ich werde Elise am Sonntag pünktlich um sechs abholen. Bitte sorge dafür, dass sie dann auch alles gepackt hat und zur Abfahrt bereit ist.“
Eine Sekunde war Liliana versucht die Hand an die Stirn zu legen und zu salutieren, unter dem harten Tonfall, den ihre Schwiegermutter sich anmaßte. Doch sie war heute Morgen nicht zu Streit aufgelegt. Alles was sie wollte, war, die wenigen Stunden nutzen, die ihr mit Elise blieben.
Eliane beugte sich über die Kleine, drückte sie kurz an die Brust und gab ihr einen schnellen Kuss auf die Wange.
„Pass auf dich auf, meine Kleine. Und behalte immer schön die dicke Jacke an. Wenn die Sonne auch scheint, das täuscht. Der Wind ist schon beißend kalt, besonders hier am Wasser. “
An Liliana gewandt fuhr sie fort: „Gib acht auf sie, nicht dass ich ein noch kränkeres Kind zurück bekomme.“
Bevor Liliana auch nur die Möglichkeit zur Antwort hatte, war die Ältere schon eingestiegen und startete den Motor.
Elise winkte ihrer Großmutter nach, bis der Wagen außer Sichtweite war.
So sehr diese Begegnungen mit den Schwiegereltern Liliana auch aufrieben, wusste sie doch auch um die tiefe Liebe und Zuneigung ihrer Tochter zu den Großeltern.
„Na komm, wir machen uns erst mal einen warmen Kakao. Dann setzen wir uns auf die Veranda und du erzählst mir, was du in den letzten zwei Wochen erlebt hast.“
Während Liliana damit beschäftigt war die Milch zu erwärmen und das Schokoladenpulver darin zu verrühren, berichtete Elise von dem Teil ihres Lebens, an dem Liliana keinen Anteil hatte. Weder kannte sie die Kindergärtnerinnen, noch die Freunde oder Nachbarskinder, von denen ihre Tochter lebhaft sprach.
Natürlich stand es ihr zu, Elise in Tours zu besuchen. Doch Eliane und Patrice sprachen niemals eine Einladung aus und Liliana wusste, dass sie dort nicht willkommen war. Außerdem wollte sie es vermeiden, dass das Kind die immer tiefer werdende Kluft spürte, die zwischen ihrer Mutter und den Großeltern entstand. Ohnehin sah und fühlte die Kleine mehr, als gut für sie war.
In letzter Zeit begann sie Fragen zu stellen. Fragen auf die Liliana keine Antworten finden konnte. Zumindest keine, die einem Kind gerecht werden würden.
Warum durfte sie nicht bei ihrer Mutter leben, wie all ihre Freunde es taten?
Warum kam ihre Maman zu keinem der Feste, die der Kindergarten ausrichtete?
Die letzten zwei Geburtstage hatte sie mit Oma und Opa gefeiert. Mit ihrer Mutter durfte sie erst zwei Wochen später zusammen kommen. Warum war das alles so?
Liliana mühte sich nach Kräften, dem Kind ehrlich zu antworten, sie nicht zu verletzen, und ohne dabei die Großeltern in den Schmutz zu ziehen. Dieses alles zu vereinbaren, verlangte ihr oft ein Ausmaß an Kraft ab. Kraft die sie, wie sie in der vergangenen Woche geglaubt hatte, nicht mehr besaß.
Mit einem Schaudern dachte sie daran, dass Elise heute nur das leere Haus vorgefunden hätte, wenn Thierry nicht...
Sie stütze sich einen Moment mit durchgedrückten Armen auf die Arbeitsfläche und schloss die Augen, um ihrer Gefühle Herr zu werden.
...Wenn Thierry sie nicht im letzten Moment gerettet hätte.
Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie hochschrecken. Sie riss die Augen auf und fuhr gleichzeitig herum, so dass sie den heißen Kakao verschüttete, der in einem Topf vor ihr, auf der Herdplatte stand.
„ Ach verdammt...,“ fluchte sie leise und griff nach einem Küchentuch, um das Malheur aufzuwischen.
„Hast du dich verbrannt?“ Beim Klang der tiefen, sonoren Stimme sah Liliana auf und blickte direkt in Thierrys blaue Augen.
Behutsam umfasste er ihr Handgelenk, zog sie vom Boden hoch, wo sie die klebrige Flüssigkeit aufwischte und begutachtete besorgt die zarte Haut auf ihrem Handrücken.
Liliana lachte nervös und entzog ihm ihre Hand: „Nein, mir ist nichts geschehen. Die Dielen haben das meiste abbekommen“, sie deutete auf den dunklen Fleck, der sich auf dem Holzfußboden abzeichnete.
Die Überreste des Getränkes kippte sie in den Ausguss und begann noch einmal von vorn.
„Möchtest du einen Kakao mit uns trinken? Wir wollten es uns gerade mit einem heißen Getränk und süßem Kuchen auf der Veranda gemütlich machen.“
„Wir?“ Thierry sah sich fragend im Wohnraum um.
Liliana folgte seinen Augen, konnte Elise jedoch nirgends entdecken.
„Elise und ich. Meine Tochter ist über das Wochenende zu Besuch, vermutlich bringt sie gerade ihre Tasche ins Schlafzimmer“, erklärte sie, während der Schneebesen mit schnellen Bewegungen die Milch zum Schäumen brachte.
„Deine Tochter also.“ Er lehnte sich mit der Hüfte leicht gegen die Küchenzeile und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich will nicht stören Liliana. Vermutlich seid ihr froh, ein paar Stunden für euch zu haben...“
„Du störst nicht, im Gegenteil. Ich bin sicher, Elise wird sich freuen dich kennenzulernen, “ Sie begegnete seinem Blick und sah wie die Skepsis sich langsam in Freude und Neugier wandelte.
„Wenn das so ist, nehme ich dein Angebot natürlich gerne an. Kakao und Kuchen klingt phantastisch.“
„Gut, dann kannst du dich schon mal nützlich machen und die Tassen nach draußen tragen, während ich nachsehe, wo meine Tochter abgeblieben ist.“ Sie schob ihm die Tassen hinüber, die sie randvoll mit dem süßen, braunen Getränk gefüllt hatte.
Sie fand Elise tatsächlich im Schlafzimmer. Das Mädchen war damit beschäftigt, ihren Zahn so unter das Kopfkissen zu drapieren, dass die Fee ihn auch finden konnte, wenn sie darauf lag.
„Der Kakao ist fertig, mein Schatz. Komm, wir haben Besuch. Ich möchte dir jemanden vorstellen.“
„Besuch?“ Elise Augen wurden groß. „Du hast nie Besuch, Maman.“
Das stimmte. Seit Mathieus Tod, hatte Liliana sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen. Sie ließ niemanden an sich heran, gewährte niemals Einblick in die tiefen Wunden ihrer Seele. Die wenigen Menschen, die sie zu Lebzeiten Mathieus ihre Freunde nannte, hatten schon beizeiten das Weite gesucht, weil Lilianas verschlossene Art keinen Zugang zu ihrer Person gewährte.
Sie seufzte über die bittere Erkenntnis, dass ihre Tochter mit kaum sechs Jahren die Situation schon so klar einordnen konnte.
„Du hast Recht. Wir zwei haben uns viel zu lange vor der Welt da draußen abgeschottet, “ Liliana straffte die Schultern und wagte ein Lächeln, „Aber das soll nun anders werden.“
Die Hände auf den schmalen Schultern ihres Kindes, schob sie Elise in das spätherbstliche Sonnenlicht hinaus, welches die Erde mit einem sanften Goldton erwärmte.
Thierry lehnte mit dem Rücken lässig an der Umzäunung, welche, ebenso wie die Veranda, das gesamte Haus einfasste.
Er trug einen dunkelgrauen Kapuzenpullover, unter dessen Ausschnitt ein weißes T-Shirt hervor blitzte. Seine langen Beine steckten in ausgebleichten Jeanshosen, die seine Oberschenkel fest umschlossen.
Die bestiefelten Füße hatte er an den Knöcheln leicht übereinander geschlagen.
Er sieht gut aus, fuhr es Liliana durch den Kopf. Die Art wie er da stand, den Kopf zur Seite geneigt und leicht gesenkt. Mit gestrafften Schultern und den tief in die Taschen geschobenen Händen, strahlte er eine Männlichkeit aus, derer sie sich bei seinem Anblick bisher nicht bewusst gewesen war.
Aber er war ein Mann. Aus jeder Faser seines Seins strotzte dieses heraus. War sie blind gewesen? Was hatte sie denn in ihm gesehen? Und was sah er in ihr? Was wollte er von ihr?
Ging es ihm wirklich nur darum, ihrer gestrandeten Seele wieder auf die Beine zu helfen? War er der barmherzige Samariter, für den er sich ausgab und den sie so verzweifelt in ihm zu sehen wünschte? Oder würde er früher oder später eine Gegenleistung einfordern?
Plötzlich überkamen Liliana Zweifel. Sie kannte den Menschen Thierry kaum. Im Grunde wusste sie nichts über ihn! Wo hatte er die letzten Jahre gelebt? Wie hatte er sein Geld verdient? Mit welchen Menschen hatte er sich umgeben?
Es war nicht richtig, Elise diesem Fremden vorzustellen, der es bestens verstand seine Geheimnisse zu wahren. Und dass es die gab, wurde ihr einmal mehr deutlich, als er beim Klang ihrer Schritte, die auf den Holzbohlen widerhallten, den Kopf anhob und sie mit seinen blauen Augen taxierte.
Liliana atmete tief, um den Druck auf ihrer Brust zu lindern. Ein seltsames Schwindelgefühl erfasste sie, als ein schiefes Lächeln seine Mundwinkel umspielte.
Vermutlich war es die Unsicherheit, die sie so empfinden ließ. Dieses befremdliche Gefühl, welches sich ihres Magens bemächtigte und eine gewisse Schwäche mit sich brachte, ignorierend sagte sie mit mehr Sicherheit in der Stimme, als sie empfand: „Elise, das ist Thierry, ein... Freund.“ Das Zögern in ihren Worten entging ihm nicht. Einen Moment lag sein Blick nachdenklich auf ihr.
Sie hätte ein Vermögen dafür gegeben, hätte sie in diesem Augenblick seine Gedanken lesen können. War ihm die Bezeichnung Freund vielleicht schon zu intim? Ihr selbst erschien es sehr wagemutig, ihn als solchen zu betiteln, nachdem sie sich zuvor mit dem Gedanken gequält hatte, wer er wirklich sein mochte. Dennoch ließ sich nicht leugnen, dass er ihr das Leben gerettet hatte und bereits einen Großteil ihrer Geschichte kannte.
„Thierry, meine Tochter Elise.“ Sie schob das Mädchen noch ein kleines Stück vor, jedoch ohne sie loszulassen. Noch immer ruhten ihre Hände auf Elise Schultern. Eine Geste, die dem Kind die gleiche Sicherheit vermitteln sollte wie ihr selbst.
Thierry löste sich aus seiner Haltung und sank, wie Liliana zuvor auch, in die Knie, um mit dem Kind auf Augenhöhe zu sein. Vermutlich mehr unbewusst, trat das Mädchen einen Schritt zurück und drängte sich dichter an die Mutter.
„Hallo Elise“, seine Stimme war tief und doch verhalten leise. Liliana spürte eine Gänsehaut, die sich vom Kopf abwärts den Körper hinunter zog.
Herrgott, was war nur mit ihr los? Sie hatte eindeutig zu wenig Schlaf gehabt. Das musste die Erklärung für diese seltsamen Gefühlsschwankungen sein.
„Einen sehr hübschen Namen haben Deine Eltern dir da gegeben.“
Der Ausdruck seiner Augen veränderte sich und Melancholie tränkte seine Züge. Liliana vermutete, dass er sich dessen nicht bewusst war. Nur selten ließ er es zu, dass sie einen Blick in sein Seelenleben erhaschte.
„Meine Mutter hieß auch Elise. Weißt du, dass es ein Lied gibt, das deinem Namen gewidmet wurde?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf und ihre dunklen Locken flogen von einer Seite zur anderen.
Thierry sah kurz auf und fing Lilianas Blick ein, in dem er sicher sehr deutlich ihre Verwunderung lesen konnte, bevor er mit ernster Miene wieder zu Elise sprach.
„Es heißt Für Elise. Der deutsche Komponist Ludwig van Beethoven hat es im neunzehnten Jahrhundert geschrieben. Allerdings hat man nie wirklich in Erfahrung bringen können, welcher Elise er dieses Lied widmete. Vielleicht hat er dabei an ein bezauberndes, kleines Mädchen wie dich gedacht.“
Er entlockte dem Kind ein erstes verschmitztes Lächeln, wenngleich es wohl kaum verstand, welche Tragweite die Bedeutung dieses Liedes hatte. Allein, dass dieser unbekannte Mann ihren Namen so rühmte, musste das Mädchen, welches nur äußerst selten mit Fremden zusammen kam, faszinieren.
Bei dem Grinsen entblößte sie ihre frische Zahnlücke und entlockte Thierry so einen überraschten Ausruf: „ Hey, dir fehlt ja ein Zahn.“
Liliana spürte, wie ihre Tochter sich stolz aufrichtete und ein leises Kichern von sich gab.
„Den hab ich heute Morgen erst verloren. Sieh mal wie groß das Loch ist, “ sie schob ihren Zeigefinger in den Mund und zog die Backe zur Seite, damit Thierry einen fachmännischen Blick auf die Wunde werfen konnte.
Interessiert beugte er sich leicht vor und verzog schmerzhaft das Gesicht: „Oh je, das hat sicher ganz scheußlich wehgetan.“
Nun prustete Elise laut heraus und es überraschte Liliana, in welch kurzer Zeit Thierry das Vertrauen des Kindes gewonnen hatte.
„Nein, gar nicht. Ich habe einfach ein bisschen daran gewackelt und gedreht, und als ich dann mein Frühstück gegessen habe, steckte er plötzlich im Brot. Das war lustig … “ Nach Luft ringend legte die Kleine ihre Hand auf den Bauch, so als würde er vor Lachen schmerzen.
„Na, da bin ich beruhigt, dass du keine Schmerzen hast“, gespielt wischte Thierry sich mit dem Handrücken imaginären Schweiß von der Stirn.
Liliana war so sehr fasziniert von dem Spiel der Beiden, dass sie ein wenig von der Körperspannung, die sie fast bewegungsunfähig machte, verlor.
„Und wo hast du deinen kostbaren Schatz jetzt?“
Elise zog die Unterlippe zwischen die Zähne und neigte den Kopf zur Seite. Mit einem tadelnden Blick, ob seiner dummen Frage, antwortete sie schließlich:
„Natürlich unter dem Kopfkissen.“
„Natürlich!“ Thierrys Stimme klang fest, doch der hilfesuchende Blick, den er Liliana zuwarf, machte klar, dass er keine Ahnung hatte, wovon das Mädchen sprach.
„Du weißt schon Thierry, wegen der Zahnfee“, beeilte sie sich zu sagen.
„Ja, klar, wegen der Zahnfee.“
„Die kommt doch heute Nacht und nimmt den Zahn mit. Ich habe ihn extra so unter das Kopfkissen gelegt, dass sie ihn auf jeden Fall finden muss.“
Sie beugte sich vor und flüsterte: „Weißt du noch was du dir gewünscht hast, als sie deinen Zahn geholt hat?“ Liliana konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Die Kleine nahm den fremden Mann ganz schön unter Beschuss.
„Gewünscht?“ fragte er mit leichter Verzweiflung.
Elise rollte die grünen Augen als sei Thierry begriffsstutzig: „Guck mal, wenn du deinen Zahn verlierst und ihn zur Nacht unter dein Kopfkissen legst, dann kommt die Zahnfee, nimmt deinen Zahn mit, erfüllt dir aber dafür einen Wunsch,“ Elise nahm beide Hände halb hoch, drehte die Innenflächen gen Himmel und fragte skeptisch: „Klar?“
Thierry strich sich lächelnd mit der flachen Hand über das glatt rasierte Kinn und nickte: „Klar. Aber leider kann ich mich nicht mehr erinnern, welchen Wunsch mir die Zahnfee erfüllt hat. Weißt du Elise, wenn du so alt bist wie ich, ergeht es dir vielleicht ganz ähnlich.“
Sie presste die Lippen zusammen, nickte zustimmend und blies eine Wange auf: „Stimmt. Du bist wohl schon ganz schön alt, oder?“
„Elise“, rief Liliana entsetzt aus. Doch Thierry hob charmant lächelnd die Schultern: „Aus deiner Sicht vermutlich schon steinalt.“ Das Mädchen nickte bedenklich.
„Aber vielleicht verrätst du mir, was du dir so dringendes von der Zahnfee wünscht?“
Die Kleine senkte den Kopf und starrte auf ihre Schuhspitze, mit der sie immer wieder ein Astloch in der Fußdiele zu traktieren versuchte.
„Eigentlich darf man nicht darüber sprechen, weil es dann sein kann, dass der Wunsch nicht in Erfüllung geht.“ Thierry hob abwehrend beide Hände: „Okay, das kann ich natürlich verstehen...“
„Aber vielleicht..., “ Elise legte den Kopf in den Nacken und suchte so den Blick ihrer Mutter, die immer noch hinter ihr stand. „Maman, ihm kann ich es doch sagen. Er ist ja dein Freund.“
Liliana spürte wie heiße, feurige Röte in ihre Wangen stieg. Warum die unbedachte Aussage des Kindes sie so in Verlegenheit brachte, konnte sie nicht sagen. Vielleicht lag es auch an der amüsiert hochgezogenen Augenbraue Thierrys, der sie mit stillem Vergnügen musterte und ihre emotionale Reaktion wohlwollend registrierte.
Sie räusperte sich nervös und sagte: „Mir hast du ihn auch noch nicht verraten. Ich glaube kaum, dass die Fee sich davon abhalten lässt, dir deine Wünsche zu erfüllen, wenn du dich uns anvertraust.“
Elise nickte nachdenklich, dann faltete sie ihre kleinen Händchen, wie zum Gebet und schob sie unter das Kinn. Mit fest geschlossenen Augen sagte sie inbrünstig: „Also, ich wünsche mir ganz, ganz doll, dass ich für immer bei Maman bleiben kann und nie mehr so lange zu Mamie und Papi muss.“
Die darauf folgende Stille erschien Liliana ewig. Ihr Kopf schien leer zu sein, doch zeitgleich hatte sie das Gefühl, jeden Moment hemmungslos in Tränen auszubrechen.
Tränen, die sie stets tapfer vor Elise verborgen hielt. Sie schloss fest die Augen und kämpfte gegen den Schwindel, der sie erfasste, unter der Anstrengung ihrer Gefühle Herr zu werden.
Plötzlich vernahm sie Thierrys Stimme, die einfühlsam das lautlose Schweigen durchbrach.
„Ich bin ganz sicher, dass die Fee deinen Wunsch erhört, Elise. Wer könnte einem so bezaubernden Mädchen schon etwas abschlagen. Aber weißt du, manchmal dauert es etwas länger, bis Wünsche sich erfüllen. Nur weil dieses nicht unmittelbar geschieht, heißt das nicht, dass dein Wunsch niemals in Erfüllung geht. Verstehst du das?“
Elise nickte ernst, während sie seinen Worten lauschte.
„Du bist wirklich ein kluges Mädchen.“ Mit einer zärtlichen Geste zerzauste er ihre Locken, „Und jetzt sollten wir unseren Kakao trinken, bevor er ganz kalt wird.“
Thierry richtete sich auf und sah Liliana an, die ihm einen dankerfüllten Blick zuwarf.
Er schenkte ihr ein beruhigendes Kopfnicken, das ihr tatsächlich das Gefühl vermittelte, alles sei okay. Und vielleicht war es das auch. Für die nächsten Stunden, Tage, möglicherweise auch Wochen.
Aber dann? Was konnte sie Elise sagen, wenn sie, wie all die anderen Male auch, weinend vor ihr stand, weil die Abschiede immer wiederkehrten.
„Was habt ihr denn für heute geplant?“ Thierry riss sie aus ihren trübseligen Überlegungen.
Sie setzte sich zu Elise auf die von Sonne, Salz und Wind verblichene Sitzbank, während Thierry sich auf der anderen Seite des Holztisches in einen alten Korbstuhl niederließ, welcher, bei der Größe des Mannes, plötzlich erstaunlich klein und zerbrechlich wirkte.
Liliana griff erschöpft nach ihrer Tasse und schloss die Hände darum.
„Wir haben eigentlich keine feste Planung.“ Mit einem Seitenblick auf Elise, die bereits das zweite Stück Kuchen vertilgte, fragte sie, „Oder hast du einen besonderen Wunsch, Schatz?“
Elise schluckte das süße Gebäck herunter und betrachtete ihre Mutter mit vorgeschobener Unterlippe.
„Wir könnten Drachen fliegen lassen.“
Thierry legte den Kopf zurück und warf einen Blick in den für Oktober erstaunlich azurblauen Himmel.
„Ich fürchte daraus wird heute nichts. Es ist überraschend windstill für die Jahreszeit.“ Als er Elise enttäuschtes Gesicht sah fügte er hinzu, „ Aber ich bin sicher, dass du in den nächsten Wochen noch genug Gelegenheit bekommen wirst, deinen Drachen steigen zu lassen.“
Elise rutschte aufgeregt vor und sah ihn bittend an: „Kannst du mir dann helfen? Maman weiß nie, wie man die Leine halten muss. Bis jetzt haben wir den Drachen noch nie hoch bekommen.“
Liliana spürte seinen Blick auf sich ruhen. Leichtes Unbehagen befiel sie. Es war ihr nicht recht, dass Elise Thierry gleich so vereinnahmte, zumal sie selber noch gar nicht wusste, wo diese Freundschaft hinführen sollte, geschweige denn, ob sie sie überhaupt aufrecht erhalten wollte.
„Schatz, Thierry hat sicher auch noch andere Dinge zu erledigen...,“
„Bei Gelegenheit und den richtigen Windverhältnissen zeige ich dir sehr gern, wie du deinen Drachen richtig steigen lässt“, unterbrach er Liliana und warf Elise ein verschmitztes Lächeln zu. Das Kind klatschte vor Freude und Begeisterung in die Hände.
„Aber für heute hätte ich einen anderen Vorschlag“, er beugte sich leicht vor und stützte sich mit den Armen auf dem Tisch ab, vermutlich, um Elise das Gefühl zu geben, ebenbürtig zu sein.
„Kannst du reiten Elise?“
Die Kleine nickte aufgeregt, doch Liliana hob die Hand: „Ich denke, das ist keine so gute Idee.
Elise hat Asthma, und in der vergangenen Woche gerade einen Anfall erlitten. Pferdehaare könnten die Atemwege erneut reizen...“
„Och Maman, ich bin schon ganz oft geritten, und es ist nie etwas passiert.“
Erstaunt sah Liliana ihre Tochter an: „Wo? Wo bist du geritten? So wie ich deine Großmutter kenne, hätte sie das niemals erlaubt.“
Das Mädchen presste kurz die Lippen aufeinander und wich ein wenig beschämt dem prüfenden Blick der Mutter aus: „Mamie muss ja nicht alles wissen.“
Liliana biss sich leicht auf die Unterlippe, um den Impuls eines freudigen Lachens ob der Gerissenheit ihrer sechsjährigen Tochter nicht nachzugeben.
Sie begegnete Thierrys Blick, der mit hochgezogenen Augenbrauen und einem amüsierten Lächeln um den Mund dem Wortspiel folgte.
Ernster als ihr zumute war, fragte sie dennoch: „Wo, Elise?“
Elise rieb mit ihrem kleinen Finger über den Zuckerguss, der ihr während des Essens vom Kuchen gefallen war und sich nun über die Tischplatte verteilte. Den Blick eisern gesenkt sagte sie schließlich: „Bei Magali. Sie ist meine Freundin und ihre Eltern haben Großeltern, die einen Stall mit ganz vielen Pferden haben.“
Liliana schmunzelte leicht über den Versprecher ihrer Tochter. Behutsam strich sie ihr über das Haar: „Und bei den Großeltern von Magali bist du schon einmal geritten?“
Elise legte den Kopf zur Seite und sah ihre Mutter entrüstetet an: „Einmal? Magalis Papie hat zu mir gesagt, ich wäre ein echtes Naturtalent. Wenn ich bei Magali spiele, holt er uns fast immer ab.“
„Du hattest nie einen Anfall, nachdem du mit den Pferden zusammen warst?“
„Nie Maman, ich schwöre.“ Elise hob drei Finger in die Luft, leckte dann jeden ab und legte sie auf ihr Herz, um ihre Worte zu unterstreichen.
„Schon gut, meine Kleine, ich glaube dir. Aber wie konntest du das so lange vor deiner Großmutter geheim halten? Die riecht doch jede Verschwörung zehn Meilen gegen den Wind, ganz zu schweigen von dem Pferdeduft, den du ganz sicher mit heimgebracht hast.“
Elise hob die Schultern: „Als die Großeltern von Magalis Eltern gemerkt haben, wie gut ich reiten kann, haben sie mir eine Ausrüstung besorgt und gesagt, das sei jetzt unser Geheimnis.“
Schuldbewusst hob sie den Kopf und sah ihre Mutter an: „Darum habe ich es dir auch nicht erzählt.“
„Das ist okay, Elise. Ich verstehe, warum du nicht darüber gesprochen hast. Mamie ist übervorsichtig, was dein Asthma betrifft. Sie hätte dir niemals erlaubt zu reiten.“
Liliana bemerkte, dass Thierry ihren Wortwechsel gespannt verfolgte. Sich seiner Anwesenheit deutlich bewusst, wandte sie sich ihm zu: „Nun da steht einem Reitausflug wohl nichts mehr im Wege. Was genau schwebt dir denn vor?“
Thierry lehnte sich entspannt in dem Stuhl zurück und legte den bestiefelten Knöchel des rechten Fußes leger auf sein linkes Knie. Die Ellbogen auf die Armlehnen gestützt, faltete er die Hände und tippte mit den gestreckten Zeigefingern leicht gegen seine Lippen.
„Ich habe einen alten Freund, der hier auf der Insel ein Reitgestüt besitzt. Wir könnten das ungewöhnlich warme Wetter für einen Ausritt am Meer nutzen und anschließend, bei einem Lagerfeuer, Stockbrot backen...“
„Au ja. Bitte Maman, sag ja, bitte.“ Elise legte ihrer Mutter die Ärmchen um den Hals und drückte ihr Gesicht fest an Lilianas, so dass diese deutlich die Aufregung und Freude ihres Kindes spüren konnte. Es war so einfach, diesem kleinen Mädchen ein paar glückliche Stunden zu bereiten. Sie umschlang den zarten Kinderkörper und drückte ihn fest an sich.
Über die Schulter ihrer Tochter hinweg betrachtete sie Thierry, der sie mit siegessicherem Grinsen anstrahlte.
„Das hört sich alles wirklich sehr gut an. Die Sache hat nur einen Haken...“
Thierry zog fragend die Augenbrauen in die Höhe.
„Ich kann nicht reiten. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie auf einem Pferd gesessen.“
Ein heiseres Lachen löste sich aus der Kehle des Mannes: „Das sollte unser kleinstes Problem sein. Ich bin sicher, deine Tochter und ich werden dir gute Reitlehrer sein, oder was meinst du Elise?“ Lächelnd zwinkerte er der Kleinen zu und hielt ihr die Handinnenfläche hin, in die sie sofort lachend einschlug. Liliana wurde klar, dass Elise ihr Herz unrettbar an diesen Mann verloren hatte. Mit seinem Einfühlungsvermögen und seinem Charme war es ihm im Handumdrehen gelungen, das Vertrauen ihrer Tochter zu gewinnen.
Angst beschlich Liliana. War es richtig sich auf das Abenteuer dieses Tages einzulassen, ohne zu wissen, wer genau dieser Fremde war und wo diese kaum erblühte Freundschaft hinführen würde?
Wenn Elise in zwei Wochen wiederkäme, würde sie unweigerlich nach Thierry fragen. Was wäre, wenn diese Freundschaft ein jähes Ende fände? Sie wollte ihr Kind nicht immer wieder aufs Neue enttäuschen. Elise hatte in ihrem kurzen Leben schon so viele Trennungen hinnehmen müssen, dass sie für ein Leben ausgereicht hätten.
Unwillkürlich drückte sie den zarten Kinderkörper fester an sich, so als könne sie allein durch diese Umarmung Elise vor allem Leid bewahren.
Das Mädchen schnappte nach Luft und jauchzte auf: „Maman, du zerdrückst mich!“ Sie stemmte ihre kleinen Fäuste gegen Lilianas Schultern, um ein bisschen mehr Abstand zu gewinnen. Augenblicklich lockerte die Mutter die feste Umarmung.
Anderseits wollte sie ihr diesen Tag unbeschwerten Glückes gönnen. Wer konnte schon sagen, wie die Zukunft aussah, und warum sollte ihr das Leben nicht auch einmal gutgesinnt sein und einen wahren Freund zur Seite stellen?
Liliana atmete tief und richtete sich auf, „Also gut, dann lasst uns aufbrechen. Wo genau wohnt dein Freund denn?“
„Zwischen La Cotinere und Dolus. Wir könnten das Stück zu Fuß laufen. Von hier aus sind es gut drei Kilometer.“
„Sollten wir zuvor noch den Teig für das Stockbrot zubereiten?“
Thierry schüttelte den Kopf: „Das ist nicht nötig. Der Teig muss nicht länger als eine halbe Stunde gehen. Es reicht, wenn du dich bei unserer Rückkehr darum kümmerst. In der Zwischenzeit werde ich das Feuer in Gang bringen.“
„Ich habe noch nie Stockbrot gemacht, schmeckt das gut?“ Elises grüne Augen leuchteten intensiv im Sonnenlicht. Die Aufregung des Kindes sprang regelrecht auf die Erwachsenen über.
Thierry beugte sich vor und stupste Elise leicht gegen die Nase: „Es wird das beste Brot, das du je gegessen hast, das verspreche ich dir.“
Nachdem Liliana sich überzeugt hatte, alle Zutaten für den Teig vorrätig zu haben, brachen sie schließlich auf.
Das goldene Oktobersonnenlicht bahnte sich seinen Weg durch das bunte Laubwerk der Bäume. Ließ die Welt in purpurnen Farben erstrahlen. Liliana wusste nicht, wann sie das letzte Mal der Natur mit so viel Aufmerksamkeit begegnet war. Sie lauschte dem Rauschen des Windes, der sanft durch die verbliebenen Blätter strich. Unter ihren Füßen knirschte das gefallene Blattwerk, und über ihren Köpfen erklang das wechselseitige Schreien der Möwen, die hoch am blauen Himmel ihre Kreise zogen. Tief atmete sie die klare Luft, in der schon deutlich der kalte Hauch des Herbstes lag. Woran lag es, dass sie in diesen Stunden das Leben übermäßig spürte, es durch jede Pore regelrecht aufzusaugen schien? In den vergangenen Jahren waren die Jahreszeiten an ihr vorbeigezogen, so als hätte sie diese gar nicht gelebt. Was sie spürte, war diese allumfassende Leere, die sie auszufüllen schien. Und nun plötzlich, durch die Anwesenheit dieses sonderbaren Fremden, empfand sie wieder etwas. Sie fühlte den Luftzug auf der Haut, roch die Düfte des Waldes, deren Intensität im Herbst unglaublich zunahm, nahm das sonderbare Licht wahr, welches allem einen silbrigen Glanz verlieh. Wie konnte sie all das aus ihrem Bewusstsein löschen?
Liliana wurde schlagartig klar, sie hatte nicht nur sich, sondern auch Elise das Leben mit all seinem Reichtum und Genüssen versagt.
Während sie Elise beobachtete, welche ihre Hand in Thierrys geschoben hatte, schwor sie sich, dass dieses fortan anders werden würde. Sie würde ihrem Kind die Stunden, die sie miteinander verbringen durften, von nun an unvergesslich bereiten.
Viel zu lange hatte sie in ihrer dunklen Gruft der Trauer ausgeharrt und Elise an den gemeinsamen Wochenenden in eben dieses Verlies gezogen, in dem es keine Freude, keine Menschen gab. Das Mädchen hatte allein durch ihre Anwesenheit Lilianas trübe Stimmung aufgehellt und aus den wenigen Lichtblicken in der gemeinsam verbrachten Zeit noch Freude gezogen.
Dieses alles wurde ihr nun klar, als sie die wärmende Oktobersonne auf ihrem Gesicht spürte, während sie dem leisen Stimmengewirr vor sich lauschte, in dem sich aufgeregtes Kinderlachen mit dem tiefen Bariton Thierrys mischte. Sie konnte nicht hören, worüber sie sprachen, aber allein die Freude ihres Kindes ließ ihr Herz ein paar Takte schneller schlagen.
„Maman, sieh nur, da vorne ist es.“ Elise deutete auf eine eingezäunte Weide, auf deren Gras, welches durch den Regen der vergangenen Tage zu fast ursprünglicher Farbe zurückgefunden hatte, ein paar Pferde grasten. In der Ferne erkannte man ein kleines Wohnhaus, aus dem auf der Insel üblichen Stein. Direkt daran grenzte zur rechten ein langgezogenes, hölzernes Gebäude in dem Liliana die Stallungen vermutete.
„Thierry, ist es deinem Freund überhaupt recht wenn wir hier so plötzlich einfallen?“ Zweifel überkamen Liliana.
Thierry blieb stehen und wandte sich um. Noch immer hielt er Elise an der Hand, und im Unterbewusstsein bemerkte Liliana, wie groß seine Hand im Vergleich zu der des Kindes war. Den rechten Mundwinkel hatte er hochgezogen, so dass ein leicht schiefes Lächeln über sein Gesicht zog.
„Mach dir keine Sorgen Liliana. Ich bin sicher, dass wir Henri einen Gefallen tun. Die Touristensaison ist vorbei, und die Pferde brauchen dringend ein wenig Auslauf.“
„Aber meinst du nicht, wir hätten vorher...“ Thierry ging in die Knie und legte Elise zärtlich einen Arm um die Taille: „Elise, ich glaube deine Mutter hat Angst“, sagte er ernst.
„So ein Blödsinn“, protestierte Liliana und spürte eine gewisse Beschämung.
„Ich dachte nur...ich wollte nicht aufdringlich sein.“
Thierry erhob sich und betrachtete Liliana nachdenklich: „Ich habe euch zu diesem Abenteuer eingeladen, das hätte ich ganz sicher nicht getan, wenn es Unannehmlichkeiten machen würde. Vertrau mir einfach, Liliana.“
„Komm Maman, ich kann es gar nicht abwarten, dir das Reiten beizubringen“, rief Elise lachend und zog Thierry mit sich fort.
*
Der Mann stand an den Zaun gelehnt. Ein Fuß auf die Holzstrebe gestützt, hatte er die Arme locker auf der hölzernen Einfassung abgelegt. Als er die kleine Gruppe auf sich zukommen sah, schirmte er mit einer Hand die Augen gegen das blendende Sonnenlicht ab, um genauer sehen zu können.
Selbst auf die Entfernung hin konnte Thierry den tief ergrauten Bart und das schlohweiße Haar erkennen, welches er im Nacken locker zusammengefasst hatte.
Die Jahre waren auch an ihm nicht spurlos vorüber gegangen, erkannte Thierry beim Näherkommen.
Unter den buschigen Brauen sahen noch immer zwei wache, dunkle Augen hervor, welche die tiefen Falten darum Lügen straften und nur allzu gern über das wahre Alter hinweg täuschten.
Ungläubiges Staunen wechselte zu wahrhafter Freude in dem zerknitterten, von Sonne und Wind gegerbten Gesicht, als Thierry die letzten Schritte zurücklegte.
Henri war einer seiner ältesten und treuesten Freunde. Sie kannten einander seit er sich erinnern konnte, seit seiner Geburt.
„Mein Gott, Thierry...du bist es wirklich...,“Der alte Mann legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihn auf Armesslänge entfernt. Sein Blick tastete die Gesichtszüge des Jüngeren ab, registrierten die Veränderung und die Narben, welche die Zeit ihm äußerlich wie innerlich zugefügt hatte. Einen Moment herrschte atemlose Stille, während die Freunde einander wortlos in die Arme schlossen.
Es fühlte sich so gut an, diesen alten Mann in den Armen zu halten und gleichzeitig mit erstaunlicher Kraft von ihm umfangen zu werden. Fast war es wie die Umarmung eines Vaters. Fast war es wie Heimkommen.
Als sie sich schließlich voneinander lösten, konnte Thierry Tränen auf der Iris seines Freundes schimmern sehen.
„Junge, ich wusste gar nicht, dass du zurück bist. Wann haben sie dich...“
„Vor ein paar Tagen“, fiel Thierry ihm ins Wort. Mehr als deutlich spürte er Lilianas eindringlichen Blick, wie die Szene verfolgte und jegliche Disharmonie aufzuspüren schien.
„Hat Pascal dich abgeholt?“
„Nein. Nein, ich bin mit dem Bus gekommen.“
„Aber warum, ich hätte dich...“
„Das ist eine längere Geschichte, Henri. Erzähl lieber, wie geht es dir?“
Der alte Mann zuckte kaum merklich mit den Schultern, dann legte er die rechte Hand an den linken Arm: „Das übliche, du weißt schon, kaum kommt der Winter, plagt mich wieder die Gicht. Aber ich will nicht klagen. Wen hast du mir denn da mitgebracht?“
Henri beugte leicht den ohnehin krummen Rücken und nahm das Kind in Augenschein.
Elise drückte sich ängstlich dichter an Thierry, welcher sie sanft lachend vor sich schob.
„Das ist Elise, ein bezauberndes kleines Mädchen und ein großes Reittalent. Ich dachte, jetzt wo die Feriensaison zu Ende ist, brauchen deine Tiere vielleicht ein wenig Auslauf.“
Henris dunkle Augen ruhten noch immer gütig blickend auf dem kleinen Gesicht des Mädchens. Sein Kopf wippte bedächtig vor und zurück während er nachdenklich durch seinen weißen Bart strich.
„Nun Elise, vielleicht gelingt es dir, meinem Freund hier endlich vernünftig reiten beizubringen. Im Gegensatz zu dir, fehlt ihm leider besagtes Talent, “ bei den letzten Worten sah er auf und zwinkerte Liliana fröhlich zu.
„Und wer ist diese junge Dame“, fragte er sich aufrichtend.
„Das ist Elise Mutter. Liliana... Lavie, “ nur einen winzigen Moment hatte er gezögert ihren Nachnamen auszusprechen, doch sowohl Liliana als auch Henri hatten es bemerkt.
Sein Freund zog fragend die buschigen Augenbrauen in die Höhe und betrachtete Liliana genauer: „Lavie? Sie sind nicht die Witwe von Mathieu, oder?“
Eine feine Röte stieg vom Hals aufwärts in ihre Wangen, als sie die Lieder senkte und zaghaft nickte: „Doch, genau die bin ich.“
„Nun Mädchen, das ist nichts, wofür du dich schämen müsstest. Wir alle machen Fehler.“
„Henri...“ Doch es war zu spät um die Situation zu retten.
Thierry beobachtete, wie Lilianas Kopf hoch flog. In ihren Augen brannten Tränen und auf ihren zitternden Lippen lagen vermutlich eine Reihe Flüche, die auszusprechen ihr die Höflichkeit verbot.
Doch woher sollte Henri auch wissen, dass ihr bisher niemand die Augen geöffnet hatte.
Vielleicht wollte sie auch nicht sehen, was doch mehr als offensichtlich war. Aber vielleicht lagen sie auch völlig falsch, und Mathieu war tatsächlich der liebevolle, treusorgende Ehemann und Vater gewesen, den Liliana so sehr in ihm zu sehen wünschte.
Was wusste er schon, verdammt. Er hatte seine Beziehung zu Mathieu vor langer Zeit beendet. Vielleicht hatten die Jahre ihn tatsächlich geändert, die Erlebnisse ihn geläutert und zu einem anderen, besseren Menschen gemacht.
Er wusste selbst am besten, dass es Dinge im Leben gab, die einem Menschen das Innerste nach Außen kehren konnten.
Er legte Liliana besänftigend eine Hand auf die Schulter und versuchte die geladene Luft zu entschärfen.
„Er meint es nicht so, Liliana. Henri macht gerne Späße, auch mal auf Kosten anderer, “ der alte Mann schnaufte verächtlich. Thierry warf ihm einen warnenden Blick zu, so dass er Augenblicklich verstummte. Mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen nickte er leicht.
„Thierry hat recht, Mädchen. Pardon, war nicht so gemeint und nun kommt rein. Ich setze eine Kanne Kaffee auf und dann...“
„Verzeih alter Freund, aber heute sind wir tatsächlich gekommen, um uns deine Pferde für einen Ausritt auszuleihen.“ Thierry sah die Enttäuschung in den Augen des Mannes und hob die Hand: „Doch ich verspreche dir, dass ich in den nächsten Tagen vorbeikommen werde und dann koche ich eine Paella, nach der du dich die letzten zehn Jahre gesehnt hast.“
Henri verstand. Der Zeitpunkt, im Beisein zweier praktisch fremder Menschen über die vergangenen Jahre zu sprechen, war denkbar ungünstig.
„Also gut, du weißt, wo du die Pferde findest, Junge“, mit einer vagen Handbewegung deutete der alte Mann auf die Stallungen.
„Eine Fuchsstute und ein Rappe stehen in der Box. Für Elise nehmt ihr am besten „Aimee', das Welsh Pony ist ein sehr ausgeglichenes, sanftes Tier.“ Henri deutet auf die im Sonnenlicht liegende Weide. Pferde unterschiedlichster Herkunft und Rasse tummelten sich auf der Wiese.
„Thierry, ihr kümmert euch um 'Eolienne und Tornade'. Elise, du kommst mit mir. Glaub mir, Aimee' wird dich so gleich in ihr Herz schließen...“
Im nächsten Moment hatte das Mädchen schon die Hand des alten Mannes ergriffen und marschierte mit ihm davon.
Thierry spürte Lilianas Unsicherheit. Es lag vermutlich eine Ewigkeit zurück, dass die beiden ihre Zweisamkeit durchbrochen hatten.
Behutsam umfasste er ihren Oberarm und schob sie Richtung Stall.
„Vertrau ihm Lia, “ sagte er sanft, „Ich kenne keinen, der besser mit Kindern umgehen kann als Henri.“
Ihre Augen suchten die seinen. Angst und nagender Zweifel sprachen stumm aus ihrem Blick.
„Vertrau mir, “ bat er, eindringlicher diesmal. „Hätte ich auch nur den geringsten Zweifel, ich ließe sie nicht mit ihm gehen.“
Er hielt dem Augenkontakt um ihr die nötige Sicherheit zu verleihen, die Gewissheit, dass sie loslassen konnte, loslassen durfte.
Noch einen Moment zögerte sie. Er spürte es in der Muskelspannung ihres Armes, den er noch immer umfasst hielt. Ahnte, dass sie die Luft anhielt, im Ungewissen darüber, ob es richtig war, was sie tat.
Dann nickte sie ergeben und folgte ihm in das kühle, dunkle Gebäude am Rande des Areals.