Читать книгу Die Sehnsucht der Kormorane - Silvija Hinzmann - Страница 11
Fünf
ОглавлениеEs ist eine seltsame Sache mit der Zeit, dachte Prohaska, als er mit einer Tasse Kaffee auf die Terrasse ging. An manchen Tagen zogen sich die Stunden wie zähes Karamell dahin und man konnte meinen, die Nacht würde niemals hereinbrechen. Und an anderen wunderte er sich, dass schon wieder zwei Stunden vergangen waren, ohne dass er es bemerkt hatte.
Aber im Grunde konnte ihm die Zeit egal sein. Hier musste er nicht nach der Uhr leben. Wie oft war er nach einem langen Tag erschöpft ins Bett gefallen, doch kaum, dass er eingeschlafen war, vom Wecker oder einem Anruf aus dem Schlaf gerissen worden, um ohne Frühstück ins Präsidium oder zu einem Tatort zu fahren? Und dabei musste er stets einen kühlen Kopf zu bewahren, seine Kolleginnen und Kollegen motivieren und unterstützen.
Wenn er an seinen letzten Einsatz dachte, bei dem er angeschossen wurde und sein Leben danach aus den Fugen geraten war, zog sich sein Magen zusammen. Dennoch musste er sich allen Widrigkeiten zum Trotz, die er damals zu bewältigen hatte, eingestehen, dass er seine Arbeit manchmal sehr vermisste. Schließlich hatte er seinen Dienst nicht freiwillig beendet, sondern wurde von einem durchgeknallten Typen von einer Sekunde zur anderen aus der Bahn katapultiert. Der Mann hatte sich nach einem heftigen Streit mit seiner Noch-Ehefrau mit der gemeinsamen fünfjährigen Tochter in der Wohnung verschanzt. Die Frau konnte zu den Nachbarn fliehen und die Polizei verständigen. Er drohte, das Kind und sich selbst zu erschießen, wenn die Frau nicht zu ihm zurückkehrte. Als sich herausstellte, dass der Mann aus dem ehemaligen Jugoslawien stammte, wurde Prohaska hinzugerufen. Er sollte versuchen, den Mann zur Aufgabe zu überreden. Doch der wurde noch wütender und beschimpfte Prohaska als Verräter. Als die Lage zu eskalieren drohte, stürmten sie die Wohnung. Der Mann saß auf der Couch und hielt das Kind fest. Prohaskas Kollege forderte ihn auf, die Waffe fallen zu lassen. Doch der Mann schoss sofort und der Kollege stürzte tödlich getroffen zu Boden. Der Mann sprang auf, das Kind riss sich los und rannte zu Prohaska, der in der Tür stand und das Kind nach draußen schob. Als er sich wieder umdrehte, stand der Mann da und zielte auf ihn. Sie schossen gleichzeitig. Der Mann kippte auf die Couch zurück. Prohaska hatte ihn am rechten Arm getroffen. Er selbst schlug mit dem Rücken gegen die Wand und sackte in sich zusammen. Weitere Polizisten stürmten herein, fixierten den Mann. Alle schrien durcheinander. Prohaska starrte auf sein linkes Bein. Überall war Blut. Er wurde ohnmächtig und wachte erst nach einer mehrstündigen Operation auf. Die Verletzungen waren schwer. Nach drei Wochen wurde er aus der Klinik entlassen und kam in die Reha. Danach folgte die Gerichtsverhandlung, bei der er freigesprochen wurde, da ihm die Richter Notwehr zubilligten. Aber arbeiten konnte er nicht. Er bekam Depressionen und wurde schließlich frühpensioniert. Die Kollegen riefen immer seltener an, er hing zuhause herum, wurde aufbrausend. Seine Frau Heidi, die als Schreibkraft ebenfalls bei der Polizei arbeitete, kümmerte sich um alles, machte Überstunden, warf ihm schließlich vor, sich gehen zu lassen. Sie stritten sich und versöhnten sich halbherzig und schwiegen dann tagelang. Die Tochter Anna begann nach dem Studium zu arbeiten und zog von zu Hause aus. Als er nach Wochen ohne Krücken gehen konnte, hatte Prohaska sich wieder aufgerappelt. Er machte Spaziergänge und entdeckte sein altes Hobby, das Fotografieren. Er fuhr mit dem Auto durch die Gegend und war bald jeden Tag unterwegs. Es schien, als würde alles wieder in Ordnung kommen. Doch dann fand er eines Morgens seine Frau im Badezimmer auf dem Boden liegend. Sie war nicht ansprechbar, er versuchte sie wiederzubeleben, rief den Notarzt. Doch es war zu spät. Heidi hatte einen schweren Schlaganfall erlitten und war tot.
Als er seinem Freund Ivo Horvat davon erzählte, schlug dieser vor, für einige Zeit nach Rovinj zu kommen. Prohaska wollte es sich überlegen. Doch nach einem Vierteljahr hielt er es nicht mehr allein in der Wohnung aus, stellte die Möbel in einem Lagerhaus unter, vermietete die Wohnung und fuhr nach Istrien. Die erste Zeit wohnte er bei Ivo und Miranda. Über einen Makler fand er ein altes Steinhaus in Kloštar. Er kaufte es sofort, renovierte es mit ein paar Handwerkern, die Ivo gefunden hatte, und als es fertig war, holte er einen Teil seiner Möbel aus Stuttgart ab. Da Ivos Fotoladen seit einiger Zeit nicht so gut lief und Prohaska sich auch nicht vorstellen konnte, den Rest seines Lebens untätig zu sein, bot er Ivo an, ihm finanziell zu helfen, und wurde sein stiller Teilhaber.
Prohaska hatte nie bereut, dass er nach Istrien gezogen war. Er war gerne Fotograf, war finanziell unabhängig und konnte tun und lassen, was er wollte. Und dennoch fehlten ihm die Aufregungen und Herausforderungen, die er früher bei der Polizeiarbeit gehabt hatte.
Das war wohl der Grund, warum er sich hier allzu leicht in irgendwelche Kriminalfälle hineinziehen ließ. Er war ein Polizist und würde es sein Leben lang bleiben, egal wo und wie er lebte.
Ivo sah diese Rückfälle nicht gern und machte sich Sorgen, dass Prohaska eines Tages in ernsthafte Schwierigkeiten geraten könnte. Und tatsächlich verspürte Joe seit seinem letzten »Fall« kaum noch Lust, sich als Privatermittler zu betätigen. Streng genommen war es ja illegal. Er hatte weder die Befugnisse eines Polizeibeamten noch eine Lizenz als Privatdetektiv. Deshalb hatte er diesbezügliche Anfragen, die man mehr oder weniger hinter vorgehaltener Hand an ihn gerichtet hatte, abgelehnt. Allerdings hatte er doch einmal der Bitte von Inspektor Rossi nachgegeben, ihn für eine gelegentliche Zusammenarbeit zu gewinnen.
Er trank einen Schluck Kaffee, zündete sich eine Zigarette an und versuchte, die trüben Gedanken zu verscheuchen.
So gut es eben ging.
Am Abend zuvor hatte er bis tief in die Nacht am Rechner gesessen und die unzähligen Fotos, die er von Hochzeiten, Kindergeburtstagen oder anderen Anlässen gemacht hatte, sortiert, bearbeitet oder gelöscht. Die besten auftragsfreien Aufnahmen hatte er auf einem Stick gespeichert. Die Sache mit dem geplanten Istrien-Bildband zog sich hin. Der Mann vom Verlag hatte beim letzten Telefonat versprochen, sich bald zu melden, aber das war auch schon wieder Wochen her. Prohaska nahm sich vor, ihm in den nächsten Tagen zu schreiben und zu fragen, ob er das Buch nun in sein Verlagsprogramm aufnehmen wollte oder nicht. Falls nicht, würde er sich nach einem anderen Verleger umsehen.
Mittlerweise konnte er sich die Aufträge als Fotograf aussuchen. Was ihm schon schmeichelte, da er sich immer noch als Amateur betrachtete. Nie hätte er gedacht, dass er auf seine alten Tage, wie er scherzhaft sagte, da er sich mit knapp Fünfzig absolut nicht alt fühlte, als Fotograf Karriere machen würde.
Ivo scheute keine Mühe, für Prohaska die Werbetrommel zu rühren. Eine Visitenkarte hier, ein Wort dort, reichten schon aus. Die Mundpropaganda funktionierte am besten, vor allem, wenn Ivo sagte, Joe Prohaska habe leider kaum Kapazitäten, doch es lasse sich bestimmt ein Termin finden. Er sei gerade bei einer Hochzeitsfeier, drüben in dem piekfeinen Fünf-Sterne-Hotel, die Eltern der Braut gehörten zu den oberen Zehntausend in Zagreb. Oder er sei bei der Einweihung der Niederlassung irgendeines Konzerns. Aber was solle man machen, Geld regiere nun mal die Welt. Die Zeiten seien schlecht, waren es schon immer gewesen, und man müsse zusehen, wo man bleibt. Doch das sagte Ivo nicht laut. Er deutete es lediglich mit ein paar Wortfetzen und Gesten an, das genügte, um bei den Leuten Eindruck zu schinden.
Überhaupt, dachte Prohaska und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, waren die meisten Menschen leicht zu beeindrucken. Und Ivo war, was Prohaskas Person und seine Fotokunst betraf, zu einem Meister der Andeutungen geworden.
»Du bist ein Künstler und als solcher solltest du eine Aura haben und dein Image pflegen. Du musst geheimnisvoll und unnahbar wirken, vor allem gewissen Damen gegenüber, die dich anhimmeln oder sogar verführen wollen«, dozierte er, wenn sie in dem winzigen Hinterzimmer des Ladens, das als Warenlager und Kaffeeküche diente, Mokka schlürften und rauchten.
»Jetzt bleib aber auf dem Teppich«, hatte Prohaska amüsiert erwidert, als Ivo sich wieder einmal ausmalte, wie reich sie werden könnten, wenn Joe als der beste Portraitfotograf im Land, ja in ganz Europa, berühmt würde und ihn die Reichen und Schönen, oder Filmstars aus Hollywood, die mit ihren dicken Autos und Jachten nach Rovinj kamen, engagierten. Oder das englische Königshaus selbst riefe nach ihm. Prohaska hatte schallend gelacht und versprach, mit aller ihm zur Verfügung stehenden Geisteskraft an seiner Aura und dem Image zu arbeiten.
»Aber die Sache mit dem englischen Königshaus kannst du vergessen. Erstens hat die Queen ihren eigenen Hoffotografen, und zweitens bin ich nicht interessiert.«
Er hatte den Satz leicht durch die Nase gesprochen, eine Augenbraue gehoben und dabei eine unsichtbare Fussel von seinem Jackenärmel geschnippt.
Ivos Herz schlug zwar in alter Familientradition links, aber insgeheim bewunderte er den englischen Hochadel und dessen unermesslichen Reichtum. Schade fand er nur, dass sich die Engländer derzeit vom Kontinent distanzierten und aus der Europäischen Union aussteigen wollten, die ihr Premier Churchill nach dem Zweiten Weltkrieg doch selbst angeregt hatte.
Nachdem sich Bello im Garten ausgetobt hatte, rannte er in die Küche und schlabberte sein Futter in Windeseile auf. Prohaska ging ins Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Aber kaum, dass er sich eingeseift hatte, klingelte sein Handy, das auf dem Toilettendeckel lag. Prohaska ließ es einfach klingeln. Eine Minute später lärmte das Ding schon wieder.
Prohaska drehte das Wasser ab und meldete sich.
»Hey, guten Morgen, habe ich dich etwa geweckt?«, fragte Ivo gut gelaunt.
»Nein, nein, ich war nur schnell unter der Dusche.« Prohaska stieg aus der Duschkabine und wickelte sich in ein Handtuch ein. »Was gibt es?«
»Du hast einen neuen Auftrag.«
»Schön, aber hat es nicht Zeit bis später?«
»Klar, ich war nur neugierig, wie lange du schläfst.«
»Ich bin seit Stunden auf. Was ist es für ein Auftrag?«
»Eine Frau hat angefragt, ob du zwei oder drei Tage Zeit hättest, eine Gruppe von Geschäftsleuten zu begleiten. Sie kommen übermorgen nach Pula und wollen sich nach dem offiziellen Teil Istrien ansehen. Nur die wichtigsten Orte. Du kannst die Route selbst bestimmen und sollst dabei Fotos für ihre Webseite machen.«
»Aha, und wie kommt die ausgerechnet auf mich?«
»Ein Bekannter, der mal hier auf Urlaub war, hat dich empfohlen. Aber du kannst die Leute selbst fragen, wenn sie da sind. Ich habe ihr jedenfalls einen angemessenen Tagessatz genannt, plus Spesen und eventuelle Übernachtungskosten. Die Frau sagte, wenn alles zu ihrer Zufriedenheit läuft, sei das okay.«
Prohaska sagte nichts dazu.
Er trocknete sich ab und ging ins Schlafzimmer. Je länger er Ivo zuhörte, desto weniger Lust hatte er, mit irgendwelchen Geschäftsleuten durch die Gegend zu fahren und den Fremdenführer zu spielen. Andererseits, sagte er sich, während er Unterwäsche und Socken aus dem Schrank kramte und sich anzog, könnten sie das Geld gut gebrauchen.
»Wann kommen sie denn genau an und wo treffe ich sie?«
»Sie schickt mir noch die Infos und Kontaktdaten per E-Mail. Ach ja, ihr schien es sehr wichtig zu sein, dass du ein korrektes Deutsch sprichst.«
Prohaska lachte. »Sonst noch Wünsche?«
»Das hat sie mir nicht verraten. Aber ehrlich gesagt, ich habe sie auch nicht gut verstanden.«
»Wieso?«
»Sie hatte einen starken Akzent und mein Deutsch ist leider etwas eingerostet.«
»Das kommt davon, weil du dich immer auf mich verlässt. Ich bin doch kein Dolmetscher«, sagte Prohaska und kicherte.
»Du kannst gut lachen.«
Prohaska ließ sich auf die Bettkannte fallen.
»War’s das? Ich muss mich anziehen. Wir sehen uns ja nachher.«
»Warte kurz! Hast du schon die Nachrichten gehört?«
»Nein, noch nicht.«
»Letzte Nacht ist in Ičići ein Haus abgebrannt.«
»In Ičići?«, fragte Prohaska. Das Küstenstädtchen lag auf der Ostseite von Istrien, ein paar Kilometer von Opatija entfernt. »Das ist zwar schlimm, aber wieso interessierst du dich dafür?«
Ivo überhörte die Frage geflissentlich und sprach weiter.
»Die Feuerwehr hat immer noch Probleme, die Glutnester einzudämmen. Wenn da erst einmal der Wald brennt, dann gute Nacht.«
»Hoffentlich gab es keine Verletzten.«
»In den Trümmern wurde ein Toter gefunden beziehungsweise das, was von ihm übriggeblieben ist. Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen.«
Prohaska zog sich an und ging in die Küche.
»Und warum erzählst du mir das?«
Ivo räusperte sich.
»Nun, ich dachte, du könntest vielleicht hinfahren und …«
»Ich soll was?«
»… und ein paar Fotos machen. Die könntest du den Zeitungen anbieten.«
»Bist du verrückt geworden? Die haben ihre Fotografen, außerdem sind es hundert Kilometer von hier nach …«
»Zweiundachtzig.«
»Von mir aus, man braucht trotzdem über eine Stunde. Und da es dort noch brennt, wie du gesagt hast, ist das Gelände bestimmt gesperrt. Man kann da nicht einfach reinlatschen und fotografieren. Und außerdem, ich bin kein Paparazzo!«
»Jetzt reg’ dich nicht gleich so auf. Ich dachte nur, bevor du dich in deinem Dorf zu Tode langweilst, wäre das eine gute Möglichkeit …«
»Ivo, vergiss es, okay? Ich langweile mich nie. Und falls du dringend Geld brauchst, sag es einfach, du führst doch die Buchhaltung.«
»Mensch, es geht doch nicht darum, und die Buchhaltung ist auf dem neuesten Stand. Ich dachte nur …«
»Schon gut, du weißt, wie ich das gemeint habe«, sagte Prohaska versöhnlich.
»Kein Problem.«
»Okay, dann bis später.«
»Ach ja, heute sind wieder mal verstärkte Verkehrskontrollen angesagt, also fahr nicht zu schnell.«
»Was du so alles weißt am frühen Morgen.«
»Früh? Es ist fast halb zehn, und es kam vorhin im Radio.«
»Danke für den Hinweis. Ich halte mich an die Vorschriften, meistens jedenfalls.«