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7. Als Thomas kaputtging

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»Was ist der Affe für den Menschen?«, fragte Steffen in die Runde. Wenn er im Schlupf seine Freunde um sich versammelte, konnte man den Eindruck gewinnen, Jesus würde seine Jünger beim Abendmahl belehren. In diesem Fall bestand das Mahl aus Käsewürfeln mit Oliven, Pistazien, Bier und Zigaretten. Die Botschaften waren auch nicht sonderlich christlich, doch das wallende Haar passte prima zum Heiland.

Frigga: »Ein Spiegelbild?«

Patrick: »Ein Bettvorleger.«

Jana: »Ich schließ’ mich dem Spiegelbild an.«

Thomas: »Reden wir vom Affen aus Kubricks ›2001‹ oder aus Schaffners ›Planet der Affen‹?«

Steffen: »Weder, noch. Wir reden von Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹.« Er trank einen beträchtlichen Schluck Weizen und zündete zwei Zigaretten an, eine für sich, eine für Frigga, die neben ihm saß. Hier im Schlupf hatte er sie auf den Geschmack gebracht.

Frigga: »Danke. Was ist denn jetzt der Affe für den Menschen?«

Steffen: »Zarathustra sprach: ›Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und eben das soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.‹«

Jana: »Klingt nach Faschismus.«

Steffen: »Als es Faschismus wurde, war Nietzsche längst tot, also hör mir mit der Stigmatisierung auf! Bei Zarathustra geht es um die freie Entfaltung des Geistes, um schöpferische Stärke und den unbändigen Willen zur Macht. Wenn es einen Grund gibt, warum wir auf diesem Planeten sind, dann, dass wir uns ohne jede moralische Einschränkung austoben sollen, und wenn diese Komödie von Gymnasium vorbei ist, dann zeigen wir dem Planeten, wozu wir gemacht sind!« Er sprach auf überschwängliche, prophetische Weise, was dem Alkohol geschuldet sein mochte, aber auch häufig nüchtern der Fall war. An anderen Tagen konnte seine Stimme wiederum so zaghaft sein, dass man meinte, mit zwei verschiedenen Personen zu reden.

An jenem Abend ließ das Abitur nur noch ein paar Wochen auf sich warten. Für Frigga, die nebenbei das Trennungsdrama ihrer Eltern auszublenden versuchte, und die meisten anderen ihres Jahrgangs bedeutete das: Lernstress, verspannte Nacken und das Bedürfnis, sich zum Ausgleich das Hirn wegzusaufen. Nur Steffen tat so, als würde ihn der ganze Schultrubel nicht betreffen. Das Hirn soff er sich trotzdem weg.

Patrick: »Klingt eher nach drei Promille.«

Frigga: »Daumen hoch für die Sache mit der freien Entfaltung. Daumen runter für die Sache mit den Frauen und der Peitsche, mit der ich Nietzsche verbinde. Der Widerspruch liegt ja wohl auf der Hand.«

Steffen: »Bei dir hätte er sich das ganz schnell anders überlegt.«

Frigga: »Vor Schmerz.«

Steffen: »Andere Aussagen lassen Rückschlüsse auf ein ambivalentes Frauenbild zu, falls dich das etwas milder stimmt. Ich leih’ dir mal das Buch.«

Frigga: »Seh’ ich aus, als ob mir ambivalent genügt? Was ist mit dem unbändigen Willen der Frau zur Macht? Mich würde auch interessieren, was die Frauen damals so über Nietzsche gedacht haben.«

Steffen: »Wenn du so fragst, siehst du schon ambivalent aus ... Frigga.« Lachend empfing er ihre Faust an der Schulter. Man musste ihm zugutehalten, dass er als Einziger ohne Rückfragen oder Verzögerung ihre neue Identität angenommen hatte.

Patrick: »Du nennst dich jetzt wirklich Frigga?«

Frigga: »Jawoll, und wer zur Abi-Alternativparty in meine Wohnung kommen will, sollte das ebenfalls tun.«

Jana: »Frigga, Frigga, Frigga!«

Thomas: »Ich hab’s auch schon gesagt, weißt du noch?«

Frigga: »Klar!«

Steffen: »Für das Abfuck-Event des Jahres gibt’s was Besonderes zum Rauchen, was Besseres als das hier. Ich bring’ am besten gleich den Lieferanten mit.«

Jana: »Wollen wir vielleicht erstmal die Prüfungen bestehen, bevor wir uns komplett selbst zerstören?«

Steffen: »Hört, hört! Darauf geb’ ich einen Absinth aus.«

Thomas: »Ich weiß nicht, ob ich den so gut vertrag’.«

Steffen: »Heute wollen wir die Sterne sehen, also enttäusch mich nicht, Hawking!« Er legte ungeschickt einen Arm um Thomas.

Thomas: »Gut, weil du’s bist.«

Steffen und Thomas – ein ungleiches Duo. Seit der fünften Klasse waren sie befreundet. In Sachen Physik, Kosmologie und sonstiger Brillanz beflügelten sie sich gegenseitig. Zur Historie ihrer Freundschaft gehört allerdings auch, dass Thomas oft im Schatten des publikumswirksameren Genies stand.

Nach der zweiten Absinth-Runde wurde Steffens Schatten größer und größer. Sein Kopf rückte näher an Thomas heran. Auch die Runde um sie herum war gewachsen, mit Vertretern ihres Jahresgangs und fremden Schnapsdrosseln. Geschrumpft waren hingegen die Hemmungen, sodass es bald zu einem kollektiven Gelalle und punktuellen Gefummel kam. Zu Friggas Entsetzen war Jana eine der fummelnden Personen. Sie vergnügte sich mit einem Fremden, der deutlich älter und angeblich Fernfahrer war. Noch peinlicher erschien Frigga, was Steffen vor aller Augen veranstaltete: Er verpasste Thomas einen klatschnassen Zungenkuss. Thomas wusste nicht, wie ihm geschah. Er erstarrte. Was für Steffen ein nonkonformistisches Trinkspiel war, überforderte ihn in jeglicher Hinsicht: verbal, geistig, emotional. Mit schiefer Brille torkelte er vor die Tür.

Auf der Terrasse fand der denkwürdige Absinth-Abend seine Fortsetzung, nachdem auch die übrige Tischgesellschaft ins Freie umgezogen war. Steffen drängte sich diversen Gästen auf, Frigga rauchte am Geländer vor dem Stadtgraben, Patrick kotzte von der anderen Seite in den Graben hinein, Jana ließ sich heimlich von dem Fremden fingern und Thomas begann, sich an Kopf, Hals und Schultern zu kratzen. Seine Haut, die an diesen Stellen schon vorher gerötet gewesen war, juckte nun wie tausend Mückenstiche. Am Haaransatz schabte er sich so sehr auf, dass rote Rinnsale an Stirn und Schläfen herunterliefen.

»Thomas, du blutest ja!«, stellte Frigga fest, wobei sie sich kurz fragte, ob sie an Steffens Jünger eine Dornenkronen-Halluzination sah. Ihr Adlerauge erkannte, dass ihr Freund Hilfe brauchte. Kurzentschlossen hakte sie sich in seinen Arm, zog ihn aus der Menge und brachte ihn im Zickzack nach Hause. Am Eingang der »Bumsbruchbude« fragte sie, ob er klarkäme. Thomas nickte und meinte, er müsse sich nur waschen. Frigga verabschiedete sich, um ihren nochmals langen und steilen Zickzackweg ins Neubaugebiet anzutreten. Einen Vorteil hatte der Fußmarsch: Danach war sie schon wieder halbwegs ausgenüchtert.

Am nächsten Tag erfuhr sie, dass Thomas ins Klinikum gebracht wurde. Erinnerungen an die eigene Krankenhauszeit schossen ihr durch den verkaterten Schädel: der Tropf, die Salben, die Umschläge und die Tabletten aus einem Tagesspender, den sie sonst nur von ihren Großeltern kannte. Thomas erhielt eine zermürbende Kortisonbehandlung, dazu eine Lichttherapie für die Haut und eine Gesprächsstunde für die Psyche. Mit der Diagnose, die verkürzt »Abiturstress« lautete, war er nicht zufrieden, behielt den Einwand aber für sich. Er fand sich damit ab, ein tendenziell kaputter Mensch zu sein. Schließlich gab es Schlimmeres als Neurodermitis, wie man an Stephen Hawking sah. Selbst dieser ließ sich nicht davon abhalten, die Geheimnisse des Universums zu ergründen. Das Problem war nur, dass Thomas dazu neigte, die Geheimnisse seines eigenen Universums vor sich selbst zu verschleiern.

Einen Hinweis darauf erhielt er von Jan, seinem Zimmergenossen in der Klinik. Jan litt an einer monströsen Schuppenflechte. Sie machte sich in Form von abgelösten Hautfetzen auf dem Zimmerboden breit und musste täglich vom Reinigungspersonal weggeschippt werden. Davon abgesehen war Jan ein anziehender Mensch. Thomas spürte die Gravitation zwischen ihnen. Er konnte mit Jan besser als mit Steffen reden. Umgekehrt war Jan so offen wie zu niemandem zuvor. Er erzählte Thomas von seinem Austritt aus einer Straßengang, der ihm fast das Leben gekostet hätte, und seinem Traum, ein berühmter Hip-Hopper zu werden. Auf dem Krankenbett rappte er für Thomas selbstgeschriebene Lieder: Songs über gesellschaftliche Missstände, menschliches Fehlverhalten, Freundschaft und Liebe. Thomas war berührt, verstand Jans Musik als einen anderen, aber gleichermaßen wertvollen Weg, um den großen Sinnfragen nachzuspüren. Darüber hinaus hatte er noch nie einen Menschen gesehen, aus dem so viel innere Schönheit strahlte. Dank Jan fühlte sich Thomas geheilt, vollständig, frei – so glücklich, wie er sich noch nie zuvor gefühlt hatte. Dank Jan war er bald richtig kaputt.

Die Kaputten

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