Читать книгу Die Sehnsucht der Kormorane - Silvija Hinzmann - Страница 9
Drei
ОглавлениеAls die Böschung am Straßenrand höher wurde, schaltete sie die Scheinwerfer an. Weit unten funkelten die Lichter der Küstenstraße, als wären sie an einer Perlenschnur aufgereiht. Das Meer glänzte im Mondlicht gleichgültig gegenüber allen menschlichen Regungen, ihren Irrungen, Sehnsüchten und Wünschen; heute Nacht sanft wiegend wie eine Kinderwiege, doch manchmal tosend und alles verschlingend, seit Anbeginn der Zeit.
Nach zehn Minuten, in denen sie keinen klaren Gedanken fassen konnte, tauchte die Kreuzung auf, an der sie sich entscheiden musste, ob sie nach Rijeka und von dort ins Landesinnere oder in die entgegengesetzte Richtung fahren sollte. Ihre Hände zitterten, ihr war heiß und kalt, als hätte sie Fieber. Sie hielt in einer Einbuchtung an und stieg aus. Eine kalte Windböe griff nach ihren Haaren. Im Wald, den sie mehr ahnte als sah, rief ein Nachtvogel. Sie ging nach vorne, doch da gaben ihre Knie nach und sie stützte sich an der Motorhaube ab, um nicht umzukippen. Dann erbrach sie sich. Sie wartete, dass ihr Herz zu rasen aufhörte und die Krämpfe nachließen und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. Auf der Hauptstraße raste ein Auto vorbei. Der Fahrer hatte sie bestimmt nicht gesehen. Und falls doch, war es jetzt auch egal. Sie war eine Mörderin. Ihr Schicksal war besiegelt.
Sie wollte nicht an ihre Mutter denken, die so viel durchgemacht hatte und die sie dennoch nie verstanden hatte. Und auch nicht an ihren Vater, der sie vor zehn Jahren wegen einer jüngeren Frau verlassen hatte. Sie wollte auch nicht an ihren Bruder denken, der sie immer zu beschützen versuchte. Nach der Scheidung der Eltern verlor er wie sie selbst für eine lange Zeit den Boden unter den Füßen. Als sie volljährig wurden, zog er aus dem Provinzort nach Rijeka, machte eine Ausbildung zum Physiotherapeuten. Wenn er sich meldete, behauptete er, sie solle sich keine Sorgen machen, es gehe ihm gut. Marina hatte da ihre Zweifel, wollte sich aber nicht in sein Leben einmischen. Als sie sich im Frühjahr nach einem Ferienjob für die Semesterferien umschaute, gab er ihr die Telefonnummer von Vera Haller, in deren Fitnessstudio er aushalf. Und so kam Marina nach Opatija und fing im Plavi kormoran zu jobben an. Sie sahen sich zwar selten, telefonierten aber kurz ab und zu.
Er konnte ihr auch nicht mehr helfen. Es war vorbei. Sie musste ihren Weg allein gehen. Keine Buße konnte ihre Sünden abwaschen, keine tausend Priester wären imstande, ihr Absolution zu erteilen. Wie auch? Das ganze Brimborium um Gott und Götter war eine Farce, ein Riesengeschäft seit dem Moment, als die Menschen sie in ihrer Furcht und Unwissenheit beim Anblick von Blitz und Donner, die vor ihren Höhlen und Behausungen wüteten, erschaffen hatten. Erschaffen mussten. Das Geschäft mit der Angst vor der geheimnisvollen Macht der Natur, vor Geistern und Gespenstern, vor Tod und Teufel und der Hölle funktionierte bis heute und lief wie geschmiert. Von ihr aus sollte jeder glauben, an was und wen er auch immer wollte.
Sie war durch die Hölle gegangen, aber die fürchtete sie nicht. Angst hatte sie nur vor jenen, die sie ausgenutzt, gequält und erniedrigt hatten und die dafür bezahlen würden. Die Hölle konnte ihr gestohlen bleiben.
Als sie wieder im Wagen saß, tippte sie die Adresse ins Navi ein und fuhr los. Sie musste ihr Ziel noch vor Tagesanbruch erreichen.