Читать книгу Stigmata - Silvia Maria de Jong - Страница 8
Eins
ОглавлениеFreiheit
Unsere Seele ist
wie ein Vogel
dem Netz des Jägers
entkommen;
das Netz ist zerrissen
und wir sind frei.
Psalm 124,7
Im letzten, rötlichen Aufflackern des Tages erreichte er den
Dünenkamm. Still verharrte er auf der Erhebung und versuchte
den widersprüchlichen Gefühlen, die in ihm tobten, nachzuspüren.
Unter seinen bloßen Füßen ahnte er noch die Wärme des Tages im feinkörnigen Sand. Er hob den Kopf und blickte in den dunkler werdenden Himmel. In der Ferne erklang Donnergrollen, Wind frischte auf und trieb erste Regenwolken voran, welche die kaum aufgegangenen Sterne verdunkelten. Unterhalb der Düne peitschte die schäumende Gischt an den weitläufigen Strand. Tosend türmten sich die Wellen zu Meter hohen Ungeheuern auf, schlugen ineinander und trieben ihr Spiel mit den wild tanzenden, fest vertäuten Bojen, die den Badegästen die nicht zu überschreitenden Grenzen markierten.
Zu dieser Stunde und bei einem aufkommenden Unwetter war der Strand menschenleer. Ohnehin war die Saison fast vorüber.
Thierry legte den Kopf in den Nacken und atmete tief, füllte seine Lungen mit der salzigen Luft bis sie bersten wollten.
Mit geschlossenen Augen sank er in die Knie, grub die Hände in den Sand und spürte den Atem des rauen Windes, der leise flüsternd seine alte, vertraute Melodie sang. Gott allein wusste wie sehr er die Weite und Einsamkeit des Ozeans vermisst hatte. Neun Jahre glichen einer Ewigkeit, einem ganzen Leben,
wenn man etwas so schmerzlich vermisste. In Gedanken war er tausendmal hierher zurückgekehrt, kannte jeden Stein, jeden Strauch, jede noch so geringe Wegbiegung. In mancher Nacht schien die Sehnsucht ihm fast den Verstand zu rauben, trieb ihn bis an die Grenzen seiner eisernen Selbstbeherrschung.
Doch jetzt, da er endlich zurückgekehrt war, wo er den Sand wahrnehmbar durch seine Finger rinnen spürte, wo er den rauen Duft des Windes vernahm, das Dröhnen der Brandung in seinen Ohren bebte, fühlte er, wie das Salz der Gischt auf seinen Lippen sich mit dem Salz seiner Tränen verband.
Lautlos durchbrachen sie das eiserne Siegel hinter dem er seine Gefühle verborgen hielt. Er war ein Sohn des Meeres. Solang er zurückdenken konnte, war er auf die See hinausgefahren, wenn die Geschehnisse der Zeit ihn bewegten, quälende Gedanken ihn heimsuchten, Fragen auf seinen Lippen brannten die niemand beantworten konnte oder Freude seine Brust sprengen wollte.
Der Atlantik rief ihn in dunklen Nächten und an stürmischen Tagen. Und er folgte diesem Ruf, diesem unwiderstehlichen Drang in seinem Herzen, der ihn hinaus auf die Wellen trieb.
Die Jahre der Dunkelheit, die wie ein Schatten auf seiner Seele ruhten und ein Teil von ihm waren, konnte er nicht ungeschehen machen. Sie waren ein fester Bestandteil seiner Persönlichkeit, eingraviert in den Geist, wie ein Tattoo in die Haut. Unauslöschlich gezeichnet für alle Zeit.
Doch er musste sein Leben leben, was auch immer in der Vergangenheit geschehen war. Er konnte es zumindest versuchen, wenn auch die Umstände dagegen sprachen. Das war er sich schuldig. Niemand hier, da war er sicher, hatte sein Gesicht und die Geschichte, die sich mit seinem Namen verband, vergessen. Sie hassten ihn und würden alles daransetzen ihm das Leben auf der Insel zur Hölle zu machen, ihn niemals vergessen lassen, warum er die vergangenen neun Jahre an jenem Ort verbracht hatte, der ihn zu dem machte, was er heute war. Ein Mensch dessen Seele tiefe, kaum vernarbte Wunden davon trug.
Er hob die Hand und hielt sie gegen das schwindende Licht. Seine Finger zitterten. Unbewusst schloss er sie zur Faust.
War er wirklich bereit diesen Menschen gegenüber zu treten? Jedem einzelnen in die Augen zu sehen, ohne den Blick schuldbewusst zu senken?
Leicht schwankend kam er auf die Beine und stieg langsam die hohe Düne herab, knöcheltief versanken die Füße im lockeren Sand.
Die Flut hatte bereits vor Stunden eingesetzt, so dass sein Weg über den ebenen Strand bis hin zur Brandung kaum hundert Meter betrug.
Aus Erfahrung wusste er, dass in weniger als einer Stunde der komplette Strand überspült sein würde. Dann hatte die Flut ihren Höhepunkt erreicht.
In dem Moment als das kühle Nass seine Zehenspitzen berührte schien ein Stromstoß durch seinen Körper, bis in die Fingerspitzen zu laufen.
Sehnsucht, so hatte er es in den letzten neun Jahren erfahren, war etwas, das den Menschen krank machte, ihn langsam von innen auffraß, bis nichts mehr blieb außer einer hohlen, leblosen Hülle.
Heimweh brachte ihn fast um. Dieses Eiland war sein Zuhause, seine Familie, solange er zurückdenken konnte.
Hier wollte er leben und wenn die Zeit gekommen war, auch eines Tages sterben.
Langsam schritt er am peitschenden Wasser entlang, die kühle prickelnde Gischt benetzte seinen Körper, durchtränkte den Saum seiner Jeans, ohne das er sich dessen wirklich bewusst wurde.
Seine Gedanken kehrten zurück in ein anderes Leben. Ein Leben, in dem er geglaubt hatte, glücklich zu sein.
Ein Leben in dem er sich nun, im Rückblick, als Fremdkörper sah.
Er hatte hinter einer Fassade gelebt und dem Treiben dort draußen zugesehen, ohne eingreifen zu können.
Oder hatte er nicht eingreifen wollen? Hatte er die Augen verschlossen, um der bitteren Wahrheit nicht ins Gesicht sehen zu müssen? Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte er die Dinge damals so gesehen wie sie waren. Vielleicht würde er auch dann bittere Erinnerungen im Herzen tragen und mit seinem Schicksal hadern... doch er wäre noch fähig zu empfinden. Wut und Trauer, Schmerz und Hoffnung...vielleicht...
Das Mondlicht, welches sich für Augenblicke einen Weg durch die dichte Wolkendecke bahnte, reflektierte etwas Schimmerndes im festen Sand. Thierry sank auf die Knie und griff eine Muschel auf.
Fast ehrfurchtsvoll befreite er die nicht mehr ganz vollkommene Schale von den feinen, glitzernden Sandkörnern und strich zärtlich über das wellige Relief.
Reine Weißtöne vermischten sich über sanftes Grau bis hin zu einem dunklen Graphit. Voller Dankbarkeit, die Natur in all ihren Farben und Düften so intensiv wie ein Kind zu erleben, schlossen seine Finger sich um die Muschel.
Mittlerweile hatte der Wind zugenommen, die ersten, schweren Regentropfen fielen auf ihn herab. Jeden Moment würde der nachtschwarze Himmel seine Schleusen öffnen und die Flut eines tobenden Spätsommergewitters, an der Küste Frankreichs bräche über ihn herein.
Nie war der Anblick des Meeres reizvoller, nie lockender, als bei einem tosenden Aufruhr der Elemente.
Thierry hob den Kopf und blickte hinaus auf das Meer. Meter hoch türmten die Wellen sich, schlugen ineinander, rissen alles mit fort, was auch immer ihnen zu trotzen versuchte.
Er erinnerte sich an eine ähnliche Nacht, vor mehr als zwölf Jahren. Damals war er weit hinaus gefahren, um seine Netze zu werfen. Der Himmel, welcher in einem Moment noch klar und wolkenlos war, hatte sich im Nu verfinstert und Augenblicke später schlug die Hölle los.
Sein kleiner Fischkutter schaukelte und tanzte einen Teufelstanz, mal oben mal unten, von allen Seiten schien das Wasser ins Innere zu drängen. Salzige, schäumende Gischt säumte über den Bug, drückte das kleine Boot schwer auf die Seite, bevor die Spitze hoch schoss und es im nächsten Augenblick fast senkrecht auf den Wellen ritt.
In jener Stunde hatte Thierry mit allem abgeschlossen. Er hatte geahnt, dass es in dieser Nacht kein Entkommen geben würde. Das Meer musste sich teilen, ihn verschlingen und in den Tiefen begraben. Und dennoch zürnte er nicht. Das Wasser in seiner Urgewalt war sein Freund, sein Zuhause.
Sein Schiff war für solchen Seegang nicht gebaut. Es war ein leichter Fischkutter, einfacher Bauweise, für seichte Gewässer, wenngleich der Name „Resistance“ auch über äußerliche Mängel hinwegtäuschen mochte.
Wenn er auch nur ansatzweise versuchte die Küste zu erreichen, würde das Boot am nächsten Wellenkamm zerschellen, dessen war er ganz sicher.
So saß er in der winzigen Kabine, betete ein Vaterunser nach dem anderen, das einzige Gebet, das er aus Kindertagen noch beherrschte, und harrte der Dinge die kommen mochten.
Ebenso plötzlich wie der Orkan aufgezogen war verschwand er auch wieder. Als Thierry in der Ferne die Lichter der Küste sah, ließ die Anspannung der letzten Stunde ihn zusammenbrechen. Er hatte still da gesessen und in die Dunkelheit gestarrt, mit dem Wissen dem Tod nur knapp entkommen zu sein.
Von jener Nacht an wusste er, dass es etwas Höheres, Allgegenwärtiges gab, das die Schicksale der Menschheit lenkte.
Er hob den Blick und starrte hinaus auf das Meer. Ein schmerzliches Sehnen zog durch seine Brust, als ihm einmal mehr bewusst wurde das man ihn zehn Jahre seines Lebens beraubt hatte.
Die besten Jahre.
Etwas dort in den weiß flutenden Wellen erweckte seine Aufmerksamkeit und riss ihn zurück in die Gegenwart. Angestrengt starrte er in die gurgelnde Schwärze, versuchte seinen Blick und seine Sinne zu schärfen.
Er schüttelte den Kopf. Nein, er musste sich täuschen, da war nichts außer dem tobenden Ozean.
Doch gerade als er sich abwenden wollte, sah er es erneut. Einen Sekundenbruchteil nur, bewegte es sich auf der Welle, ritt mit ihr, bevor sie zerschellte.
Ein Stück Holz ,vielleicht auch eine Boje, nicht mehr.
Du siehst Gespenster alter Junge, mahnte er sich, warst zu lange fort.
Und wenn dort draußen ein Mensch war, der mit seinem Leben rang, der Hilfe brauchte?
Thierry spürte die Feuchtigkeit des Atlantiks und des Regens, die ihn mit anschwellender Intensität durchnässten. Niemand wagt sich bei einem solchen Wetter in die Fluten, niemand dem sein Leben lieb und teuer ist, dachte er.
Plötzlich riss die dichte Wolkenformation sekundenlang auseinander und der Mond warf sein helles Licht auf das tobende, schäumende Gewässer und da sah er es ganz deutlich. So klar, als würde er direkt daneben stehen. Das Blut schien ihm in den Adern zu gefrieren, doch gleichzeitig schlug sein Herz einen so harten, schnellen Rhythmus, dass heftige Übelkeit in ihm aufwallte.
Dort draußen war ein Mensch, dessen Kopf wie ein Softball von einer Welle zur nächsten geschleudert wurde. Wie riesige, gefräßige Ungeheuer schlugen sie ineinander, schienen alles zu verschlucken, was sich ihnen in den Weg stellte.
Eine Sekunde nur, zögerte er. Eine Sekunde, in der seine Augen hilfesuchend den Strand hinauf wanderten, sein Verstand ihm signalisierte, dass die tobende, dunkle Masse dort draußen tödlich sein konnte und eine Stimme in ihm ihn doch geradewegs in die Brandung trieb.
Mit einer einzigen Bewegung riss er sich das Hemd vom Körper und stürzte Kopfüber in die Fluten. Unermüdlich kämpfte er gegen das tosende Donnern um sich herum. War einen Moment noch über Wasser während im Nächsten der Sog ihn in die Tiefe zog.
Gott, was hatte er sich gedacht. Er war nicht mehr der kraftvolle, junge Schwimmer, der jedem Wetter trotzte, stark durch das tägliche Training. Die Zeit hatte ihn altern lassen, die Jahre ihn seiner Kräfte beraubt.
Er kämpfte gegen unsichtbare Mächte, die ihn zu umfangen schienen, ihn hinab zogen in die Dunkelheit, in den sicheren Tod. Er strampelte, trat sich mit wilden Beinbewegungen hinauf an die Oberfläche. Als er den peitschenden Meeresspiegel durchbrach, rang er nach Luft. Füllte seine berstenden, schmerzenden Lungen mit dem Leben bringenden Sauerstoff.
Er verharrte, ließ sich einen Moment vom Wasser treiben, bis sein Körper neue Kraft gewann, dann sah er sich verzweifelt um. Wo war er? Wo war der andere?
Thierry spürte, dass er ihm nah war, dass er vielleicht nur noch die Hand ausstrecken brauchte. Jahrzehntelange Erfahrung mit dem Atlantik hatte ihn gelehrt, seinem Instinkt zu vertrauen...doch er konnte weder hören noch sehen, in dem seufzenden, jaulenden Wasser, das ihn umgab.
Die Nacht war undurchdringlich schwarz, nur durch schäumend weiße Gischt erhellt, die sich wie Geister vor seinen Augen erhob, ihn mit sich riss, wieder in die Tiefe zog und im nächsten Moment hoch warf, als sei er nichts weiter als eine Stoffpuppe.
Es war sinnlos, waghalsig. Er spürte die Kälte die seinen Körper langsam lähmte, die schwindenden Kräfte. Wenn er nicht augenblicklich versuchte den Strand anzusteuern würde er verloren sein.
Noch einmal sah er sich suchend um und sah die Welle, fünf, vielleicht sechs Meter hoch, welche sich drohend hinter ihm auftürmte und mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zukam.
Grundgütiger, er hatte schon zu viel Energie verloren. Sie würde ihn vernichten, würde ihn in den sicheren Tod reißen. Doch ein Blick zum Ufer zeigte ihm, dass es unmöglich war dorthin zu gelangen. Schon spürte er die Strömung, die ihn dichter an das Ungetüm heranzog.
Als die Welle auf ihn stürzte schloss er die Augen, der Dinge harrend die ihn erwarten würden.
Etwas prallte mit so immenser Kraft gegen ihn, dass es Thierry den Atem raubte und er sich Halt suchend daran festklammerte. Er ließ auch nicht los, als der Sog der Welle ihn hinab in die Dunkelheit zog.
Über ihm, um ihn herum, nichts als gurgelndes, säuselndes Wasser. Seine Gliedmaßen schienen gefühllos, auf Grund der durchdringenden Kälte und der Krämpfe, die ihn nur einige Augenblicke zuvor noch quälten. Er hatte das Gefühl, als schwebe sein Kopf in einem Vakuum, einem luftleeren Raum, der sich unendlich schnell im Universum bewegte.
Thierry spürte das seine steifen Finger sich zu lösen begannen von jenem Anker an dem er so krampfhaft festhielt.
Nein, es durfte nicht sein, nicht jetzt, noch nicht.
Nicht aufgeben, du darfst jetzt nicht aufgeben. Neun Jahre hast du gegen unsichtbare Geister gekämpft, da muss es doch ein Kinderspiel für dich sein, dich den sichtbaren zu stellen.
Mit letzten Kraftreserven sank er in die Knie, stieß sich von dem sandigen, weichen Meeresboden ab und strebte, unendlich langsam wie ihm schien, der Oberfläche zu.
Als er die Wassergrenze durchbrach, spürte er, wie das entweichende Leben in seinen Körper zurück glitt.
Gleichsam mit der zerschellenden Flutwelle schien auch das Unwetter abzuebben. Zum ersten Mal warf er einen Blick auf den Gegenstand, den das gurgelnde Wasser ihm in die Arme getrieben hatte.
Erstaunen machte sich breit, als er die Biegsamkeit der Materie spürte. Ein Mensch.
Er hielt einen Menschen in den Armen, eingehüllt in schwere Kleider, die ihn unweigerlich, auch bei ruhigerem Seegang, in die Tiefe ziehen mussten. Der leblose Körper, den er fest umschlungen hielt, fühlte sich steif und eiskalt in seinen Armen an. Er musste ihn an Land bringen und beatmen, solange noch die Chance auf Leben bestand.
Doch es fiel ihm schon schwer sich allein fortzubewegen, wie sollte es da gelingen, für zwei zu sorgen?
Du schaffst es, du musst. Er schob dem anderen beide Arme um den Leib und zog ihn auf sich, während er halb auf dem Rücken schwimmend versuchte den Strand anzustreben.
Zeitweise, wenn er glaubte das Brennen in seinen Lungen nicht länger ertragen zu können, wenn seine Last, die kaum Gewicht trug, ihn nieder zu drücken drohte, ließ er sich von den Wellen, die an Kraft verloren hatten treiben. Dann setzte er wieder seine Beine ein, trat und schob, spürte, dass seine Reserven sich dem Ende neigten und kämpfte doch wie ein Besessener.
Aus den Tiefen des Ozeans erklang ein fernes Grollen, welches sich in ein klagendes Stöhnen steigerte und das er doch nicht als Ausmaß seiner eigenen Qual erkannte.
Und dann spürte er plötzlich den schwammig, sandigen Untergrund, der deutlich das Ufer ankündigte.
Mühsam stemmte er die Beine auf den Grund, griff seiner kostbaren Fracht unter die Arme und zog und zerrte sie mühevoll aus der salzigen Gischt, soweit, bis er den feineren, vom Regen feuchten Sand erreichte, der jedoch vom Meer unberührt blieb.
Seine Hände waren so starr, dass es ihm kaum gelang die oberen Knöpfe des Mantels zu öffnen. Als der schwere Stoff vorn auseinander fiel, glaubte er in der fast schwarzen Dunkelheit die Statur eines Kindes zu erkennen. Mit zitternden Fingern versuchte er den Puls an der Hauptschlagader des schlanken Halses zu ertasten...doch da war nichts.
Ohne zu zögern begann er mit der Wiederbelebung.
Den Hals seines Gegenüber leicht überstreckt holte er tief Atem, verschloss die Nase des vor ihm liegenden, leblosen Körpers und presste seine Lippen auf den geöffneten Mund.
Nach zwei Atemstößen begann er mit der Herzmassage. Seine Hände waren eiskalt, fast taub und vermochten kaum seinem Willen zu gehorchen, dennoch rang er um Beherrschung, wenngleich sein ganzer Körper nach einer Pause verlangte.
Thierry ertastete die untere Hälfte des Brustbeins, spürte eine leichte Erhebung und stellte erstaunt fest, dass er eine junge Frau aus den Fängen des Meeres gerettet hatte. Die Handwurzeln übereinander gelegt, begann er mit kräftigen Stößen. Er spürte wie das Brustbein nachgab und gegen die Wirbelsäule stieß.
...dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig,... er lauschte, starrte auf den Brustkorb ...nichts geschah. Wieder tastete er nach dem Puls, doch er spürte nichts als kühle, feuchte Haut.
Erneut beatmete er, setzte die Herzmassage...zehn, elf, zwölf...
„Atme verdammt. Atme endlich..., “ der Verzweiflung nah schrie er die Worte heraus, immer kraftvoller wurde die Massage bis er das Beben spürte, welches durch ihren Körper lief.
Sekunden später begann sie zu würgen, zu husten und zu spucken.
Thierry fasste sie bei den Schultern und drehte sie auf die Seite. Ein Schwall salzigen Wassers ergoss sich in den vom Regen feuchten Sand.
„So ist‘s gut, ja.“ Zaghaft strich er ihr, in einer impulsiven Geste über das nasse, kurz geschnittene Haar, in dem Versuch ihr Zittern und das heftige Schluchzen zu mildern.
„Du hast es geschafft, du lebst. Alles wird gut werden.“
Ganz langsam spürte Thierry wie die Anspannung nachließ und eine bleierne Ruhe von seinem Körper Besitz ergriff. Seine Glieder waren so schwer, dass er befürchtete keinen Fuß vor den anderen setzen zu können. Es war, als habe ihm jemand den Willen ausgehaucht und nur noch seinen reglosen Körper zurückgelassen.
Nur fünf Minuten so verharren, den Kopf auf dem weichen Untergrund gebettet...zu Kräften kommen...
Der verbliebene Wind strich über seinen feuchten Körper hinweg und ließ ihn frösteln.
Sie sollten schnellstmöglich ins Trockene.
Er warf einen Blick auf die junge Frau die, ihm abgewandt, noch immer rasselndem Atems, dalag. Er konnte ihr Schluchzen nicht länger vernehmen, aber am Zucken der Schultern ahnte er, dass sie weinte.
Vorsichtig, damit sie nicht erschrak, berührte er ihre Schulter.
„Es ist kalt und wir sind beide völlig unterkühlt. Wir sollten gehen, bevor der Regen erneut einsetzt.“
Sie sagte nichts, sah ihn auch nicht an, sondern verharrte reglos in ihrer Position.
Vermutlich war sie zu schwach um zu laufen, doch er konnte sie unmöglich tragen, dafür hatte er sich zu sehr verausgabt.
Mit vor Erschöpfung zittrigen Händen wischte er sich das Wasser vom Gesicht und sah sich suchend nach seinem Hemd um, welches er sich in der Eile vom Leib gerissen hatte. Die Schuhe lagen irgendwo auf dem Dünenkamm. Die Flut hatte nun fast den Höchststand erreicht und somit den Strand fast vollständig überspült. Vermutlich war es der schäumenden Gischt zum Opfer gefallen.
Thierry rutschte auf Knien um die reglose Gestalt herum, so dass er ihrem Gesicht zugewandt war.
„Wenn Sie sich auf mich stützen werden wir den Weg die Düne hinauf schaffen. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“ Seine Stimme klang sanft und doch eindringlich, so als spräche er zu einem Kind.
„Gehen Sie... lassen ...lassen Sie mich hier zurück... aber gehen Sie...“
Thierry hatte Mühe die von Schluchzern und heftigen Hustenanfällen durchsetzen Worte zu verstehen. Ihr ganzer Körper begann vor Erschöpfung und Kälte zu zittern.
„Ich werde Sie hier auf gar keinen Fall allein lassen...“
„Gehen Sie...lassen Sie mich sterben...“ Mit heiserer Stimme schrie sie diese Worte fast heraus, begleitet von einem klagenden Laut, der ihm eine zusätzliche Gänsehaut verschaffte, „ ...lassen Sie mich sterben.“ Flüsternd und kraftlos kamen die Worte nun über ihre Lippen.
Sekundenlang war er zu gelähmt um etwas zu sagen, zu gelähmt, um überhaupt zu reagieren. Er starrte auf die schattenhafte Gestalt, die im blassen Mondlicht zusammen gekrümmt vor ihm lag und sich leise weinend wiegte.
Er berührte zaghaft ihren Arm: „Sie haben einen Schock, das ist völlig normal nach dem was Sie erlebt haben, aber wir sollten wirklich...“
„Bitte..., gehen Sie...“
Mit festem Griff umfasste er ihren Arm und zog sie hoch. Das Gesicht dem ihren sehr nah sagte er bestimmt: „Hören Sie zu, ich habe ganz sicher nicht mein Leben dort draußen riskiert und Sie aus den Fluten gerettet, um Sie hier sterben zu lassen.“
In der Dunkelheit, die sie umgab konnte er das Entsetzen auf ihrem Gesicht eher spüren als sehen und dennoch ließ sie es zu das er ihr auf die Beine half.
Sie konnte kaum mehr als neunzig Pfund wiegen, doch er hatte das Gefühl jeden Moment unter ihrer Last zusammenzubrechen. Ihren rechten Arm legte er um seine Schulter während er mit seinem linken ihre Taille umfasste, um sie zu stützen.
Mühsam und quälend war der Weg über die beschwerliche Düne. Immer wieder stolperten sie, fielen in den regenfeuchten Sand und rappelten sich nur unter Aufbietung aller Kräfte wieder auf. Zeitweise dachte Thierry, es sei einfacher sich allein auf dem Weg zu machen und Hilfe zu holen. Doch wer würde ihm schon Hilfe gewähren, an welche Türe konnte er klopfen, ohne dass man ihm die selbige, noch bevor er überhaupt seine Bitte vorbringen konnte, wieder zuschlug. Und dann in diesem Aufzug. Barfuß, mit nacktem Oberkörper und nur einer tropfnassen, sandverklebten Jeans an den Beinen.
Und nicht zuletzt war da dieses Mädchen. Wenn sie noch Herr ihrer Sinne war, und sie wirklich nur den einen Wunsch hatte zu sterben, dann war es einfach zu gefährlich sie allein zu lassen. Er konnte dieses Risiko nicht eingehen.
„Wo wohnen Sie? Hier in der Nähe? Sind Ihre Eltern zu Hause oder jemand der auf sie wartet?“
Kaum spürbar schüttelte sie den Kopf. „Niemand...wartet auf mich:“
Da klang keine Bitterkeit in ihren Worten, nur tiefe Resignation, die davon zeugte, dass sie mit allem Weltlichen abgeschlossen hatte.
Thierry blieb stehen. Sie hatten den Fuß der Düne erreicht und sein Herz raste vor Anstrengung so sehr, dass er glaubte es wolle ihm jeden Moment aus der Kehle springen. Sein Atem kam in heftigen Stößen über seine Lippen als er sie bei den Schultern ergriff und zu sich drehte.
„Sag...sagen Sie mir wohin ich Sie...bringen kann.“
Der kaum vorhandene Mond beleuchtete nur schwach ihr Gesicht, doch in der Dunkelheit vermutete er, dass sie kaum älter als zwanzig war. Er spürte einen Stich im Herzen, so jung und schon so verzweifelt, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen wollte, bevor es überhaupt begann.
„Warum... tun Sie das? Warum lassen Sie mich nicht einfach...hier zurück und gehen?“
Er legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und fuhr sich mit einer Hand durch das nasse Haar. Eine Klammer legte sich um seine Brust, zog sich hinauf zu seiner Kehle und machte eine Antwort fast unmöglich, dennoch flüsterte er: „Weil ich den Abgrund an dem Sie stehen, nur allzu gut kenne.“
Er war sich des tiefen Schmerzes und der Qual, die in seiner Stimme lagen nicht bewusst doch etwas, das bisher in Fesseln gelegen hatte, löste sich in dem Mädchen.
Plötzlich schien sie stärker und kräftiger als er selbst zu sein.
Sie ergriff seine Hand, führte ihn durch die nächtliche Dünenlandschaft bis hin zu einem nahe gelegenen Haus.
Mit letzter Kraft stiegen sie die drei hölzernen Stufen der schmalen Veranda hinauf, welche das Gebäude umgab. Die Tür war nur angelehnt. Thierry gab ihr einen leichten Stoß, so dass sie sich unter Stöhnen öffnete. Sanft fallendes Mondlicht, welches sich gerade in diesem Moment einen Weg durch die dichte Wolkendecke bahnte, beschien die ebene Wohnfläche. Er trat einen Schritt zur Seite, um ihr den Vortritt zu lassen, spürte jedoch ihr Zögern, so als gäbe es dort eine unüberwindbare Barriere, eine Grenze , die zu überschreiten sie vernichten würde.
Er legte den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Er war hungrig, müde und bewegte sich am Rande der Erschöpfung. In seinem Kopf begann ein bohrender Schmerz zu pochen und er fror bis ins Mark.
Thierry trat einen Schritt vor, über die Schwelle und tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Einen Augenblick später erstrahlte der Raum im gleißenden Licht einer Glühbirne, deren Halterung in einer alten Öllampe montiert war, welche im Luftzug leicht hin und her schwenkte.
Thierry schloss einen Moment geblendet die schmerzenden Augen.
Schließlich blickte er sich vage um. Sein Blick erfasste als erstes den schweren Holztisch, der von vier verschiedenen Stühlen flankiert, den Mittelpunkt des Wohnbereichs bildete. Zur linken befand sich eine Kochnische, zur rechten ein alter karminroter Chaiselongue, durch dessen Bezug sich deutlich die Federn zeichneten.
Doch am auffälligsten waren die Vasen, Schalen und Töpfe. Sie standen überall, in jeder Form und Farbe, bemalt mit Meereslandschaften, die er selbst auf den kurzen Blick hin, als sehr kunstvoll empfand. Auf dem Fenstersims, den abgestoßenen Wohnzimmertisch, auf dem offenen Kamin oder in Regalen, welche die Wände zierten.
Er wandte sich um und betrachtete die Frau, die noch immer, tropfnass im Türrahmen stand, genauer.
Ihr dunkles Haar war fast streichholzkurz zu einer knabenhaften Frisur geschoren. Der schwere Mantel war voller körnigem Sand und schien ihren schmalen Körper fast zu erdrücken. Doch am auffälligsten waren Ihre grünen Augen. Von einem dichten Wimpernkranz umgeben, blickten sie ihn mit einer so tiefen Traurigkeit an, dass er erschauerte.
Thierry trat auf den Kamin zu und begann, das in einem Korb liegende Holz auf der Feuerstelle zu stapeln.
Mit vor Kälte zitternden Händen stopfte er Zeitungspapier zwischen die Holzscheite und entzündete ein Streichholz.
Als die Flammen schließlich über die Scheite leckten erhob er sich.
Mit einer Handbewegung deutete er auf ihre nasse Kleidung:
„Sie sollten das ausziehen.“
Sie sah an sich hinunter, so als würde ihr erst jetzt bewusst, dass sie einen noch immer tropfenden Mantel trug, welcher bereits Wasserlachen auf den ausgebleichten, unebenen Holzdielen hinterließ.
Schweigend trat sie auf eine Tür zu, die vom eigentlichen Wohnraum abführte und öffnete sie.
Als sie das Licht in dem angrenzenden Raum anknipste, erkannte Thierry ein spärlich eingerichtetes Schlafzimmer.
Sie öffnete den Kleiderschrank, griff Jeans und ein blau kariertes Hemd heraus und übergab ihm dieses wortlos. Sofort erkannte er, dass es sich um Herrenkleider handelte .Dann schloss sie die Tür hinter sich.
Thierry spürte eine leichte Unruhe, es war nicht gut sie jetzt alleine in diesem Raum zurück zulassen. Gerade noch hatte sie versucht ihrem Leben ein Ende zu setzten, was also wenn sie ihr Vorhaben nun fortsetzte?
Entschlossen drückte er die Klinke hinunter.
„Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass die Tür geschlossen bleibt…“
Sie hatte den Mantel bereits abgestreift: „Keine Sorge…ich werde schon nichts anrichten…“Ein müdes Lächeln glitt über ihre Züge: „Aber wenn Sie wollen, lasse ich die Tür offen.“
Thierry nickte knapp und entledigte sich dann selbst seiner nassen Jeans.
Die Hose, die sie ihm gegeben hatte, war zwar ein wenig weit, passte jedoch im Groben. Mit noch immer vor Schwäche zitternden Fingern knöpfte er schließlich das Hemd zu.
Sie lebte hier also nicht allein. Die Kleidung, die er nun trug, ließ ihn darauf schließen. Irgendjemand hätte sie früher oder später vermisst.
Thierry sah sich um. Das, was sie jetzt brauchten, war ein Cognac, der sie von Innen wärmte und die aufgewühlten Nerven zur Ruhe brachte, vielleicht auch den Schmerz hinter seiner Stirn betäuben würde. Doch weder in dem Schrank unter der Spüle, noch in den beiden Hängeschränken über dem Herd konnte er etwas Brauchbares finden.
„Was suchen sie?“ Ihre Stimme klang zaghaft, fast ein wenig verängstigt und er rief sich in Erinnerung, dass sie sich völlig fremd waren. Sie hatte keine Ahnung, wen sie da in ihr Haus geholt hatte, und somit war ihr Misstrauen gerechtfertigt.
Thierry wandte sich um und sah sie an. Die nasse Kleidung hatte sie gegen eine dunkle Freizeithose und einem blauen T-Shirt getauscht. Jetzt, da das grelle Licht ihr Gesicht beschien, erkannte er die feinen Linien um Augen und Mund, die darauf hinwiesen, dass sie doch älter sein musste als er anfangs vermutet hatte.
„Ich suche nach etwas Trinkbarem.“
„Wasser und Cola steht im Kühlschrank. Kaffee und Tee finden sie in den Dosen dort drüben“, Sie deutet auf ein Regal über dem Spültisch.
„Ich hatte eher an etwas Stärkeres gedacht, etwas das unsere Lebensgeister wieder weckt, vielleicht einen Cognac oder ähnliches…“
„So etwas hab ich nicht, tut mir Leid.“ Mit einem Seufzen sank sie auf den Chaiselongue, zog die Knie unter das Kinn und umschlang die Beine mit beiden Armen.
„Na gut, dann mach ich uns eben einen starken Kaffee.“ Erneut suchte er in Schubladen und Schränken, fand Kessel, Filter und Kanne.
Während er damit beschäftigt war den Kaffee zu bereiten, fragte er sich wie er nun weiter vorgehen sollte. Er hatte die Frau aus den Fluten gerettet, ja. Aber des Weiteren ging ihr Leben ihn nichts an. Nichts lag ihm ferner als in irgendwelche problematischen Lebensumstände hineingezogen zu werden. Gott bewahre, er hatte genug mit sich selbst zu tun. Am besten würde sein, den Kaffee zu trinken und sich dann auf den Weg zu machen.
Andererseits konnte er sie unmöglich sich selbst überlassen. Sie hatte gerade einen Suizidversuch hinter sich. Aus Erfahrung wusste er, dass es kaum bei dem einen Mal blieb. Wenn jemand den absoluten Wunsch hegte sein Leben zu beenden, würde er dieses auch ein zweites Mal versuchen.
Er füllte die schwarze, dampfende Flüssigkeit in zwei Becher und reichte ihr einen davon.
„Danke,“ sagte sie leise und umschloss mit beiden Händen die Tasse um sich daran zu wärmen. Thierry zog sich einen Stuhl heran und ließ sich müde darauf nieder.
„Ist ihre Familie nicht da?“
„Ich habe keine Familie.“ Ihre Stimme klang emotionslos.
Er zupfte an dem Hemd, das er trug: „Aber die Kleidung…“
„Ist von meinem verstorbenen Mann. Ich wohne alleine hier.“ Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: „Ich bin Liliana und wer sind Sie?“
„Thierry.“ Er nippte nachdenklich an seinem Kaffee, spürte wie die heiße, bittere Flüssigkeit seinen müden Geist belebte.
„Liliana. Ein ungewöhnlicher Name. Sie sind keine Französin, oder?“
Sie schüttelte leicht den Kopf: „Nein, ich komme aus Deutschland. Mit achtzehn Jahren kam ich als Au-Pair hier her und bin geblieben.“
„Sie sprechen sehr gutes Französisch, man hört praktisch keinen Akzent.“ Doch auch sein Kompliment konnte ihr kein Lächeln entlocken.
Einige Sekunden haderte er mit sich. Wie weit konnte er gehen? Stand es ihm zu, nach dem Wie und Warum zu fragen? Andererseits musste er wissen, ob er sie in dieser Nacht allein lassen konnte.
„Warum Liliana, warum haben Sie das getan? Gibt es nicht immer einen Ausweg?“
„Nicht immer,“ sagte sie leise und ihre Augen füllten sich mit Tränen, „Das war keine leichtfertige Entscheidung…Ich…Es gibt keine realistische Lösung meiner Probleme. Ich habe Abschied genommen. Von allem…Und ich weiß nicht, ob ich das ein zweites Mal schaffe…“
Sie sprach mehr zu sich selbst, dennoch zuckte Thierry bei ihren Worten zusammen. Für sie war dieses Thema mit dem missglückten Versuch noch nicht erledigt.
„Wissen Sie, nichts ist so wertvoll wie das Leben. Es steht uns nicht zu, es mit einer einzigen Handbewegung hinweg zu wischen. Vielleicht sollten Sie den Umstand, dass ich Sie heute vor dem sicheren Tod bewahrt habe, als Geschenk sehen und einen Neuanfang wagen.“
Diese Worte auszusprechen, über das Leben und den Tod zu sinnieren, bereiteten ihm Unbehagen und er wandte verlegen den Blick ab um dem ihren auszuweichen.
„Was wissen Sie schon?“ Ihre Stimme war schwer vor Resignation.
„Mein Leben ist sinnlos. Alles, wofür es sich zu Leben lohnt, habe ich verloren...alles.“
Ein Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle und erfüllte für Sekunden die Räumlichkeit, jagte ihm eine Gänsehaut über den Körper.
Er hob den Kopf und sah die Tränen auf ihren Wangen.
Gut, solange sie noch fähig war Emotionen zu zeigen, war ihre Seele noch lebendig. Sie mochte gebrochen sein, aber sie war nicht tot.
„Ich weiß sehr viel mehr als du ahnst...“ Für einen Moment war sein eigenes Leid so präsent, dass er sich unterbrach, wartete bis der Gefühlssturm in seinem Innern zur Ruhe kam.
„ Natürlich kenne ich deine Geschichte nicht...Aber meine eigene hat mich oft genug an den Rand des Wahns getrieben. Diese Klippe, auf der du dich befindest, kenne ich selber nur allzu gut. Doch es gehört viel mehr Mut dazu, hinabzusteigen als zu springen. Manche Wege mögen ungangbar scheinen, doch irgendwo im Dickicht gibt es immer eine Lücke, und mag sie noch so klein sein.“
Neugierig hob die junge Frau den Kopf und betrachtete ihn. Er konnte die einzelnen Tränen in ihren dunklen Wimpern schimmern sehen und beneidete sie darum. Nur selten hatte er geweint, hatte die Erleichterung gespürt, wenn die Anspannung nachließ und Tränen sich ihren Weg aus den fest verriegelten Toren der Selbstbeherrschung bahnten. Neun Jahre hatte er es nur hin und wieder, in den dunklen Stunden einsamer Nächte gewagt sich dieser „Schwäche“ hinzugeben.
„Bist du neu auf der Insel? Ich… ich habe dich noch nie hier gesehen.“ Die Frau, die sich Liliana nannte, wischte sich mit einer müden Handbewegung die Tränen vom Gesicht, bevor sie an dem mittlerweile fast kalten Kaffee nippte.
Thierry tat es ihr gleich, ehe er antwortete: „So kann man das nicht sagen. Ich war lange Jahre fort.“ Sie nickte leicht und er vermutete, dass sie sich mit dieser Erklärung zufrieden gab.
„Hast du Familie hier?“
„Nein... nicht mehr, “ sein Zögern hatte nicht länger als eine Sekunde angehalten, dennoch konnte er deutlich erkennen, dass es ihr nicht entgangen war. Ihre grünen Augen musterten ihn mit einer Intensität, derer sie sich vermutlich nicht einmal bewusst war und die ihm eine unangenehme Hitze durch den Körper jagte.
„Mein Bruder ist schon vor Jahren fortgezogen, er lebt in Quiberon, auf der Halbinsel Quiberon, im Süden der Bretagne, meine Vorfahren kommen von dort.“
Selbst in seinen eigenen Ohren, klang das nach einer lahmen Erklärung. Doch er war nicht bereit, hier und jetzt seine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die sie vermutlich unlängst kannte, nur nicht mit seinem Gesicht in Verbindung brachte.
Thierry empfand einen galleartigen Geschmack, der sich in seinem Mund ausbreitete. Er wollte jetzt nicht daran denken...nicht heute.
Mit einem leisen Geräusch stellte er den Kaffeebecher auf den Esstisch und erhob sich.
Durch ein Fenster direkt über der Küchenspüle fiel sanftes Mondlicht. Thierry stützte sich auf die Arbeitsplatte, beugte sich vor und warf einen Blick hinaus. Er sah, dass die Wolkendecke aufgerissen war und erste Sterne am Himmel aufgingen. Das Unwetter war weiter die Küste hinauf gezogen.
Er sehnte sich danach an den Strand zurückzukehren, um in den frühen Morgenstunden die ersten Fischerboote zu beobachten, die sich aufmachten ihre Netze auszuwerfen, mit der Hoffnung, reich beschenkt zurückzukehren. Ein Wunsch, der ihm in all den Jahren, die er hinaus gefahren war, gewährt wurde. Er kannte die Fischgründe mit den reichsten Erträgen und dem besten Fisch. Ein Geheimnis, das er bewahrt hatte und welches ihm in den Jahren seiner Fischereitätigkeit den besten Ruf auf der Insel einbrachte. Bis zu jenem Tag... jenem Tag, der sein Dasein grundlegend veränderte. Nachdem nichts blieb bis auf die Asche dessen, was einmal sein Leben gewesen war.
Ein schmerzliches Ziehen in seiner Brust brachte ihn zurück in die Gegenwart. Zurück in das Strandhaus mit seinen ausgebleichten Dielen, den von Wind und Feuchtigkeit verzogenen Türen und Fensterläden, die im verbliebenen Luftstrom leicht in den Angeln knarrten. Zurück zu Liliana, jener Frau, die noch vor einer Stunde dem Tod ins Auge gesehen hatte, fest entschlossen, ihr Leben in dieser Nacht zu beenden.
Er richtete sich auf und wandte sich um.
Zusammengeschnürt wie ein Paket lag sie auf der Recamiere. Die Beine fest angezogen, so als Suche sie Halt in sich selbst, als hätte sie Angst, der nächste Windstoß könne sie fortreißen.
Er trat zu ihr und sank in die Knie. Gleichmäßig und leicht strömte der Atem über ihre Lippen. Die salzigen Spuren der Tränen auf ihren Wangen waren noch nicht ganz getrocknet und obwohl sie schlief, lagen Schmerz und Verzweiflung in ihren Zügen, als Mahnmal der Wunden, die das Leben ihr zugefügt hatte.
Er griff nach der Patchwork-Steppdecke, die fein säuberlich zusammengelegt am Fußende des Möbels lag, und breitete sie behutsam über die schlafende Frau.
Sie regte sich nicht. Vielleicht war es gut, dass die Erschöpfung ihren Tribut forderte. Vielleicht konnte sie morgen ihre in Trümmern liegende Welt in einem neuen, hoffnungsvolleren Licht sehen. Vielleicht.
Es gab keine Garantie dafür, dass sie den Selbstmordversuch nicht wiederholte. Sollte dieses der Fall sein, war es wichtig, dass jemand da war, der sie von ihrem verzweifelten Vorhaben abbrachte.
Er konnte sie in dieser Nacht nicht allein lassen. Und was trieb ihn auch an?
Ein einsames, kaltes Haus, das nichts als böse Erinnerungen barg und das ihn doch zu rufen schien. Nachdem er sich trotz des vergangenen Leides sehnte.
Niemand wartete auf ihn, dort. Pascal würde erst am Vormittag des nächsten Tages eintreffen. Er würde ihn nicht vermissen. Da konnte er ebenso gut die Nacht hier bei der Fremden verbringen.
Er hob die Hand und strich ihr behutsam über das Gesicht. Für einen winzigen Moment glätteten sich die Falten um Augen und Mund unter der Berührung, bevor ein leises Schluchzen aus ihrer Kehle aufstieg und ein Schauer den zarten Körper schüttelte.
Während er sich erhob, wickelte er sie fester in die Decke ein. Dann schürte er mit dem Haken das Feuer und warf einige trockene Holzscheite nach, die gestapelt in einem Flechtkorb neben dem Kamin bereit lagen, um die Flammen in Gang zu halten.
Minutenlang starrte er versonnen in das flackernde Licht. Bilder blitzten vor seinem geistigen Auge auf. In schneller Folge wechselten sie von Kindheit zu Jugend. Erinnerungen an ein Leben, in dem er nicht länger verweilen konnte. Und doch hatte er nie mehr verlangt. Das Leben, das er geführt hatte, war die Erfüllung all dessen gewesen, was er sich je erhofft, je gewünscht hatte.
Immer wieder hatte Pascal in den letzten Wochen versucht ihn umzustimmen. Unmissverständlich hatte er Thierry klar gemacht, dass diese Insel für ihn nicht länger die Heimat bot, die er immer in ihr gesehen hatte. Der sichere Hafen, der Zufluchtsort war Zweifeln und Anschuldigungen gewichen und hatte sich mittlerweile zum Feindessland entwickelt.
Trotzdem hatte er nicht eine einzige Sekunde daran gedacht, nicht zurückzukehren.
Diese Insel hatte sein Herz gefangenen genommen, vom ersten Moment an, da es schlug.
Hier lagen seine Eltern begraben und hier wollte auch er eines Tages sterben. Es war ihm gleichgültig, was die Menschen über ihn dachten. Dass sie ihn verurteilten, ohne ihm auch nur die Chance zu geben, seine Version der Geschichte zu berichten.
Er liebte das Meer, und wer ihm das Meer nahm, der nahm ihm alles.
Pascal hatte bei seinen Ausführungen natürlich argumentiert, dass die Wellen nicht nur auf der Ile d' Oleron an den Strand rollten, sondern an der gesamten Küste der Nation. Doch das hatte Thierry nicht umstimmen können. Dieses Eiland nahm ihn in seinen Bann, hielt ihn gefangen und fragte nicht nach dem, was möglicherweise besser für ihn gewesen wäre.
Er erhob sich mühsam. Jeder Knochen in seinem Körper schmerzte, erinnerte ihn ungnädig daran, dass er nicht mehr jener kraftstrotzende, junge Mann war, der spielend jegliches Hindernis überwand.
In der vergangenen Nacht hatte er kaum Schlaf gefunden und der Tag schien kein Ende zu nehmen.
Bleierne Müdigkeit senkte sich auf ihn hinab. Er entzündete ein Licht, welches auf einem Beistelltisch stand und die Räumlichkeit mit sanftem Schein erfüllen würde, bevor er die Deckenleuchte löschte und auf dem Sessel neben dem Chaiselongue sank.
Eine Nacht Aufschub war vielleicht nicht das schlechteste, bevor er sich seinem neuen Leben stellen musste, mit all den Fallstricken und Geistern der Vergangenheit, die es für ihn bereithielt. Dieser Gedanke ging ihm durch den Kopf, bevor seine Sinne entschwanden und er in einen traumlosen Schlaf fiel.