Читать книгу Die Kaputten - Simon Krappmann - Страница 6
3. Als Frieda kaputtging
ОглавлениеDem Klang nach fiel erst ein Regal um, dann eine Person, dann zerschellte Porzellan an der Wand. Auf der anderen Seite jener Wand begann Friedas Wohnung. Sie lebte neben ihren Eltern Sonja und Kai im fünften Stock eines Blocks, oben im alten Neubaugebiet, wo der Blick talwärts über die Meininger Innenstadt reicht. Zu DDR-Zeiten hatte der Bau als funktional und topmodern gegolten, dem Geist des Bauhauses entsprechend. Langsam setzte jedoch eine gewisse urbane Ghettoisierung ein, nicht mehr dem Geist des Bauhauses entsprechend. Sie wohnten trotzdem noch dort, denn die Miete war niedrig und der Weg zur Arbeit kurz. Friedas Bruder Daniel war schon weggezogen, um »was mit Medien« zu studieren. Seine Wohnung hatte Frieda mit sechzehn übernommen: ein helles Zwei-Zimmer-Appartement neben der größeren Elternbehausung, sozusagen ein riesiges ausgelagertes Zimmer mit kompletter Selbstversorgung. Eigentlich paradiesisch. Bis heute wohnt sie dort.
Frieda schnaufte. Um sie herum lagen Hefte und Ordner in einem Chaos, das nur das Genie beherrscht. Allerdings war sie kein Genie, nicht so wie Steffen. Intelligent ja, Genie nein. Das hieß, sie musste für das heranrückende Abitur pauken. Ein halbes Jahr noch. In ihrem Mathe-Leistungskurs, in dem auch Steffen und Thomas waren, gehörte sie zu den Besten, aber nur wegen ihres Ehrgeizes, der manchmal an Besessenheit grenzte. Im Vergleich zu Steffen hatte sie die besseren Noten, schlichtweg, weil dieser sich keine Mühe gab. Er schaffte es trotzdem auf Anhieb in den Zweierbereich.
Wenn Frieda nicht endlich ihre Ruhe bekam, würde sie auch in den Zweierbereich abrutschen, befürchtete sie. Bei dem Lärm nebenan sehr wahrscheinlich. Sie kochte innerlich. Es war ja nicht so, dass Fächer wie Mathe oder Physik viel Spielraum zum Interpretieren ließen, nicht wie Janas Deutschkurs. Und erst Jahre nach dem Abi erkannte Frieda, dass Deutsch ihr größeres Talent war. Zwar sollte sie zu einer der Jahrgangsbesten werden, doch in den Monaten vor den Prüfungen steckte sie in einer fundamentalen Krise.
Ihr reichte es, wieder einmal. Sie trampelte so entschlossen in Richtung Wohnungstür, dass es beim Nachbarn mit der Bulldogge unter ihr wummerte. Auf ihrem Weg überquerte sie den weißen Teppich, der sich mittlerweile wie eine Landkarte der Oberstufenzeit las: Zeugnisse diverser Feiern als Kontrast zum Lernen, darunter Bier- und Weinflecken, Bleispuren von Silvester und Blutspuren von Patrick. Manchmal hatte die Intensität der Besäufnisse überhandgenommen, wobei das nie Friedas Absicht war. Sie wollte in erster Linie eine Sphäre mit Gleichgesinnten, ein Refugium fernab der Nullachtfünfzehn-Disko. »Let Your Spirit Soar« hatte sie anfangs auf ein Schild im Wohnzimmer geschrieben, aber das hatte nur Thomas bemerkt.
Der scharfkantige Schlüssel klimperte, als Frieda im Etagenflur zwischen den Wohnungen wechselte. Sie rammte ihn wie eine Waffe in die Nachbartür und marschierte zum Schlafzimmer, aus dem eine Männerstimme und ein Schluchzen drangen.
»Könnt ihr mal die Fresse halten, ich versuch’, zu lernen!«, brüllte sie.
Kai: »So redest du nicht mit uns, junges Fräulein!« Er stand in der Raummitte. Vor ihm hockte Sonja zusammengekauert auf dem Boden.
Frieda: »Kannst mich ja auch hauen, du misogyner Machtfetischist!«
Kai: »Ich hab’ hier niemanden gehauen, das ist Verleumdung! Wenn du es wagst, so eine rotzfreche Behauptung aufzustellen, werde ich dagegen vorgehen, das kannst du aber ... was ist denn mit deinem Auge los? Hattest du heute schon eine Schlägerei?«
Zu diesem Zeitpunkt befand sich Frieda in der mittleren Phase des Gesichtsrosen-Wachstums: der Schwellung, kurz vor dem Einsetzen des Drucks.
Frieda: »Ja, und ich hab’ gewonnen. Wenn du meinen Gegner sehen willst, musst du ins Krankenhaus fahren.«
Sonja: »Was? Nein!« Beschämt wischte sie sich die Tränen vom Gesicht.
Frieda: »Nein.«
Sonja: »Du machst uns Sorgen, mein Kind.«
Frieda: »Vielleicht hab’ ich den Ausschlag ja von einer gewissen Person geerbt. Wär’ doch möglich, holder Herpeskönig.«
Kai: »Nenn mich nicht Herpeskönig, das ist respektlos!«
Frieda: »Richtig. Aber noch viel respektloser ist, wenn man seine Ehefrau betrügt, und zwar nicht mit irgendwem, sondern mit der Freundin der Ehefrau, die auch noch die Mutter der Freundin der eigenen Tochter ist. Oder ist das auch Verleumdung?«
Kai: »Hä, was? Das geht nur uns Erwachsene was an, halt dich da gefälligst raus!«
Frieda: »Versuch’ ich ja, ist aber schwer, wenn ich ständig Christine sehe. Dann frag’ ich mich immer, ob du’s ihr gerade mit deinem Lurch besorgt hast.«
Kai: »Raus hier, oder ich vergess’ mich! Sofort!«
Frieda: »Ist gut, ich geh’ wieder, bitte nicht hauen! Nur dafür, dass ich lernen muss, könnten zwei Lehrer mehr Verständnis haben. Sonst lieg’ ich euch noch lange auf der Tasche. Oder, was noch ’ne viel bessere Lösung wär’: Ich spring’ drüben gleich vom Balkon, dann könnt ihr in Ruhe bis in alle Ewigkeit zoffen. Ade, beschissenes Leben ohne Sinn! Letzten Endes bin ich eh nur auf der Welt, weil ihr gefickt habt!«
Vier fassungslose Augen starrten Frieda bei ihrem Abgang hinterher. Für ein besseres Verständnis der Lage: Sonja war zu dieser Zeit sechsundvierzig, Lehrerin an Friedas Gymnasium und seit Jahren vergebens auf der Suche nach innerfamiliärer Harmonie. Kai war achtundvierzig, Lehrer an der Regelschule, übertrieben muskulös und in einer Liaison mit Janas Mutter. Sonja wusste längst davon, hätte es aber nicht von sich aus angesprochen. Letztlich wusste jeder davon, denn Kai verhielt sich alles andere als geschickt. Seine Affäre war ein Symptom für das baldige Zerbrechen der Ehe: erst das Fremdgehen, dann das Kaputtgehen, wie auch umgekehrt. Die Trennung folgte im nächsten Frühjahr, die Scheidung ein weiteres Jahr danach.
Frieda konnte sich nach dem Eklat nicht mehr konzentrieren. Sie nahm ihr Schreibheft und floh aus der Etage, dem Wohnblock, dem Neubaugebiet. In solchen Situationen war der Englische Garten zwischen Bahnhof und Staatstheater ihre Zuflucht. Da Frieda im tiefsten Inneren romantisch war, verbrachte sie selbst im Herbst und Winter etliche Stunden dort, am Teich und bei den Gräbern an der Herzoglichen Gruftkapelle. Dort schrieb sie Gedichte, die sie niemandem außer Jana zeigte.
Ihr nächstes Gedicht entstand aber nicht an jenem Tag, sondern zwei Wochen später im Klinikum. Ihr Auge war schon hinüber, auch durch eine Notoperation nicht mehr zu retten. Bei aller Verspätung seitens Frieda hatten die Ärzte dann noch versucht, den Viren mit der Standardprozedur beizukommen: Virostatika-Infusionen, dazu antimikrobielle Salbungen, Schwarzteeumschläge und eine analgetische Ibuprofen-Therapie. Mittendrin brach das Auge zusammen, völlig überraschend in einer sternenklaren Nacht.
An die rechtsseitige Finsternis gewöhnte sich Frieda ebenso überraschend schnell. Vom Krankenbett aus visierte sie mit dem linken Auge alle möglichen Details an: Kanten, Risse, Flecken, Lichtspiegelungen. Sie bestaunte all die Dinge, die sie im Normalzustand gar nicht wahrgenommen hätte. Überhaupt fühlte sich Frieda als Patientin unerhört wohl. Sie war auf Distanz zu ihren Eltern und dem Abistress, wenigstens für eine Weile. Sie hatte Zeit für sich, bekam Besuch von ihren Freunden und pimpte ihre Mahlzeiten mit mitgebrachten Snacks. So frei wie im Krankenhaus war sie schon lange nicht mehr gewesen.
»Ich hab’ sogar ein neues Gedicht geschrieben«, verkündete sie Jana beim Spaziergang durch den Klinikpark.
Jana: »Hast du’s dabei?«
Frigga: »Zufällig ja.«
Jana: »Bin ganz Ohr.«
Frigga: »Aber nicht lachen! Es ist sentimental. Ich stand unter Drogen.«
Jana: »Ich kenn’ doch dein wahres Ich.«
Frigga: »Also gut, ich verlese ...
Der Name der Gesichtsrose
Im Körper wohnt der Geist, vielseitig und still,
wie ein Schatz aus Büchern in einem Kloster.
Doch schlummert auch ein Virus namens Zoster
wie Gift an den Seiten, die ich lesen will.
Wenn das Chaos der Welt in das Kloster dringt,
sieht der Zoster die Zeit herangekommen,
dann steigt er aus den Tiefen, erst verschwommen,
bis er fern der Mauern die Dunkelheit bringt.
Mir scheint, dass zu leben mit Schmerz getränkt ist.
Schönheit und Verfall gehören zusammen.
Auf dass der eitle Mensch das niemals vergisst.
Und steht selbst die Bibliothek in Flammen,
wahrt unbrennbar den Schatz noch der Humorist,
der ahnt, welcher Welt wir wirklich entstammen.
Fertig.«
Jana: »Ja, nicht schlecht, für einen Mathe-LKler. Hast du ein Sonett geschrieben?«
Frigga: »Wenn du es bestätigst, dann muss es tatsächlich ein Sonett sein.«
Jana: »Reimschema dürfte passen. Die Metrik holpert etwas, aber ich will mal ein Auge zudrücken ... verdammt, das hab’ ich nicht so gemeint!«
Frigga: »Schau mir ins Auge, Kleine!«
Jana: »Ein Glück, dass der Humorist in deinem Sonett vorkommt. Hab’ ich das richtig verstanden, dass du jetzt auch eine andere Welt hinter der sichtbaren für möglich hältst?«
Frigga: »Wie gesagt, ich stand unter Drogen.«
Jana: »Na klar, mein Einauge.« Sie nahm Frieda in den Arm.
Das war in aller Kürze die Geschichte, wie Frieda kaputtging. Es dauerte noch eine Weile, bis sie ihren Namen in Frigga änderte. Eher zufällig stolperte sie bei ihren Recherchen zur Einäugigkeit über den schwedischen Siebziger-Jahre-Streifen, der je nach Version auch »They Call Her One Eye« genannt wird. Die Hauptfigur heißt entweder Madeleine oder Frigga, alles etwas verwirrend. Frigga passte aber ganz gut, weil Frieda nur »ed« durch »gg« ersetzen musste und der Anklang nordischer Mythologie ein kühles, kraftvolles Echo nach sich zog: Frigg oder Frigga als höchste Göttin, die Gemahlin Odins, der wiederum ein Auge für einen Schluck aus Mimirs Brunnen der Weisheit geopfert hatte. Passte doppelt gut.
»Unter den Blinden ist die Einäugige Königin«, amüsierte sich Steffen, nachdem Frieda aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Ihre neue Asymmetrie beeindruckte ihn, und es war nicht leicht, Steffen zu beeindrucken. Thomas begann, viele Fragen zu stellen: Wie sich das anfühle. Antwort: Komisch. Ob sie ein Glasauge bekomme. Antwort: Nein. Ob sich das Auge noch mitbewege. Antwort: Ja. Ob sie noch dreidimensional sehen könne. Antwort: Kaum. Ob sie das Märchen »Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein« der Brüder Grimm kenne. Antwort: Vage. Ob sie sein Taschenteleskop benutzen wolle. Antwort: Okay. So äußerte er seine Anteilnahme. Jana übertrieb es zunächst mit ihrer Fürsorge, nahm Frieda beim Überqueren jeder Straße an die Hand, beinahe so, als wäre sie komplett blind. Aber das pendelte sich ein, und schon bald waren die vier enger denn je miteinander verbunden. Eine Einheit, die scheinbar nichts auf der Welt trennen konnte.