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5. Friedhof der Raubtiere
ОглавлениеAls Kind dachte Thomas, die Toten in den kleinen, quadratischen Gräbern wären senkrecht beerdigt worden, vielleicht aus Platzgründen. Er hielt das für plausibel, aber es ist natürlich Quatsch. Nervös schleicht er an der Nordmauer hin und her, bis ihm Frigga zu Fuß entgegenkommt. Trotz seiner Brille erkennt er sie erst von nahem. Mit ihrem schwarzen Mantel ist sie im Dunkeln nahezu unsichtbar, wie eine nachtaktive Superheldin in Südthüringens Gotham. Oder eine Superschurkin in dieser Nacht. Sie trägt eine ausgebeulte Tasche um die Schulter, sehr verdächtig. Allerdings ist niemand in der Nähe, den das interessieren würde.
»Hey«, grüßt sie wie zuvor im Schlupfwinkel. »Bereit für die Bergung?«
Thomas: »Ja ... nein ... vielleicht. Ich werd’ nachher kein Auge zukriegen.«
Frigga: »Dafür schläfst du die erste Nacht in Schottland wie ein Baby.«
Thomas: »Wann treffen wir uns nochmal?«
Frigga: »Kurz nach zwölf am Bahnhof, hat Jana gesagt. Der Flieger startet erst am späten Abend. Du kannst also vormittags noch pennen, während ich in aller Frühe die Arztpraxis aufsuche.«
Thomas: »Bist du denn bereit für die Bergung?«
Frigga: »Ja-nein-vielleicht. Ich hab’ ein scheiß Herzklopfen. Bringen wir’s schnell hinter uns. Steffen braucht unsere Hilfe.«
Wie Schatten bewegen sie sich an der Mauer entlang. An einer günstigen Stelle klettern sie hoch und hüpfen ins noch tiefere Schwarz des Friedhofsgeländes. Thomas führt Frigga am Originalschauplatz von »Showdown in Meiningen« vorbei. Hinter der Trauerhalle folgen sie einem Pfad, der zu einigen frischen Gräbern führt. Steffens provisorisches Holzkreuz steht ganz außen an einem Quadrat voller Blumen, auf die der Mond sein sanftes Silberlicht wirft.
»Angekommen«, flüstert Thomas, als könnte sie doch jemand hören.
»Noch lange nicht«, hält Frigga entgegen, »wir starten erst.« Sie öffnet die Tasche und zieht zwei Handschaufeln heraus. Eine streckt sie Thomas entgegen.
Thomas: »Hoffentlich wird das nicht so steinig wie bei ›Friedhof der Kuscheltiere‹ von Stephen King. Das wär’ anstrengend.«
Frigga: »Unwahrscheinlich. Die Erde ist frisch aufgefüllt und nassgeregnet.«
Thomas: »Stimmt. Blöd von mir.«
Frigga: »Gar nicht, ich liebe das Buch und die Filme. Wenn wir ehrlich sind, liegen hier doch auch nur Tiere, wilde Raubtiere, die sich im Leben vorgemacht haben, was anderes zu sein.«
Thomas: »Meinst du auch Steffen?«
Frigga: »Steffen war so sehr Raubtier, dass er sich selbst gefressen hat.«
Thomas: »Möge er in Frieden ruhen. Ich würde vorschlagen, dass wir die Gestecke parallel nach links und rechts verschieben, damit wir sie präzise zurückstellen können.«
Frigga: »Und die Erde schichten wir ausschließlich hier vorne auf. Guter Plan, als wären wir ein einziges Gehirn. Wir müssen ungefähr achtzig Zentimeter tief graben, das hab’ ich vor dem Losgehen noch im Netz gelesen, für den Fall, dass du’s bei der Beisetzung nicht gesehen hast.«
Thomas: »Solche Suchverläufe kann die Polizei nachvollziehen.«
Frigga: »Fuck, du hast Recht!«
Thomas: »Lösch nachher die Chronik, das hilft schon mal ein bisschen.«
Frigga: »Oder ich bleib’ auf der Isle of Skye und werd’ Einsiedlerin.«
Thomas: »Oder wir arbeiten einfach extrem präzise, damit man nichts von der Grabung sieht.«
Frigga: »Ja, richtig, ran an den Dreck! Ich zieh’ mir nur noch den Mantel aus.«
Mit extremer Präzision tragen sie die Gestecke beiseite. Thomas hat sich für die rechte Seite entschieden, damit Frigga die zu ihrem gesunden Auge passende Seite erhält. Thomas denkt nämlich mehr an andere, als die anderen, die ihn oft für einen Autisten halten, vermuten würden.
Hinter der freigelegten Fläche knien sie sich an das Kreuz und beginnen, die Erde zur vorderen Seite wegzuschaufeln. Der Boden leistet kaum Widerstand. Er fühlt sich weich und feucht an. Bald schon klebt er den Totengräbern an Hosen und Oberteilen. Schweigend schaufeln sie sich in die Tiefe, während das kosmische Einauge weiter sein Silber auf ihre Rücken wirft. Sie versinken in Gedanken. Thomas überschlägt, wie tief sie schon sind. Er hofft, dass sie tatsächlich niemand beobachtet, und fragt sich, wie er seinen Eltern die dreckigen Klamotten erklären soll. Am besten wäscht er sie noch in der Nacht. Frigga fragt sich bei jedem neuen Stich ins Erdreich, ob sie gleich auf Widerstand stößt. Die Urne muss nicht zwingend achtzig Zentimeter tief liegen, das war nur ein Richtwert. Jede Schaufelladung treibt Friggas Adrenalinspiegel in die Höhe und kurbelt den Filmprojektor in ihrem Kopf an. Es ist wieder an der Zeit! Das Mitternachtskino hat begonnen.
Frigga Film Productions presents: »Return of the Suicidal Dead«, einen Schwarz-Weiß-Horrorklassiker aus den besten George-A.-Romero-Jahren. Hat sich die Erde bewegt? Frigga zögert. In Slow Motion senkt sie die Schaufel, stochert suchend im Boden herum. Tatsächlich, wieder ein Zucken! Frigga wartet. Stille. Als sie die Schaufel herausziehen will, schießt plötzlich ein verkohlter Arm aus dem Boden. Er besteht nur noch aus schwarzen Fetzen und angekokelten Knochen. Entschlossen greift er nach Friggas Handgelenk. Sie stemmt sich panisch dagegen und drückt sich nach oben, womit sie auch den Untoten aus der Erde zerrt. Ein Kopf kommt zum Vorschein, halb verbrannt, aber in seinen ovalen Umrissen noch erkennbar. Steffen! Er giert auch mit dem zweiten Arm nach Frigga und versucht, sie in die Tiefe zu reißen.
»Du verdammter Zombie, was willst du von mir?«, brüllt sie und wehrt sich mit aller Kraft gegen das Kohlemonster.
»Dich!«, grunzt Zombie-Steffen. »Komm zu mir, Freundin!«
Frigga: »Nein, ich bin doch gekommen, um dich zu holen. Ich will dich aus dem Kaff befreien und zum Atlantik bringen, also lass mich gefälligst los!«
Zombie-Steffen: »F-R-I-G-G-A-A-A!«
Frigga: »Du tust mir weh, lass los! Warum bist du überhaupt noch so massiv? Nach meiner Recherche dürftest du höchstens vier Kilo wiegen. So passt du nicht in meine Dose.«
Zombie-Steffen: »Ich will dich, komm zu mir! U-U-U-U-A-A-A-A.«
Frigga: »Kumpel, so kommen wir nicht weiter. Deine Argumente waren auch schon mal besser.«
Zombie-Steffen: »Der Mensch ist ein Tier. Hör auf, ein Tier zu sein! Komm zu mir! Werde Übermensch!«
Frigga: »Och nö, nicht schon wieder dieser Nietzsche! Ich hab’ dir doch gesagt, dass ich den alten Frauenhasser nicht leiden kann. Der passt nicht zu dir, oder seid ihr im Jenseits allerbeste Freunde geworden?«
Zombie-Steffen: »N-I-E-T-Z-S-C-H-E!«
Frigga: »Nix da! Der Mensch kann sich nicht von seiner Natur lösen, aber er hat die Freiheit, seinen Daseinszustand zu wählen. Ich bin ein Raubtier und du bist ein Verbrennungsrückstand. Bist du jetzt zufrieden?«
Zombie-Steffen: »Ä-Ä-Ä.«
Frigga: »Dein Buch hätte ich dir zurückgeben und um die Ohren hauen sollen. Du bist kein Übermensch, warst nie einer und wirst nie einer sein. Wahrscheinlich bist du zerbrochen, als dir deine Illusion bewusst geworden ist, als andere an der Uni auf einmal besser waren und dir klar geworden ist, dass du deine überzogenen Ziele nicht erreichst. Deswegen hast du nach und nach alles aufgegeben. War es nicht so? Hab’ ich Recht? Sag’s mir!«
Der Griff von Zombie-Steffen lässt nach. Das Kohlemonster zerbröselt vor Friggas Augen. Übrig bleibt ein Haufen Asche. Ende.
Frigga füllt die Asche behutsam in die Kaffeedose, die ihr Thomas entgegenhält. Es waren nur rund sechzig Zentimeter bis zur Oberkante des Ziels: der schmucklosen Terrakotta-Urne, die sie schon von der Trauerhalle kennen. Der Inhalt wandert in das Gefäß, das Frigga beim Packen solche Schwierigkeiten bereitet hat. Die Kaffeedose wird für eineinhalb Wochen Steffens neues Zuhause sein. Nicht ganz verkehrt, wie Frigga findet, denn zu Lebzeiten trank er Unmengen Kaffee.
Die geleerte Urne ist schnell wieder in der Erde verschwunden. Was die beiden Grabräuber am längsten auf Trab hält, sind das hochpräzise Wiederherrichten der Gestecke und das Nachbearbeiten an den Seiten. Sie nehmen sich Zeit, denn niemand kann jetzt einen Skandal gebrauchen, nicht der Freundeskreis und erst recht nicht Steffens Familie. Danach brechen sie schleunigst auf.
»Weißt du schon, was mal auf deinem Grabstein stehen soll?«, fragt Frigga auf dem Rückweg eine ihrer berüchtigten Emo-Fragen.
Thomas: »Ja, denke schon. Mein vollständiger Name, das Geburtsdatum und das Sterbedatum.«
Frigga: »Hammer.«
Thomas: »Wart mal ab! Geburtsjahr 1984. Todesjahr 2984. Das soll auf meinem Grabstein stehen.«
Frigga: »Ironiefreier Hammer!«
Thomas: »Und auf deinem?«
Frigga: »Verrat’ ich dir, wenn du mir versprichst, dich drum zu kümmern, falls ich in Schottland oder woanders vorzeitig den Löffel abgebe.«
Thomas: »Versprochen.«
Frigga: »Darauf soll stehen: ›They Called Her One Eye‹. Geburtsjahr 1984. Todesjahr ... wann auch immer. 2011 wär’ cool, dann wär’ ich Mitglied im Club Twenty-Seven.«
Thomas: »Wie Kurt Cobain?«
Frigga: »Kurt Cobain, Janis Joplin, Jim Morrison, Jimi Hendrix. Ich hätte gute Gesellschaft.«
Thomas: »Spielst du auch Musik?«
Frigga: »Nein, Thomas, aber ich hab’ ja noch vier Jahre. Übermorgen fang’ ich mit Dudelsack an. Außerdem sing’ ich manchmal vor mich hin.«
Thomas: »Und wenn die alle einfach nur tot sind? Da bleib’ ich lieber bei 2984.«
Frigga: »Was soll’s! Live Fast, Love Hard, Die Young!«
Nach einem prüfenden Blick über die Mauer verlassen sie den Parkfriedhof. Als sie ins diesseitige Reich zurückkehren, bleibt der Mond ihr einziger Zeuge. Sie fühlen sich, als ob sie eine finstere Passage durchschritten und nun eine veränderte Welt betreten hätten. Die Luft riecht hier frischer. In ihr tänzeln Möglichkeiten, die nur darauf warten, gelebt zu werden. Jede von ihnen kann zur neuen Realität werden. Frigga, Thomas und Jana sind frei darin, ihre Wirklichkeiten zu wählen, nur Steffen hat keine reellen Optionen mehr.
Was bei all der Freiheit noch im Verborgenen liegt: Insgeheim hat Frigga nicht vor, jemals in ihre alte Welt zurückzugehen. Ihr Schlusssatz auf dem Friedhof war nicht nur eine Floskel. Am liebsten würde sie nicht einmal von Schottland wiederkehren. In Steffens Begleitung ist sie bereit, alle Optionen aufs Spiel zu setzen.