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6. Godspeed

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»U-U-U-A-A-A«, dringt es aus einem dunklen Schlund, vergleichbar mit dem Zombie-Stöhnen aus Friggas Horrorklassiker. Thomas muss so stark gähnen, dass seine Brille verrutscht. Wie befürchtet, hatte er den Rest der Nacht kaum geschlafen. Vormittags konnte er erst recht kein Auge schließen, einerseits wegen der Angst, die Abfahrt zu verpassen, andererseits wegen des Gerumpels seiner Eltern. Auf dem Bahnhofsvorplatz justiert er nun die Brille, während er auf seine Freunde wartet. Den DDR-Wanderschrank hat er neben sich abgestellt. Dank der Metallkonstruktion steht dieser selbst mit außen angebundenem Zelt stabil. Oberhalb hat Thomas noch Platz für Janas Beigaben gelassen, ansonsten ist der Rucksack voll. Die Traglast beträgt mehr als zwanzig Kilo, was bedeutet, dass Thomas rund hundert Kilo wiegen müsste, um im empfohlenen Verhältnis zum Packgewicht zu stehen. Davon ist der »Spargel« weit entfernt.

Als Erste schreitet ihm Frigga in schwarzer Allwetterjacke und blauer Jeans entgegen. Sie kommt aus dem Englischen Garten, dessen Baumlandschaft gegenüber vom Bahnhof endet. Auf dem Rücken trägt sie ein ähnliches Gepäckmonster wie Thomas, wenn auch moderner. Ihre Schultern leiden schon jetzt.

»Hab’ noch schnell die Krankschreibung in den Briefkasten geworfen«, schnauft sie Thomas zu.

Thomas: »Sehr gut! Ich hab’ einen Schottenrock.«

Frigga: »Echt?«

Thomas: »Von Helga. Zieh’ ich aber erst in Schottland an.«

Frigga: »Geil! Kann’s kaum erwarten.«

Thomas: »Weißt du, wann Jana kommt? Nicht, dass sie’s vergessen hat.«

Frigga: »Ich würde sagen: Jetzt!«

In diesem Moment biegt Christines Auto auf den Vorplatz ab, mit Christine am Steuer, Jana daneben und allerlei Zeugs auf den Rücksitzen. Der Wagen hält neben Thomas und Frigga.

»Latha math!«, jauchzt Christine zur Begrüßung. »Das heißt ›Guten Tag‹ auf Schottisch-Gälisch. ›Hello‹ tut’s aber auch.«

Jana: »Mum!«

Frigga: »How are you?«

Christine: »Fine, thanks. So ist es richtig, immer mit Fragen zum Wohlbefinden und etwas Smalltalk einsteigen. Das mögen die Briten.«

Frigga: »Darin bin ich Meisterin.«

Christine: »Great! Dann verteilen wir mal die bestellte Ware.«

Jana schnallt ihr Gepäck von der Rückbank, den kleinsten und einzigen einigermaßen korrekt gepackten Rucksack. Beinahe mitleidvoll überreicht sie die Schlafsäcke und Isomatten an ihre Freunde. Das Doppelzelt teilt sie auf: Frigga erhält das Gestänge, sie selbst nimmt das Innen- und Außenzelt sowie die Heringe.

Zu viert gehen sie ans Gleis. Da sich Christine noch nicht abwimmeln lässt, muss Jana durch die Blume sprechen: »Wart ihr gestern Nacht schön brav in euren Betten und habt Schlaf vorgetankt?«

Frigga und Thomas sehen sich zerknirscht an.

Thomas: »Innerhalb des Multiversums ist das in mindestens einem Universum der Fall gewesen.«

Jana: »Hoffentlich in unserem.«

Frigga: »Selbstverständlich in unserem ... Multiversum.«

Jana: »Ich fass’ es nicht!«

Christine: »Na, was ist denn das für ein Auftakt! Jana, hast du vor Aufregung schlecht geschlafen?«

Frigga: »Genau, Jana, zeig mal ein bisschen britische Höflichkeit!«

Jana: »Eure Sache!«

Die Südthüringenbahn kommt mit moderater Verspätung. Christine lässt es sich nicht nehmen, allen ein Küsschen zu geben und ein veraltetes »Godspeed!« für eine gute Reise zu wünschen. Von einem Vierersitz winken sie ihr zu, als die Bahn auch schon losrollt. So fahren sie davon, drei Abenteurer, die es in die Höhenlande zieht. Drei und ein Rest, um korrekt zu sein.

Das Abteil ist nahezu leer. Jana starrt Frigga an, die ihr am Fenster gegenübersitzt. Es handelt sich um den typischen Ich-kann-es-nicht-fassen-dass-du-die-Urne-unseres-Freundes-ausgegraben-hast-Blick. Momentan hat Jana das Gefühl, im falschen Film oder Universum zu sein.

»Gehst du noch zur Psychologin?«, fragt sie mit vorwurfsvollem Unterton.

Frigga: »Ja, wobei ich weniger von ›noch‹ sprechen würde, eher von ›wieder‹. Letztes Jahr gab es einen ... Vorfall, seitdem geh’ ich wieder hin.«

Jana: »Ich frag’ besser nicht.«

Frigga: »Besser nicht.«

Jana: »Kann sie dir helfen?«

Frigga: »Jein, würde ich sagen, meistens nur für die Dauer bis zum nächsten Termin. Das Schlimme daran ist, dass sie wirklich nett zu mir ist, was sie zu meiner mentalen Tankstelle macht.«

Jana: »Dieses Ungeheuer, wie kann sie nur!«

Frigga: »So geht halt alles weiter wie gehabt, ohne echte Veränderung. Ich weiß nicht, ob das der richtige Weg ist. Meine Kopfhaut schuppt auch wieder wie Hölle, seht ihr?« Sie rubbelt durch ihr Haar, woraufhin leise der Schnee auf den Boden der Südthüringenbahn rieselt.

Jana: »Nicht zu übersehen. Du brauchst eine Kur.«

Frigga: »Betrachten wir doch die nächsten Tage einfach als solche.«

Jana: »Gerne. Langfristig solltest du vielleicht endlich Meiningen verlassen, außer, das Staatsarchiv bietet dir den besten Job der Welt.« Der Satz zielt in eine offene Wunde, aber Jana ist gerade nicht auf Kuschelkurs.

Frigga: »Wenn du das daran bemisst, wie viel mir an Ruhe, Zurückgezogenheit und Zeit für andere Dinge bleibt, dann ist der Job nicht schlecht. Auf Dauer ertrag’ ich das aber nicht.«

Die zentrale Frigga-Frage, die seit Jahren unbeantwortet im Raum steht, lautet: Warum hat ein intelligenter, freiheitliebender Mensch wie sie nicht die erste Chance ergriffen, um nach dem Abi in die Welt zu ziehen und zu studieren? Jana und andere Personen rätseln bis heute darüber. Folgende drei Thesen kursieren: Erstens, dass sich die nihilistisch geneigte Frigga für kein Studienfach begeistern konnte, schon gar nicht für den nervtötenden Weltverbesserungsgeist schwadronierender Erstsemester. Zweitens, dass sie Sonja nicht im Stich lassen wollte, die nach der Trennung von Kai in ein Schwarzes Loch aus Einsamkeit und Depression stürzte. Drittens, dass Frigga trotz ihres selbstbewussten Auftretens Angst vor der Welt hatte. Zwar stellte sie auf der Bühne Meiningens öfter ihr Rächerin-in-Schwarz-Kostüm zur Schau, traute sich aber womöglich nicht in den großen Zirkus, in dem sie nur eine Kuriosität ohne Kontext wäre. Die Antwort auf die Frigga-Frage könnte auch eine Mischung aus allen drei Thesen sein.

Frigga: »Der Vorteil ist, dass ich schon Kohle verdiene. Darauf geb’ ich in Schottland jede Menge Ale und Haggis aus.«

Jana: »Mal sehen.«

Frigga: »Wisst ihr denn schon, was ihr nach dem Studium machen wollt?«

Jana: »Nope.«

Thomas: »Nicht so genau.«

Frigga: »Ach, Thomas, ist doch klar, dass du Professor wirst, der die Relativitätstheorie mit der Quantenphysik versöhnt und den Nobelpreis absahnt. Du machst wahr, woran Steffen nicht mehr geglaubt hat.«

Thomas: »Das würde mich freuen. Aber wisst ihr, was ich mich wegen Zeit und Raum gerade frage? Wann und wo wir umsteigen.«

Jana: »Eine brillante Frage, so pragmatisch, ich bin stolz auf dich! Wir steigen in einer Stunde in Eisenach in einen ICE, der uns nach Frankfurt bringt, wo wir ein Shuttle nach Frankfurt-Hahn nehmen. Ich hab’ noch nicht raus, warum das Shuttle so lange zum Flughafen braucht, aber uns bleibt genug Zeit für den Check-In. Wenn uns die Security nicht abführt, weil wir einen Toten transportieren, dürften wir gegen zweiundzwanzig Uhr abheben.«

Thomas: »Danke.«

Frigga: »Laffa maff, oder so ähnlich. Danke dir, Jana.«

Gesagt, getan. In der Wartburgstadt wechseln sie in das komfortablere Gefährt, in dem sich Thomas und Frigga ein ausgiebiges Nickerchen gönnen. Jana macht sich mit dem Reiseführer vertraut, insbesondere dem Anfang des West Highland Ways. Er beginnt nicht in Glasgows Stadtmitte, sondern mehr als zehn Kilometer nördlich in der Vorstadt Milngavie. Bis sie dort ankommen, dürfte es sogar mit zurückgestellter Stunde weit nach Mitternacht sein. Ob das alles eine gute Idee ist? Ein Trip mit zwei Schnarchenden, die schon jetzt übermüdet sind, weil sie in der Nacht auf einem Friedhof graben mussten? Jana ächzt, bemüht sich aber, ihre Sorgen in Thüringen zu lassen.

»Guckt mal, die Skyline!«, rüttelt sie an Frigga und Thomas.

Frigga: »Skye, Isle, was?«

Thomas: »Hui, da ist schon Frankfurt.«

Jana: »Los, ihr Schlafmützen, lasst uns zusammenpacken!«

Frigga: »Jawoll, Chefin! Wir haben Gehorsam geschworen.«

Allerdings braucht Frigga noch eine Minute, denn ihr Adlerauge ist wie gebannt auf die Hochhäuser gerichtet. Was sie bei diesem Anblick empfindet, kann als Indiz für die dritte These verstanden werden: Angst vor der Welt. Sie fühlt sich auf einmal winzig, provinziell, hineingeworfen in eine Wirklichkeit, die weit über das Walten einzelner Menschen hinausgeht. Man kann sagen: Frankfurt weckt Friggas existenzielles Grundempfinden. Die Stadt kommt ihr wie ein gigantischer Glas-und-Stahl-Organismus vor, in dem menschliche Mikroben ihre Arbeit verrichten. Welch eine Erleichterung, dass sie diese Kulisse bald gegen die einsamen Hügel Schottlands eintauschen darf.

Der Hauptbahnhof ist am Nachmittag mäßig gefüllt, dennoch sind die drei überwältigt. Jana versucht, die vielen Eindrücke auszublenden und die nächste Station anzuvisieren. Frigga schlussfolgert aus den Blicken vorübergehender Fremder, dass sie selbst in Frankfurt ein Freak ist. Thomas verliert vor Staunen jede Orientierung.

»Frigga, schau mal hier«, bittet Jana mit der ausgedruckten Reiseverbindung in den Händen, »das müsste doch bei diesem Ausgang sein, oder was meinst du?« Sie bleiben vor einer Buchhandlung stehen und grübeln.

Frigga: »Sieht so aus. Scheiße, ist hier ein Betrieb!«

Jana: »Thomas, deine Drittmeinung bitte!«

Schweigen.

Jana: »Thomas?«

Frigga: »Schlechte Neuigkeiten: kein Thomas.«

Es scheint, als wäre ihr zartbesaiteter Mitreisender einfach so von der Menge verschluckt worden. Hastig drehen sich Jana und Frigga in alle Richtungen, suchen vor allem nach dem überdimensionierten Wanderrucksack. Kein Thomas.

Frigga: »Wir müssen wie er denken.«

Jana: »Dann los!«

Frigga: »Also, ich bin Thomas, andersartig, irritiert, abgelenkt, spontan begeistert ... ja, das ist es! Ich sehe etwas, das mich begeistert, und muss sofort hingehen. Nur was?«

Jana: »Bücher!«

Frigga: »Genau, der Buchladen!«

Mit einem Gespür, das nur wahre Freunde füreinander entwickeln können, finden sie Thomas wenige Meter entfernt in einem toten Winkel der Buchhandlung.

Frigga: »Frecher Hawking, wir haben dich gesucht!«

Thomas: »Seht mal, der echte Hawking! Die haben hier ›Die kürzeste Geschichte der Zeit‹, das ist die aktualisierte Kurzfassung von ›Eine kurze Geschichte der Zeit‹.«

Frigga: »Ist sie kürzer?«

Thomas: »Ja!«

Jana: »Du kannst doch nicht einfach verschwinden, ohne dich von der Reiseleitung abzumelden!«

Thomas: »Oh, Entschuldigung!«

Jana: »Will ich auch meinen!«

Frigga: »Hey, ich schlag’ vor, du kaufst dir das Buch auf dem Rückweg, als Andenken.«

Thomas: »Tut mir echt leid. Ich war total in Gedanken.«

Als ihm sein unsoziales Verhalten bewusst wird, wirkt er plötzlich betreten. Es fällt ihm schwer, noch Worte zu finden. Er schwitzt, schnauft und kratzt sich an der Stirn. Der Tadel trifft ihn tiefer, als Jana beabsichtigt hat.

Frigga: »Komm, Hawking, ist ja nix passiert. Wir passen doch aufeinander auf.« Sie nimmt ihn an die Hand. Beim Verlassen des Ladens streicht sie mit der anderen Hand über seine Stirn. »Das lässt du mal schön bleiben. Diese Zeiten sind vorbei.«

Die Kaputten

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