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Beobachtete Beobachter
ОглавлениеMario Gmür
Fällt die Tür ins Schloss, umfängt ihn eine Stille, die ihn die völlige Abgeschiedenheit spüren lässt. Einsamkeit hinter Schloss und Riegel. Augenblick und Ewigkeit fallen in eins. Er ist zurückgeworfen, nicht auf ein Nichts, aber auf ein Minimum, das die wenigen Gegenstände, Tisch, Bett und Stuhl, veranschaulichen: der Strafgefangene. «Sträfling» ist drei Silben kürzer, auch strammer als Begriff, der seine neue Identität bestimmt. Hier wird er zum Experten für Zeit und Zeitlosigkeit, im Wartesaal der Freiheit. Er sitzt die Strafe ab, ein Stück Lebenszeit, die ihn dem Tod näherbringt. Bis dann wird seine Grunderfahrung Langeweile sein. Er kann Antwort geben auf die scherzhafte Frage, ob es einen Satz gibt, in dem das Wort mühsam (jiddisch gesprochen miehsam) siebenmal hintereinander vorkommt: «Mir ist mies am Montag, mies am Dienstag, mies am Mittwoch …» Nicht nur eine Woche lang, sondern über Monate und Jahre.
Als Verfasser dieses Vorwortes, der nie eine Nacht, ja nie eine Stunde in einer Gefängniszelle verbracht hat, habe ich eine unzureichende Kompetenz, über das Leben im Knast zu schreiben. Der Autor dieses Buches hingegen weiss, wovon er spricht. Er, dem im Affekt ein unverzeihlicher, dummer und folgenschwerer Fehler passiert ist, hat viele Jahre in einer Strafanstalt eingesessen.
Er war ein gefährlicher Insasse. Nicht für die Mitgefangenen, nicht für die Menschen, denen er in Zukunft in Freiheit begegnen würde. Jedoch für die Funktionäre der Justiz, die sich ihrer Sache sicher sind, ob als Ankläger, Richter oder Vollzugsbeamte.
Zeugt es nicht von Hochmut und sträflicher Dummheit der Mächtigen, nie zu bedenken, sie selber könnten unter Beobachtung stehen? Die Ohnmacht ihrer Schützlinge hat Augen und Ohren auf sie gerichtet und legt ihre Wahrnehmungen in das Archiv ihrer Erinnerung ab. Vordergründige Einflusslosigkeit macht Notizen, schreibt Tagebücher, die per se schon eine subversive Gefahr für die Bevollmächtigten darstellen. Zu gegebener Zeit – wenn es zu spät ist, dies zu verhindern – riskieren sie, blossgestellt und angeprangert zu werden.
Wäre dieser Rapport aus der Strafanstalt das Machwerk eines recherchierenden Journalisten, er wäre aufschlussreich und brisant. Aus der Feder eines Insassen beeindruckt er besonders, weil der Verfasser seine Erfahrungen und Reflexionen aus der Authentizität seines Erlebens zu Papier brachte. Er schreibt nicht über die Justiz, sondern aus der sinnlichen Erfahrung rechtsprechender Gewalt an eigenem Leib und eigener Seele in verschiedenen Phasen und an entsprechenden Lokalitäten seines Curriculum Vitae innerhalb der Sphäre gesetzwidrigen Hergangs und anschliessender Gerichtsbarkeit. Er beschreibt den Tatort, die Flucht, die Untersuchungshaft, die psychiatrische Begutachtung, das Gerichtsverfahren, den Strafvollzug, die Entlassung nach dreizehn Jahren.
Der Autor hat keine akademische Ausbildung genossen. Seine beachtliche Schreibkunst scheint einerseits einer genuinen Begabung geschuldet, andererseits einer Belesenheit, die er nicht zuletzt einer reichhaltigen Gefängnisbibliothek zu verdanken weiss. Seine Aufzeichnungen erinnern an den psychologischen Realismus romanhafter Darstellungen der Gefängnisliteratur, wie jene von Jakob Wassermann (Der Fall Maurizius) und Hans Fallada (Wer einmal aus dem Blechnapf frisst). Sie sind aber kein Roman, sondern eine Geschichte, die das Leben hinter Mauern schrieb. Für das Studium der Psychologie der Macht sind sie ein wertvoller Beitrag. Sie handeln von einem Feld der Not und der Qual, von erzwungenem Zusammenleben, von der Zermürbung im Wirbel zurückgedrängter Triebe, vom im Unterdrückungsregime gesammelten Schweigen, vom Sadismus der Justiz, die legitimiert ist durch seine Schuld. Er zeichnet das Bild einer entseelten Maschinerie der Justiz, einer von ihm als despotisch erlebten Willkür und eines Verlustes der Menschenwürde. Er schreibt von der Hölle auf Erden. Der Text ist aber keineswegs ein anlastendes Klagelied eines Unzufriedenen, der sich darauf beschränkt, das Leiden in Worte zu fassen. Der Autor nimmt eine besonnene Rolle ein, die des scharfäugigen Analytikers des Alltags im Knast, der sozialen Strukturen und dynamischen Abläufe, geleitet von der Methode der teilnehmenden Beobachtung. Er bemüht sich – über weite Strecken respektvoll-distanziert – um Objektivität und Ausgewogenheit. Seine Schrift «Im Knast» wirft einen Lichtstrahl in die Psychologie des Strafvollzugs. Sie hält der Strafjustiz den Spiegel vor, in dem sie ihre eigenen Fratzen abgebildet sieht. Der Registrierende gibt dem Ausdruck «Gegengutachten» eine neue Bedeutung, nicht die übliche einer von einem Verteidiger in Auftrag gegebenen Gegenexpertise. Es ist seine, des Autors, Begutachtung des Amtspsychiaters, der ihn hochnäsig abgeschmeckt hat, und der Seelenfolterfunktionäre im Namen des Rechtsstaates.
Der Bericht kann als Werk eines seiner Freiheit beraubten Insassen aufgefasst werden, der aus der Not der Gefangenschaft die Tugend eines aufmerksamen subtilen Beobachters und Berichterstatters macht. Schreibend gewinnt er dadurch stückweise die Autonomie zurück, die ihm in der Haft abhanden gekommen ist. Entstanden ist ein höchst lesenswertes Buch, das nachdenklich stimmt.