Читать книгу Stigmata - Silvia Maria de Jong - Страница 9
Zwei
ОглавлениеErkenntnis
Und plötzlich weißt du:
Es ist Zeit, etwas Neues
zu beginnen und
dem Zauber des Anfangs
zu vertrauen.
Meister Eckhart
Die Sonne sandte ihre ersten roten Strahlen durch die nach Osten ausgerichteten Fenster, malte mit farbigen Fingern Kreise auf Wände und Schränke und tanzte im bunten Reigen über den von der Zeit ausgeblichenen Fußboden.
Liliana lag ganz still, wagte es kaum zu atmen. Ihr Körper fühlte sich wund und erschöpft an.
Erinnerungen an die vergangene Nacht rollten in einer dunklen Welle über sie hinweg. Sie schloss gequält die Augen und krümmte sich noch ein wenig mehr zusammen.
Wie konnte sie einen weiteren Tag überstehen, mit dem Wissen, dass nichts geblieben war.
Ihre Gedanken wanderten zu Elise. Für Sekunden sah sie die kindlichen Gesichtszüge, mit den tiefen Grübchen auf beiden Wangen, vor sich. Ihr bezauberndes Lachen, welches fröhlich durch das Haus hallte.
Kummer schnürte ihr die Brust zu, so dass sie unwillkürlich aufstöhnte, als sie sich des Momentes entsann, in dem sie Abschied genommen hatte.
Eine Woche war vergangen seit jenem Tag. Elise hatte das Wochenende bei ihr verbracht und Liliana bemühte sich darum, ihrer Tochter wunderbare Stunden zu bereiten, so wie sie es immer tat, wenn die Kleine zu Besuch kam. Und dennoch hatte das Kind gespürt, dass an jenem Wochenende etwas anders war. Immer wieder hatte sie ihre Mutter mit diesen großen, fragenden Augen angesehen, so als wisse sie um das Vorhaben Lilianas Bescheid.
Als sie ihr Mädchen zum Abschied noch einmal fest in die Arme nahm, hatte Liliana sie beschworen, niemals zu vergessen, wie unsagbar tief die Liebe war, die sie miteinander verband.
Tränen hatten schmerzhaft in ihren Augen gebrannt, als sie das Gesichtchen ihrer Tochter zwischen die Hände nahm und sagte: „Du bist das Allerbeste was mir in meinem Leben begegnet ist, Elise. Ich liebe dich, mehr als sich in Worte fassen lässt. Mehr als du dir je vorstellen kannst.“
Die Kleine hatte sich ein wenig aus der festen Umarmung der Mutter gelöst, nachdenklich den Kopf zur Seite gelegt und gefragt: „Größer als das Meer, Maman?“
Liliana konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Schluchzend hatte sie den zarten Kinderkörper an die Brust gedrückt, sich der eindringlichen Blicke ihrer Schwiegereltern bewusst, die dieser emotionalen Szene beiwohnten.
„Größer als der Ozean und größer als das Universum, mein Schatz.“
Dann hatte sie ihrer Tochter einen letzten, zärtlichen Kuss auf das seidige, dunkle Haar gegeben, bevor sie ihre Hände auf die Schultern des Mädchens legte und sie sanft in die Richtung ihrer Großmutter schob.
Liliana sah den Schatten, der über das Kindergesicht huschte, die Tränen, die wie bei jedem Abschied Elise Wangen benetzten, und es zerriss ihr fast das Herz.
Dieser Moment bestärkte sie nur darin, dass es gut war, dieses Leid zu beenden. Sie konnte und durfte Elise nicht länger diesen Zerreißproben aussetzen, die an Bertolt Brechts „Kaukasischem Kreidekreis“ erinnerten.
In Schultagen hatte sie das Stück Brechts, welches auf dem biblischen Urteil Salomons gründete, erarbeitet. Schon damals hatte diese Geschichte sie tief berührt und schon damals wusste sie, sie hätte ebenso gehandelt wie die Ziehmutter.
Liliana konnte sich noch sehr gut an die tragische Geschichte, in der es um zwei Frauen ging, die sich beide als Mutter eines Kindes ausgaben, erinnern.
In dem Bühnenspiel wurde vor dem Richter ein Kreidekreis auf den Boden gemalt, in dem das Kind stand. Wer letztendlich die meiste Kraft habe, das Kind zu sich und aus dem Kreis zu ziehen, der sei die wahre Mutter.
Mit aller Macht zerrte die leibliche Mutter an dem Kind, da sie ein großes Erbe erwartete.
Die Ziehmutter aber, die dieses Kind so sehr liebte, dass sie ihm keinen Schaden zufügen wollte, ließ den Jungen schließlich los.
Der Richter erkannte in ihr, durch ihr umsichtiges Verhalten, die wahre Mutter und sprach der Frau schließlich das Kind zu.
Und genauso fühlte auch sie sich.
Wie jene Mutter wollte sie Elise nicht länger den Qualen aussetzen, die jede weitere Trennung mit sich brachte. Das Tauziehen um das kleine Mädchen, welches sich zwischen ihr, Liliana, und den Großeltern entspann, musste ein für alle Mal ein Ende haben. Auch wenn das bedeutete, dass sie selbst verzichten musste.
Viel zu oft hatte sie des Nachts gehört, wie die Kleine sich in den Schlaf weinte, wie sie schreiend nach Albträumen erwachte und zitternd in Lilianas Bett kroch. Ganz nah hatte sie ihren kleinen Körper dann an den ihrer Mutter gedrängt um zu spüren, dass sie wirklich beieinander waren.
Dieser endgültige Abschied vor acht Tagen, hatte Liliana schon fast umgebracht, hatte ihr den letzten Funken Lebensmut geraubt.
Bis gestern Abend hatte sie mit sich gerungen, ob dieser Schritt, den Freitod zu wählen wirklich der einzige Ausweg war. Würde sie damit ihrem Kind nicht noch größeres Leid zufügen?
Doch so sehr sie auch wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit, sie fand keine.
Elise gehen zu lassen, mit dem Wissen, sie vermutlich nie wieder zu sehen, fortan ohne ihr Kind weiterleben zu müssen, das konnte sie nicht ertragen.
Genauso wenig konnte sie es ertragen, zu wissen, dass ihre Tochter über kurz oder lang an der Situation, wie sie derzeit war, zerbrach.
Liliana wusste sicher, dass Eliane und Patrice, ihre Schwiegereltern, sehr gut zu Elise waren. Die Kleine vergötterte ihren Großvater geradezu und er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Doch die Spannungen zwischen Mutter und Großeltern blieben dem Kind nicht verborgen. Elise litt unter den Streitigkeiten, die sich immer wieder aufs Neue ergaben und es war nicht absehbar, dass Elise in naher Zukunft zu ihr, Liliana, zurückkehren würde. Wenn dieser Tag überhaupt jemals käme.
Eliane und Patrice waren sehr wohlhabende Menschen, die sich die besten Anwälte leisten konnten und diese auch zum Einsatz brachten.
Liliana dagegen führte jeden Tag einen neuen Kampf ums Überleben, sie konnte Elise bei weitem nicht das Leben bieten wie ihre Schwiegereltern es taten, doch sie fragte sich im Stillen, ob es wirklich das war was ein Kind brauchte und sich wünschte.
Sie konnte in diesen Minuten keine Entscheidung treffen wie sie fortzufahren gedachte. Ihr Kopf schmerzte bei den Erinnerungen der Vergangenheit, die über sie hereinbrachen.
Zögernd richtete sie sich auf und erschrak, als sie den fremden Mann schlummernd in dem Sessel neben ihrer Schlafstätte fand.
Die langen Beine hatte er ausgestreckt und an den Fußknöcheln übereinander geschlagen.
Mit verschränkten Armen lehnte er rücklinks gegen die Sessellehne, während sein Kinn auf die Brust gesunken war. Seine gleichmäßigen Atemzüge füllten die Stille.
Warum war er geblieben?
Sie musste gestern vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Liliana berührte die bunte Patchwork-Decke und sann darüber nach, ob er sie zugedeckt hatte?
Sie schüttelte leicht den Kopf und kämmte mit den Fingern verwirrt durch das kurze Haar.
Sich erhebend kam sie, ein wenig unsicher auf den Beinen, zum Stehen.
Welch seltsame Wege das Schicksal geht, dachte sie, während sie die Kaffeedose vom Regal nahm und das schwarze Pulver löffelweise in den Filter füllte.
Wäre Thierry nicht zufällig gestern Abend am Strand aufgetaucht, befände sie sich mittlerweile vermutlich irgendwo im Nirwana.
Liliana erschrak ein wenig über den Weg ihrer Gedanken. Darüber, wie emotionslos sie über ihren eigenen Tod nachsann.
Wochenlang hatte sie beobachtet, dass dieser Strandabschnitt, zu einer bestimmten Uhrzeit menschenleer war. Und bei einem aufkommenden Unwetter würde sich ohnehin niemand in die Nähe des Wassers wagen. So hatte sie geglaubt.
Vielleicht hatte ihr das Schicksal durch diese ungewollte Rettung tatsächlich eine Chance zum Neuanfang gegeben. Und vielleicht hieß dieser Neuanfang, dass sie kämpfen sollte. Kämpfen um ein Leben mit Elise an ihrer Seite.
Liliana seufzte schwer, als sie den Wasserkessel unter den kalten Strahl hielt und ihn mit der klaren Flüssigkeit füllte. Der Kopf schwirrte ihr von den aufgewirbelten Gedanken, die wie Blätter im Herbstwind durcheinander stoben.
Sie war unfähig Klarheit in ihr Wollen und Wünschen zu bringen.
Hinter ihr erklang ein tiefes Räuspern. Sie drehte sich um und blickte in die klaren, blauen Augen eines Mannes, der ihr völlig fremd war und mit dem sie doch ein sehr intimes Geheimnis verband.
Plötzlich schämte sie sich angesichts ihrer Tat vom Vorabend und versuchte dieses Gefühl mit einem unsicheren Lächeln zu überspielen.
„Guten Morgen...“ Sie deutete auf das Sitzmöbel, aus dem er sich mit steifen Gliedern erhob: „Die Nacht war sicher nicht sehr bequem in dem alten Sessel:“
Er erwiderte ihr Lächeln, dabei fiel ihr sein Grübchen auf, welches das markante Kinn prägte:
„Ich habe schon auf bedeutend unbequemeren Untergründen geschlafen. Es besteht also kein Grund zur Sorge. Ich werde dich nicht auf Schmerzensgeld verklagen.“
Einige Sekunden musterte er schweigend ihre Züge, so als suche er nach Anzeichen dafür, dass sie ihr Vorhaben doch noch in die Tat umsetzen wollte.
Liliana fühlte sich unbehaglich unter seinem eindringlichen Blick und so war sie froh, als der Kessel zu pfeifen begann und sie sich um die Zubereitung des Kaffees kümmern musste.
Wenige Augenblicke später erfüllte der Duft frischen Kaffees den Wohnraum und sie spürte, wie ihre Nerven sich langsam beruhigten.
Sie füllte zwei Becher und stellte sie auf den Tisch. Dann öffnete sie eine Tür, welche in die kleine Vorratskammer führte, die an die Küchenzeile anschloss, und suchte nach etwas Essbarem. Sie fand schließlich noch eine Packung eingeschweißte Croissants und ein Stück Butter.
„Tut mir Leid, mehr kann ich leider nicht anbieten. Meine Vorräte sind aufgebraucht. Ich hatte nicht vor...“ Sie biss sich auf die Lippen und schluckte die letzten Worte hinunter. Es war auch gar nicht nötig diesen Satz zu Ende zu führen. Ein Blick in die Augen des Mannes und sie erkannte, dass er unlängst wusste, was sie hatte sagen wollen.
Er nahm ihr die Croissants ab und legte sie auf den Tisch, dann suchte er in Schränken und Schubladen nach Teller und Messer.
Als er ihr schließlich gegenüber saß, stellte er behutsam die Frage, die ihm vermutlich schon die ganze Zeit unter den Nägeln brannte: „Wie geht es dir heute Morgen?“
Sie wollte sagen `'Gut, kein Grund zur Sorge. Ich werde keine Dummheiten mehr begehen.'
Doch sie wusste, dass sie eine verdammt schlechte Lügnerin war. All ihr Denken und Fühlen stand deutlich sichtbar in ihren Augen. Eine Schwäche, die sie auch nicht mit dem folgenden Lächeln überspielen konnte.
„Besser, danke.“ Sie ahnte, dass er sie durchschaute. Sein prüfender Blick zeichnete eins zu eins ihre Mimik nach.
„Du musst nicht länger den Babysitter für mich spielen... ich... ich werde nicht... “
„Natürlich wirst du. Das Thema ist mit dem missglückten Versuch gestern Abend noch nicht abgeschlossen für dich. Ich kann diese tiefe Entschlossenheit in dir fast greifen, so deutlich spüre ich sie.“ Er atmete tief und fuhr sich mit beiden Händen durch das braune Haar. Eine Geste der Ratlosigkeit, wie Liliana erkannte.
„Ich weiß nicht, was oder wer dich dazu bewegt einen solchen Schritt zu wagen, aber glaube mir, das Leben ist viel zu kostbar. Vielleicht scheint dir deine Situation zum momentanen Zeitpunkt ausweglos, aber schon morgen können sich ganz neue Möglichkeiten erschließen. Die Sonne geht immer wieder auf, wenn die Nacht auch noch so undurchdringlich scheint.
Auch wenn du dich einsam fühlst, es gibt ganz sicher Menschen, die dich vermissen würden. Die du durch dein Handeln verletzen würdest, weil deine Tat verdammt egoistisch ist.“
Liliana wich seinem Blick aus.
Sie empfand Wut über seine anmaßenden Worte, gleichzeitig quälten sie aber auch tiefe Schuldgefühle. Er sprach genau jene Dinge an, die sie hatten hadern lassen.
Würde Elise sie eines Tages hassen, weil sie ihr nicht die Möglichkeit ließ, frei zu entscheiden, ob sie mit ihrer Mutter leben wollte, auch wenn dieses bedeutete, dass es nur zeitweise möglich war? Doch zum jetzigen Zeitpunkt konnten weder sie noch Elise darüber entscheiden, bei wem das Kind leben sollte. Darüber entschieden einzig und allein Anwälte und Richter, die behaupteten, zu wissen wo das Wohlergehen ihres Kindes gesichert war. Und das war derzeit ganz sicher nicht bei Liliana.
Sie schüttelte den Kopf, einen Gefühlsausbruch mühsam beherrschend.
„Du kannst dir nicht anmaßen, über mich zu urteilen. Was weißt du schon von mir oder meinen Beweggründen, geschweige denn von meinem Leben und den Menschen die daran Teil haben? Ich habe dich nicht gebeten mich zu retten. Du mischt dich unaufgefordert in Dinge ein, die dich nichts angehen und von denen du keine Ahnung hast.“
Ihre Stimme bebte vor Zorn, so scharf waren ihre Worte.
Während sie gesprochen hatte, hielt sie den Blick eisern auf die Kaffeetasse in ihren Händen gesenkt, nicht gewillt dem Wissen in diesen blauen Augen zu begegnen.
Doch er schwieg beharrlich nach ihrem Ausbruch und so war sie schließlich gezwungen den Kopf zu heben.
Er saß, das unrasierte Kinn auf seine ineinander verschränkten Hände gestützt, still da und betrachtete sie mit einer Zufriedenheit, die sie zu spät erkennen ließ, dass er ihr eine Falle gestellt hatte.
„Ich wusste es.“ Leiser Triumph klang aus seinen Worten. „Ich wusste, dass trotz des Ausmaßes deiner Verzweiflung noch eine gehörige Portion Leben in dir steckt. Jemand, der sich so beharrlich zu verteidigen versteht, ist dem Leben viel näher als dem Tod.“
Liliana schloss die Augen und atmete hörbar ein.
„Also gut, du hast mich auf die Probe gestellt und ich bin dir auf den Leim gegangen. Und jetzt? Was bedeutet das nun, deiner Meinung nach, Herr Psychologe.“
Er lächelte verschmitzt, mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und ließ sich zufrieden in seinem Stuhl zurück sinken.
„Ich würde sagen, eins zu null für mich.“
Nervös zog sie eine Augenbraue in die Höhe, schwieg jedoch.
„Du bist mir nun etwas schuldig. Ich schlage dir einen Deal vor.“
Hier saß ein Mann an ihrem Küchentisch, der ihr völlig fremd war. Aus dem Nichts war er aufgetaucht. Sicher, er hatte ihr das Leben gerettet, wenn das auch nicht unbedingt ihrem Willen entsprochen hatte, so sprach es doch für den Fremden. Aber wer immer er war, was er darstellte oder vor ihr verbarg, konnte sie nicht ahnen.
Trotz ihrer Todessehnsucht am vergangenen Abend beschlich sie nun ein leises Unbehagen.
Er konnte ein strahlender Held sein, ebenso wie ein gesuchter Verbrecher. Was forderte dieser Mann nun von ihr ein? Eine eiskalte Gänsehaut kroch ihren Körper hinauf und ließ sie frösteln.
Thierry schien ihr Unbehagen zu bemerken. Er beugte sich vor und sagte sanft:
„Ich will dich nicht ängstigen Liliana. Alles, was ich möchte, ist sicher gehen, dass du dich zu keinen weiteren Dummheiten hinreißen lässt.“
Er deutet mit einer Handbewegung auf die Uhr an der Wand hinter ihr.
„Ich kann nicht länger bleiben um mich selbst davon zu überzeugen. In einer Stunde habe ich einen Termin... “ Er unterbrach sich kurz. Irgendetwas schien ihn für Sekunden aus dem Konzept zu bringen. Sie konnte ein Flackern in seinem Blick sehen, eine gewisse Unruhe, die nichts mit der derzeitigen Situation zu tun hatte, das ahnte sie instinktiv.
„Also, der Deal besteht darin, dass du dir so gut wie möglich den Tag vertreibst ohne über dein Ansinnen vom gestrigen Abend nachzudenken. Dafür bin ich in den frühen Abendstunden zurück um nach dir zu sehen.“
Die Sanftheit in seiner Stimme, so als spräche er zu einem ungezogenen Kind, und der Vorschlag an sich ließen Liliana schließlich aus der Haut fahren:
„Ich bin verdammt noch mal keine sechs Jahre alt und ganz sicher brauche ich keinen Aufpasser. Die letzten Jahre habe ich mein Leben auch ganz gut allein gemeistert...“
„Daran zweifelt niemand. Doch es ist ziemlich eindeutig, dass du durchaus jemanden gebrauchen kannst, der dir die Sonnenseiten des Lebens zeigt. Liliana, lass es zu, dass dir jemand über die ersten Hürden hilft, bis du wieder sicheren Stand hast.“
„Und dieser jemand willst du sein?“
Sie bemerkte sein Zögern. Er schluckte, so dass sein Kehlkopf sich auffällig bewegte, bevor er weiter sprach: „Ich bin vielleicht wirklich nicht die geeignete Person dafür...“ Liliana hatte den Eindruck, dass diese Worte eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt waren.
„Aber fürs erste, bis wir jemanden gefunden haben, der dieser Aufgabe eher entspricht, könntest du vielleicht mit mir vorlieb nehmen?“
Liliana blieb ihm die Antwort schuldig, indem sie schwieg.
Thierry schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. Mit den Händen strich er sich durch das etwas zu lange Haar, welches im Nacken auf den Hemdkragen fiel.
„Nun gut, ich sollte dann wohl aufbrechen.“
Sie erhob sich ebenfalls und deutet auf seine nackten Füße.
„Du kannst unmöglich ohne Schuhe gehen. Warte, ich muss irgendwo noch ein paar Badeschuhe von meinem verstorbenen Mann haben.“
Sie trat in das angrenzende Schlafzimmer und öffnete Mathieus Kleiderschrank. Augenblicklich schlug ihr der vertraute Geruch entgegen und sie klammerte sich Halt suchend an die Schranktür. Wann würde es endlich aufhören? Auch nach fast vier Jahren waren all die Erinnerungen und der damit verbundene Schmerz noch so frisch, als ob es gestern gewesen sei.
Liliana schloss die Augen und versuchte ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen während sie ihren Kopf gegen das raue Kiefernholz lehnte.
„Liliana...? Alles okay?“ Thierrys tiefe, fremdartige Stimme riss sie zurück aus der Vergangenheit. Sie erschrak so heftig, dass sie leise aufschrie. Sie hatte ihn völlig vergessen.
„Verzeih, ich wollte dich nicht...“
Sie schüttelte ungehalten den Kopf. „Schon gut“, murmelte sie, sank auf die Knie und begann in den Tiefen des Schrankes nach den Schuhen zu suchen.
Überdeutlich spürte sie seine Anwesenheit. War sich bewusst, dass er die hektischen Bewegungen, den unruhigen Atem und ihre Unsicherheit wahr nahm. Doch er war taktvoll genug zu schweigen.
Nach einer Ewigkeit, wie Liliana schien, hielt sie schließlich die Schuhe in den Händen.
Noch immer zittrig erhob sie sich, durchschritt den Raum und reichte sie ihm.
Thierry quittierte die Schuhe mit einem leicht schiefen Lächeln bevor er sich bückte und hinein schlüpfte. Da es sich um offene Badeschuhe handelte, war gut sichtbar, dass seine Zehen, ebenso wie die Ferse deutlich über dem Sohlenrand standen.
Liliana empfand die Situation in ihrer Schlafkammer plötzlich als ungewöhnlich intim. Die enge des Raumes machte ihr seine Größe und das fremdartige umso deutlicher bewusst. Sie trat einen Schritt zurück. Mit einem schüchternen Lächeln begegnete sie schließlich Thierrys Blick:
„Tut mir Leid, etwas anderes habe ich leider nicht. Vermutlich schulde ich dir nun ein paar Schuhe.“
Er erwiderte ihr Lächeln und winkte ab: „Es wird schon gehen. Immer noch besser als barfuß laufen zu müssen und so die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.“
Und das war etwas, schien Liliana, was er absolut vermeiden wollte.
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab, trat zurück in den Wohnraum und sah sich noch einmal um.
Schließlich nickte er ihr kurz zu: „Also dann Liliana, ich hoffe wir sehen uns heute Abend.“
Er wartete ihre Antwort nicht ab. Im nächsten Moment schloss sich die Tür hinter ihm.
*
Sein Weg führte ihn über die sichere Verlassenheit des Strandabschnittes, der ihn direkt nach La Cotiniere bringen würde.
Der Sand unter seinen kaum beschuhten Füßen war noch immer feucht vom Regen der vergangenen Nacht. Wind zerzauste sein Haar, zerrte an der Kleidung und ließ ihn erschauern. Deutlich war der Atem des nahenden Herbstes zu spüren.
Thierry vergrub die Hände tief in die wärmenden Taschen seiner geborgten Jeans und hob den Blick zum Himmel, an dem in schnellen Zügen regenschwere, graue Wolkenformationen dahin trieben.
Grau wie seine Stimmung, die düster auf seiner Seele lastete.
Er war zu Hause. Nach all den Jahren der Sehnsucht, die ihn innerlich langsam auszuhöhlen drohte und nichts als leblose, tote Materie zurück ließ, war er nun an jenem Ort, an den er sich in den endlosen Stunden schlaflos verbrachter Nächte hin geträumt hatte.
In seinen Träumen war Oleron immer noch die Zuflucht und der sichere Hafen seiner Kindertage.
Als er nun die einsame Dünenlandschaft durchschritt, spürte er die Veränderung und Narben, welche die Jahre ihm und seinem Land zugefügt hatten, umso deutlicher.
Der Wind trug den Geruch von Salz und Seetang zu ihm herüber. Er blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und füllte seine Lungen mit dieser von vertrauten Geschmäckern durchsetzen Luft. Über ihm zogen die Möwen ihre Kreise. Ihr Schrei vermischte sich mit dem Donnern der Brandung, die tosend, noch aufgewühlt von dem Unwetter der vergangen Nacht, an den Strand rollte.
Für Sekunden gelang es ihm, die Anspannung in seinem Inneren auszublenden und nur das Geschehen des Augenblicks wahrzunehmen. Die Naturgewalten in ihrer Urkraft waren es, die ihn schließlich hierher zurückgeführt hatten.
Die Aufgaben, die nun vor ihm lagen, insbesondere, die nächsten Stunden zu bewältigen, würden ihm alles abverlangen, dessen war er gewiss. Und er spürte alles andere als Sicherheit, ob er sich dem wirklich gewachsen fühlte. Je mehr er sich La Cotiniere und damit auch der „Avenue du General Leclerc“ näherte, desto schwerer wurde sein Gang.
Er spürte selbst, wie die vor ihm liegende Last seine sonst so aufrechte Haltung nieder drückte. Den Kopf geneigt und die Schultern gesenkt, stemmte er sich gegen den Wind.
Der letzte Abschnitt seines Weges, kurz vor dem Ort, zwang ihn dazu, die befestigte Straße zu nehmen, da der sandige Abschnitt kurz vor dem Fischerdorf endete.
Thierry bete im Stillen, dass er unbehelligt sein Haus erreichte. Er musste La Cotinere durchqueren um die Avenue zu erreichen. Sein Elternhaus war das letzte, welches am Ortsausgang der Straße stand. Gott gebe, dass ihm eine Galgenfrist gewährt blieb, bis die Einwohner erfuhren, dass er zurückgekehrt war.
Die Aussichten dafür standen recht gut, wenn er mit den Blicken die fast menschenleeren Straßen absuchte. Das Wetter hielt die meisten davon ab sich draußen auf dem Boulevard aufzuhalten, auf dem im Sommer eine bunte Schar Touristen drängte.
Doch die Saison war längst vorbei. Die meisten Geschäfte hatten schon auf Notbetrieb umgeschaltet. Manche waren auch schon winterfest verschlossen, die Fensterläden heruntergefahren und die Eisengitter vor die Türen geschoben.
Früher hatte er es geliebt, wenn nach all dem Trubel endlich wieder Ruhe einkehrte in das Inselleben und die Einheimischen sich auf die nötigsten Tätigkeiten beschränken konnten. Die Menschen hatten dann Zeit füreinander. An den langen Winterabenden saß man beisammen. Die Inselältesten brauchten nicht zweimal darum gebeten zu werden von alten Zeiten zu berichten. Thierry hatte es geliebt in den Hafenschänken zu sitzen, bei einem Glas Bier an den wärmeren Tagen- oder einem Cognac, dann, wenn die Winterstürme eisig um die Häuser fegten und man die Glut des prasselnden Feuers im Rücken und die wärmende Wirkung des Alkohols im Inneren, genießen konnte.
Als die letzte Wegbiegung in Sicht kam, verlangsamten sich unweigerlich seine Schritte. Das Herz schlug ihm so heftig in der Kehle, dass er glaubte, es müsse im nächsten Moment herausspringen, und seine Hände waren nun, trotz der Kälte, in den Hosentaschen schweißfeucht. Noch gut zweihundert Meter, dann stand er vor dem kunstvoll verzierten schmiedeeisernen Tor, welches Fremden den Zutritt zu dem Privatgrundstück versagte. Eine ca. ein Meter sechzig hohe Mauer umschloss schützend das Haus mit seinem Garten.
Es war kein stolzes Anwesen.
In seiner Schlichtheit strahlte es eher Bescheidenheit aus und dennoch war es all die Jahre, die er hier gelebt hatte, seine Festung, seine Burg gewesen. Ein sicherer Hafen, in dem er, nach der Mühsal des täglichen Lebens zur Ruhe kommen konnte.
Sein Vater hatte vor gut vierzig Jahren dieses Haus erbaut und dafür den Insel üblichen Sandstein verwendet. Jahre später ließ Thierry sein Heim mit Natursteinen, wie sie auf Oleron ebenfalls sehr oft verwendet wurden, verklinkern. Er hatte sein Heim zumindest äußerlich damit aufgewertet.
Er drückte den eisernen Griff herunter und betrat das Grundstück.
Der Garten war schon für den Winter hergerichtet worden. Die wenigen Bäume und Sträucher beschnitten. Im Rasen, der den Steinweg zum Haus rechts und links säumte, waren noch die deutlichen Spuren des Sommers sichtbar. Braun schattierte Brandnarben zogen sich durch das wenige Grün.
Doch Thierry schenkte dem nur wenig Beachtung. Seine Aufmerksamkeit galt dem Haus mit den verschlossenen, azurblauen Fensterläden und der ebenfalls in blau gehaltenen Haustür.
Er war sicher, dass alles einen neuen Anstrich bekommen hatte. Nach neun Jahren und den Wettern, die dieses Heim jedes Jahr standhalten musste, hätte das Holz nicht mehr so gesättigt, so gepflegt aussehen sollen.
Ein warmes Gefühl rann ihm den Rücken hinab, als ihm bewusst wurde, dass dieses vermutlich Pascals Werk war, der hier all die Jahre nach dem Rechten gesehen hatte.
Doch allzu schnell verflüchtigte sich jenes Wohlbehagen und machte einem anderen Gefühl Platz. Nackte Angst kroch ihm den Nacken hinauf, als er nun die letzte Stufe erklomm und unter dem Findling, in dem sein Familienname eingemeißelt war und der rechts neben der Haustür stand, nach dem Türschlüssel suchte.
Wie versprochen hatte Pascal ihn dort platziert, sollte Thierry vor ihm eintreffen.
Thierrys Finger umschlossen das kalte Metall des Schlüssels so fest, dass die scharfen Zacken des Bartes sich in das Fleisch seiner Hand gruben.
Erschöpft, weniger von dem Fußmarsch, als vielmehr von den überwältigenden Gefühlen, die nun auf ihn ein stürmten, lehnte er die heiße Stirn einen Moment gegen das kühle Holz der Haustür und versuchte seinen unruhigen Atem zu kontrollieren.
Das ist lächerlich, sagte er sich. Du bist ein erwachsener Mann, der genug Mut hat, sich den Geistern der Vergangenheit zu stellen.
Doch genau das war es, woran er zweifelte. Die Angst in ihm schien fast die Oberhand zu gewinnen, und für einen winzigen Moment war er versucht sich umzudrehen und die Flucht zu ergreifen. Allein das Wissen darum, dass er dann vermutlich niemals wieder die Kraft finden würde die Türschwelle zu übertreten, ließ ihn zögern.
Es war seine Entscheidung gewesen hierher zurück zu kehren, an den Ort des Geschehens, den er seit jener Nacht nicht wieder betreten hatte. Noch in den letzten Tagen hatte er Pascal klargemacht, dass dieser Entschluss für ihn unumstößlich war. Flucht war keine Lösung. Er hatte nie zu den Menschen gehört, welche die Tatsachen beschönigten oder gar verdrängten.
Entschlossen stieß er sich von dem harten Holz ab und schob den Schlüssel in die Vorrichtung. Er biss die Zähne aufeinander, so fest, dass sein Kiefer zu schmerzen begann, und hielt unwillkürlich die Luft an.
Langsam zählte er bis drei, bevor er das Schloss umlegte und die Tür mit einem leisen Klicken aufsprang.
Vor ihm lag der gähnend dunkle Schlund des schmalen Korridors.
Thierry tastete mit zitternder Hand nach dem Lichtschalter und knipste ihn an. Im nächsten Moment ergoss sich künstlich milchiges Licht über die vertrauten Flurmöbel.
Immer noch zögerlich trat er über die Schwelle ins Innere des Hauses.
Seines Hauses.
Mit einem Zischen entwich die Luft aus seinen Lungen, als er sich vorsichtig umsah.
An den Wänden hingen die vertrauten Bilder seiner Jugend. Landschaftsgemälde von Künstlern, die Oleron ihr zu Hause genannt hatten. Tosende Brandungen neben stillen Tümpeln, auf denen Fischerboote schaukelten.
Die typisch bunten Holzhütten der Salzgärten.
Rechts neben der Tür befand sich eine Wandnische, in der das Telefontischen eingelassen war. Direkt darüber hingen Familienporträts. Sein Vater, der stolz seinen größten Fang in die Kamera hielt, ein breites Grinsen auf den Lippen. Auf einem anderen Foto erkannte er die vertrauten Züge seiner Mutter, die auch nach all den Jahren immer noch fest in ihm verankert waren, wie sie liebevoll lächelnd ihre Söhne in den Armen hielt.
Sein Schiff, die Resistance, bildete gut sichtbar den Mittelpunkt der Galerie.
Des Weiteren fand er ein Bild seines Bruders, eine Aufnahme, die kurz nach der Geburt seiner ersten Tochter entstanden sein musste. Mit Stolz erfüllten Blick sah er auf das zerbrechliche, kleine Bündel in seinen Armen hinab.
Zitternd rang Thierry um Atem. Dieses Bild war neu. Er kannte es nicht und er hatte es auch ganz sicher nicht aufgehängt. Allzu gut entsann er sich, welche Aufnahme zuvor an eben dieser Stelle gehangen hatte.
Ein Hochzeitsfoto.
Bittere Galle breitete sich in seinem Mund aus und er schloss einen Moment gequält die Augen.
Pascal hatte an alles gedacht, hatte für alles gesorgt. Damit die Erinnerungen in Thierry nicht zu sehr an die Oberfläche drängten, hatte er Gegenstände entfernt, die genau dieses verursachen konnten. Das erkannte er mit einem Blick in die Runde.
Aber genau das Fehlen dieser Gegenstände war es, was in Thierry die quälenden Erinnerungen wach rief.
Er durchschritt den vorderen Teil des Hauses und begann die Fensterläden zu öffnen, um das Tageslicht einzulassen. Thierry war sicher, dass es dem Haus die gespenstische Atmosphäre nehmen würde.
Nach und nach eroberte er die Räume. Betrat die Küche, die ebenfalls, wie auch der Wohnbereich, einen neuen Anstrich erhalten hatte. Wenige Möbel waren entfernt, andere versetzt worden.
Ihm war nie bewusst gewesen, wie groß das Haus war, mit den großzügig offen geschnittenen Räumen. Der untere Wohnbereich war nach dem Öffnen der Fenster und Türen, lichtdurchflutet und wirkte dadurch noch enormer.
Nachdem er die letzten Jahre auf acht Quadratmetern gehaust hatte, erschien ihm dieses opulente Haus fast unanständig.
Bisher hatte er es tunlichst vermieden den hinteren Teil des Gebäudes zu betreten, dort wo die weite Treppe in das obere Geschoss führte.
Kurz vor seiner Hochzeit hatte Thierry die Räume umbauen lassen. Seinen Eltern hatte in früheren Jahren das Geld gefehlt die obere Etage auszubauen, und so hatte es auf der unteren Ebene ein kleines Wohnzimmer gegeben, von dem drei kleine Schlafräume abführten, die damals als Kinder- und Elternschlafzimmer dienten.
Er hatte schließlich die Wände eingerissen, eine offene Wohnebene errichtet und die Schlafräume sowie ein zusätzliches Badezimmer nach oben verlegt.
Unschlüssig stand er an der Dielenabzweigung, die ins Treppenhaus führen würde. Der halbdunkle Korridor verursachte ihm Übelkeit.
Er konnte das verschieben auf später. Die Eindrücke, denen er sich ausgesetzt hatte, hätten für die nächsten Wochen ausgereicht.
Doch dieser Abschnitt des Hauses, der das pure Grauen in ihm weckte, war ein wichtiger, unumgänglicher Bestandteil. Wenn er hier leben wollte, und das war es, was er zumindest für seine nahe Zukunft plante, dann war es unausweichlich, dass er sich diesem Schauplatz der Vergangenheit stellte.
Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Ungehalten wischte er sich mit der Hand darüber, während er mit beschleunigtem Atem vor den Treppenabsatz trat.
Ein Schmerz pulsierte heftig hinter den Schläfen und sein Herzschlag schien laut dröhnend von den Wänden zurück zu hallen, als ein Zeitstrudel ihn rückhaltlos in die Vergangenheit zu reißen schien.
Er sah das Blut, überall. Es bedeckte den Boden, durchtränkte den hellen, langfaserigen Teppich und färbte ihn in einem unwirklichen rosa Ton.
Thierry nahm den eisenhaltigen, feucht-klebrigen Geruch wahr, welcher die Luft erfüllte und in seine Nase drang. Er sank auf die Knie neben den leblosen Körper. Seine Hände, seine Kleidung... überall war Blut... ihr Blut...
„Thierry...“ Die Hand auf seiner Schulter ließ ihn so heftig zusammenfahren, das er einen Moment sicher war, dass Bewusstsein zu verlieren.
Er schwankte leicht vor und zurück, während er die Übelkeit niederkämpfte, die sich in grüner Galle zu manifestieren versuchte.
Schwärze blendete für kurze Zeit alles rund um ihn herum aus, und er war versucht sich fallen zu lassen, als eine eindringliche Stimme ihn gewaltsam zurückholte.
„Thierry. Verdammt ich habe gewusst, dass es zu viel auf einmal ist. Warum zum Teufel hast du nicht wenigstens gewartet, bis ich eintreffe?“
Thierry schüttelte den Kopf und versuchte seine Sinne zu schärfen. Vorsichtig, um nicht dem verblieben Schwindel zum Opfer zu fallen, sah er sich um.
Er hockte auf den Knien am Boden, direkt vor dem Treppenende. Genau die Stelle, an der damals...
Jemand hatte den Teppich ausgetauscht. Stattdessen lag nun ein dunkelblauer, kurzfloriger Läufer auf den Dielen.
Nichts erinnerte mehr an die Begebenheiten jener Nacht vor neun Jahren. Und dennoch hatte er das Gefühl mitten im Geschehen zu sein.
„Thierry!“ Pascal ergriff seinen Arm und schüttelte ihn leicht, brachte ihn durch diese Berührung zurück in die Gegenwart.
Er erhob sich mit zitternden Gliedern und kam schließlich, noch immer nicht ganz sicher auf den Beinen, vor seinem Bruder zum Stehen.
„Mein Gott, du bist weiß wie die Wand. Na komm, ich werde dir erst mal etwas zur Stärkung geben.“
Schweigend und willenlos ließ Thierry es zu, dass Pascal ihn aus dem engen, dunklen Flur, der die Schleusen der Vergangenheit geöffnet und ihn mit sich gerissen hatte, in das helle, freundliche Wohnzimmer führte. In eine andere Welt, ein völlig anderes Leben, wie ihm schien.
Entschlossen drückte Pascal den zitternden Mann in den Ledersessel, welcher direkt am offenen Kamin stand. Dann brachte er mit wenigen Handgriffen ein Feuer in Gang, dessen Wärme im Nu die untere Wohnebene erfüllte.
Schließlich reichte der Bruder ihm, noch immer schweigend, einen Cognacschwenker.
Die bernsteinfarbene Flüssigkeit schwappte bis an den Rand des Glases, als Thierry es mit zitternder Hand entgegennahm.
Er wagte nicht daran zu nippen, weil er noch immer von einer verbliebenen Übelkeit beherrscht wurde.
Pascal hatte sich auf die Sofalehne gesetzt. Die Arme vor der Brust verschränkt, betrachtete er seinen Bruder aufmerksam.
„Wann bist du angekommen?“
Thierry schluckte bei dem Überfluss an Speichel in seinem Mund. Es fiel im schwer sich auf Pascals Worte zu konzentrieren. Die Bilder, die so unvorbereitet auf ihn eingestürzt waren, hielten ihn noch immer in Bann.
„Ich bin kurz vor dir eingetroffen.“ Er hob das Glas an die Lippen, nahm einen tiefen Zug und verzog das Gesicht, als die Flüssigkeit brennend seine Kehle hinab rann.
Wann hatte er zum letzten Mal Alkohol getrunken? Vermutlich würde dieses eine Glas ausreichen ihn betrunken zu machen.
„Ich will dich nicht bedrängen, Kleiner. Aber ich glaube nicht, dass ich dir erklären muss, was da eben im Flur geschehen ist.“
Thierry schüttelte schweigend den Kopf und starrte in das Glas zwischen seinen Händen, die allmählich ruhiger wurden.
Bei Gott, das brauchte er ganz sicher nicht. Es war genau das geschehen, wovor er sich am meisten gefürchtet hatte. Die Erinnerungen waren wie gefräßige Ungeheuer über ihn hergefallen. Ohne jede Vorwarnung wurde er, einer Psychose gleich, in den Abgrund des Vergangenen gerissen, jedoch ohne sich bewusst zu werden, dass diese Bilder mehr als neun Jahre zurücklagen. Für ihn waren sie so real wie damals, an jenem schicksalhaften Abend. Er wusste verdammt gut, dass dieses jeder Zeit wieder geschehen konnte.
„Warum machst du es dir so schwer? Man könnte meinen, du möchtest dich nachhaltig für das bestrafen, was damals geschehen ist.
Mein Angebot steht nach wie vor, Thierry. Wir verkaufen die Hütte hier und du kommst mit mir nach Quiberon. Es wäre ein völlig neuer Anfang für dich. Du müsstest dich nicht ständig mit deiner Vergangenheit auseinandersetzen und den Anschuldigungen deiner Mitmenschen unterziehen. Was erwartet dich noch hier, außer dem Schmerz und der Verachtung.“
Thierry ließ den Kopf schwer gegen die Rückenlehne sinken und sah seinen Bruder unter halb geschlossenen Liedern an. Auf einmal fühlte er sich unendlich müde und hundeelend.
„Wir wissen doch beide, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis die Menschen in Quiberon unangenehme Fragen stellen und Wind von meiner Geschichte bekommen, Pascal. Ich würde sozusagen vom Regen in die Traufe kommen und schlimmer noch. Ich würde dich, Loronce und eure Tochter gleich mit in den Abgrund ziehen. “ Er schüttelte nachdrücklich den Kopf.
„Aber du würdest nicht ständig deinen eigenen Dämonen begegnen. Das wird hier, in diesen Räumen, in dieser Stadt unumgänglich sein.“
„Vielleicht ist das meine Form der Vergangenheitsbewältigung. Du hast dir dort ein neues Leben aufgebaut. Niemand weiß von dem Familienballast, den du mit dir herum trägst. Es ist besser, wir lassen alles so wie besprochen.
Und ganz ehrlich Pascal, “ er machte eine umfassende Bewegung, welche die gesamten Räumlichkeiten mit ein schloss, „wer kauft ein Haus, das eine solch grauenvolle Vergangenheit vorzuweisen hat?“
Die Antwort blieb Pascal ihm schuldig.
Einen Moment saßen sie schweigend beieinander, jeder seinen Gedanken nachhängend, während das Knistern des Feuers die Stille durchbrach.
Schließlich schlug Pascal sich mit den flachen Händen auf die Beine und erhob sich.
„Nun gut, wenn du dich also entschieden hast und ich zum derzeitigen Zeitpunkt nichts vorbringen kann um deine Meinung zu ändern, dann könne wir ebenso gut die wichtigen Dinge angehen.“
Er deutet auf einen Ordner der auf dem Wohnzimmertisch lag.
„Deine Unterlagen. Kontoauszüge, Versicherungsschreiben...der ganze Papierkram eben. Ich habe versucht mit allem auf dem Laufenden zu bleiben und hoffe, es ist mir gelungen. Trotzdem solltest du bei Gelegenheit einen Blick darauf werfen.
Deine Habseligkeiten, die du aus Tours mitgebracht hast, habe ich schon vor ein paar Tagen hergebracht. Lorence hat den Kühlschrank gefüllt, die nächsten Tage solltest du gut über die Runden kommen.“
Er schob eine Hand in die Hosentasche und zog ein Schlüsselbund heraus, das er zu dem Ordner auf den Tisch legte.
„Bevor ich es vergesse, ich habe dir meinen alten Renault in die Garage gestellt. Lorence meinte, es wäre an der Zeit sich ein neues Auto zu zulegen.“ Mit einem leicht verlegenen Lächeln sah er Thierry an.
„Wir dachten, du könntest noch ein wenig Freude an der alten Kiste haben.“
Thierry erhob sich, vorsichtig, weil er nicht wusste, ob seine Beine ihm sicheren Stand gewährten, und trat auf seinen Bruder zu.
Obwohl Pascal der ältere der beiden war, überragte Thierry ihn um fast einen Kopf.
Wortlos schlossen sich die beiden Brüder in die Arme.
Neun Jahre lang hatte Pascal unermüdlich an seiner Seite gekämpft und Thierry wusste, dass sein Angebot, ihn nach Quiberon zu begleiten, aus der Tiefe seines Herzens kam, wenn das auch bedeutete, dass er seiner eigenen Familie damit Schaden zufügen könnte.
Die Treue der beiden Brüder zueinander war unerschütterlich.
Thierry löste sich und klopfte Pascal noch einmal auf die Schulter:
„Vermutlich werde ich nie die Gelegenheit bekommen mich zu revanchieren, aber ich bin dir und Lorence unendlich dankbar für eure Hilfe. Und damit meine ich nicht nur die letzten Wochen, in denen es auf die Entlassung zuging.“
Thierry mochte sich täuschen, doch einen Sekundenbruchteil glaubte er Tränen in Pascals Augen zu sehen. Augenblicklich blinzelte dieser und wandte den Blick ab.
„Wir haben ein wenig verändert in deinem Haus, Thierry. Ich hoffe das ist okay für dich, aber ich bin sicher, dass es dir den Übergang von damals zu heute ein wenig erleichtern wird.“
Schließlich deute er nach oben in die Schlafräume und Thierry ahnte, was nun kommen würde.
„Nicoles Sachen haben wir alle entfernt. Ich dachte, es ist besser, wenn du dich nicht auch noch damit herumschlagen musst.“
Er nickte nervös und strich sich fahrig durch das Haar. Es würde die ganze Angelegenheit erleichtern, wenn er nicht in jeder Schublade und in sämtlichen Schränken auf ihre persönlichen Dinge stieß, ihren vertrauten Geruch in der Kleidung wahrnahm...der vermutlich nach all den Jahren gar nicht mehr vorhanden war. Doch er hatte erst vor wenigen Augenblicken erlebt, was Erinnerungen hervorrufen konnten.
Angewidert verzog er das Gesicht und schüttelte sich leicht.
„Alles okay?“ Die Besorgnis in Pascals Stimme wärmte ihn für einen Moment, dann nickte er ergeben.
„Ja, alles in Ordnung. Vermutlich wird es einige Zeit brauchen, bis ich mich hier wieder zurechtfinde und zu Hause fühle.“
Pascal zog skeptisch die Augenbrauen hoch: „Falls dies jemals wieder der Fall sein wird.“
Er trat auf die Tür zu und deutete mit einer Handbewegung in die Küche.
„Ich habe dir frische Shrimps mitgebracht, damit du deine Entlassung gebührend feiern kannst. Du weißt, Thierry, ich wäre gerne geblieben um dieses Ereignis mit dir zu feiern, aber ich muss leider gleich wieder los. Lorence hat morgen einen wichtigen Arzttermin, und da kann ich sie nicht allein lassen.“
„Natürlich. Sei unbesorgt, ich komm schon klar.“
Pascal nickte nachdenklich, während er seinen Autoschlüssel aus der Jackentasche zog.
„Das bist du immer. Aber denk daran, man muss nicht alles allein durchstehen. Wofür hat man schließlich eine Familie.“
Thierry begleitete seinen Bruder zur Tür. Sekundenlang überkam ihn Panik vor der Einsamkeit. Nicht das Alleinsein an sich war es, was ihn ängstigte. Allein war er in den letzten Jahren zur Genüge gewesen. Sondern das Zurückbleiben in diesem Haus, seinem Haus.
Er fürchtete, Pascal könne die Qualen in den Tiefen seiner geschundenen Seele erahnen und hielt den Blick gesenkt.
„Also Kleiner, ruf an wenn du etwas brauchst. Quiberon liegt nicht am anderen Ende der Welt. Ein paar Autostunden und ich bin hier.“
„Kümmre dich jetzt erst mal um deine Familie, Pascal, und sag Lorence, dass ich ihr unendlich dankbar bin.“
Pascal nickte, klopfte seinem Bruder noch einmal freundschaftlich auf den Arm und war einen Moment später durch das Gartentor verschwunden.
Zurück blieb Thierry, der sich seinen Ängsten und Unsicherheiten stellen musste und aus Erfahrung wusste er, dass er diesen Weg nur ganz allein beschreiten konnte.