Читать книгу Festspielschmaus - Simone Guggemos - Страница 10

Kapitel 5

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Am nächsten Morgen war wieder ein neuer Arbeitstag. Nun, mein Tag begann damit, dass mein Frauchen Sissi sehr früh aufstehen musste, um in den Stall zu gehen. Das war schon etwas nervig, wenn um halb sieben der Wecker klingelte und ich aus meinen süßen Träumen geweckt wurde. Manchmal konnte ich mir ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen, wenn ich mich dann laut stöhnend (ein Zeichen meines Wohlbefindens) noch mal im warmen Bett umdrehte, um noch weiter unter die kuschelige Bettdecke zu kriechen. Schweren Herzens stand sie endlich auf. Sie verstand dann doch immer recht schnell, dass ja irgendjemand das Geld verdienen musste. Von mir konnte das ja wohl keiner erwarten! Und so früh am Morgen schon überhaupt nicht. Weil ich dann aber doch Lust auf ein kleines Mahl bekam, bewegte ich mich erwartungsvoll in die Küche, um etwas vom Frühstück abzustauben. Grundsätzlich hatte ich nichts gegen Marmeladenbrot – oder am Wochenende Schinkenbrot, besser noch Schinkensemmel mit viel Butter, Fett ist schließlich ein Geschmacksträger. Aber das Essen der Menschen wäre wie gesagt ein Thema für sich. Man konnte da definitiv nicht mehr von »speisen« sprechen. Wie schnell und unbewusst sich die Menschheit heutzutage das Essen einverleibte, war die eine Seite. Oft sogar im Stehen! Welch scheußliches Zeug sie aßen, die andere: Ich dachte da nur an Fastfood, Fertigprodukte aus dem Supermarkt und schnell gekochte italienische Hartweizenware mit roter Soße. Nun gut, allzu oft musste ich mich sowieso mit meinem Hundefutter zufriedengeben. Weil mein Frauchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten dennoch versuchte, gut für mich zu sorgen, nicht nur kulinarisch, spielte sie oft noch kurz mit mir. Wir übten dann zum Beispiel unser Repertoire an Kunststücken, wobei ich immer ein Stück Trockenfutter für jedes gelungene Kunststück bekam, wenn ich Glück hatte, auch ein Leckerli. Frauchen sagte immer, ich würde nur gegen Bares arbeiten. Gut, dann durfte ich ein wenig raus und anschließend ging sie in den Stall, einkaufen oder putzte die Wohnung.

Vormittags verbrachte ich die meiste Zeit damit zu schlafen, im Sommer gern draußen im Garten in der Sonne. Das war Erholung pur.

Heute Abend war wieder Vorstellung, und somit mussten wir ab acht Uhr mit Midnight im Festspielhaus sein. Midnight wurde natürlich noch gewaschen und dann aufgeschirrt. Das war bei mir nicht nötig. Ich war immer schick in Schale, trug zu meinem Auftritt aber ein schickes blaues Samthalsband mit goldenen Krönchen darauf.

Besonders liebte ich die Atmosphäre im Festspielhaus, das angespannte und nervöse Treiben hinter der Bühne, liebte die Schauspieler, die ein ganz eigener Schlag Menschen waren, und natürlich meinen Auftritt. Doch heute lag eine düstere Stimmung in der Luft, eine dunkle Wolke der Vorahnung hing wie ein Damoklesschwert über uns.

Thomas war noch immer nicht aufgetaucht. Mittlerweile war die Polizei informiert, und auch Zeitungen suchten mittels eines Fotos und eines Steckbriefes nach ihm.

Wir spielten nur noch wenige Wochenenden nach Plan. Das war so traurig. Viele Schauspieler waren schon beim Arbeitsamt gewesen auf der Suche nach einer neuen Anstellung.

Während Frauchen Middy hinter der Bühne putzte, kamen Wackerl und Rosl zu uns.

»Und, wie geht es dir, Sissi? Wie war dein Essen mit dem Wolf?«, fragte Wackerl nicht ohne einen Funken Neugier. »Woher weißt du das?«, fragte Frauchen erstaunt zurück. »Ach, Sissi, Schatz, wir sind doch eine Familie, und so ein Theater ist doch ein einziger Tratschhaufen.«

»Nun …« Sissi war peinlich berührt. »War okay, aber stell dir vor, wer nach unserem letzten Treffen im Büro von Wolf gesessen hat?« Sissi machte eine Pause, um die Spannung zu steigern. »Die Blunzn!«

»Was, die?« Wackerl und Rosl, die seit einem guten Jahr miteinander liiert waren, rissen vor Schock Mund und Augen auf. »Was läuft denn da?«

»Ich glaube, die will ihren Pelz retten und schleimt sich bei dem ein, um einen guten Job zu bekommen«, meinte Sissi. »Ja, für ihre Karriere tut die alles! Glaubst du, die schläft mit dem?«, fragte Wackerl.

Sissi verdrehte die Augen. »Würdest du etwa mit der, also ich meine, wenn du die Rosl nicht hättest?«

»Nee. Ich doch nicht. Ich stehe nicht auf mollig, aber für den, der’s mog, is’s Hechste!«

Alle drei prusteten herzlich los.

Dann wurde Sissi wieder ernst. »Nein, die hat sich über unsere Sorgen lustig gemacht, darüber, dass wir jetzt keine Arbeit mehr hier haben, die ist so gleichgültig! Außerdem kennt der Wolf den Thomas. Er muss ihm eine hohe Abfindung bezahlen, weil der Thomas einen speziellen Vertrag hat.« Wackerl und Rosl staunten nicht schlecht. Doch schon wurde der Schauspieler von der Regieassistenz gerufen. Er hatte gleich seinen Auftritt.

Weil Middy schon fertig und blitzeblank war, ließen wir ihn angebunden stehen und gingen neben die Bühne auf die Seitenbühne, von wo aus wir alles sehen konnten. Wir versteckten uns dezent hinter dem schweren blauen Samtvorhang mit dem stilisierten silbernen Schwanenemblem. Schön! Die Minister sangen ein lustiges Lied darüber, dass sie kein Geld mehr hatten. »Geld ham ma koins …«

Sissi sah traurig aus. In diesem Moment wurde ihr wohl schmerzlich bewusst, dass es uns und Giovanni Bellini jetzt hier in der Realität genauso ging wie König Ludwig damals, vor über 150 Jahren, als sie ihn daran gehindert hatten, die Kunst zu fördern, seien es Wagners Opern oder die wunderbaren Schlösser. Das Geld, der Tyrann, zerstört Träume! Zumindest für die, die es nicht haben.

»Geld hat er koans, Geld hat er koans,

außer wenn er spart, dann bleibt ihm oans,

Geld hat er koans, Geld hat er koans,

aber wenn er brav ist, kriegt er oans.

Geld, Geld regiert die Welt,

Geld regiert die Welt.

Geld, Geld regiert die Welt

Und mir regier’n das Geld.

… Gäste aus der ganzen Welt

Werden durch die Schlösser schlendern

Und durch dieses Eintrittsgeld

Wird sich euer Starrsinn ändern.«

Der fröhlich-bayerische Ministermarsch, das anrührende Adler-Lied, der Wiener Walzer im gefälligen eleganten Dreitakt – ein Ohrenschmaus, der in Traumwelten verführte!

Trotz der äußeren Umstände genossen Sissi und ich das Hier und Jetzt und erfreuten uns an dem schönen Gesamtkunstwerk, den aufwendigen Kostümen, dem fulminanten Bühnenbild und der Musik. Wie bei jeder Aufführung ließen wir uns in König Ludwigs Märchenwelt entführen. Bald zum letzten Mal!

Sogar das Gebäude war extra für dieses Gesamtkunstwerk geplant und gebaut worden. Seine Form lehnte sich an die von Gottfried Semper konzipierte und von Richard Wagner im Bayreuther Festspielhaus verwendete Architektur an: minimalistisch und modern gehalten mit Wänden aus hellgrauem Beton. Neben einem Hauptteil, in dem sich die Bühne, Probebühne, Garderoben, Werkstätten und Büros befanden, besaß das Gebäude zwei Seitenflügel, die symmetrisch an den Hauptteil angeschlossen waren und Gastronomie, Säle und den Theatershop enthielten. Dieses architektonische Wunder befand sich auf einer extra aufgeschütteten Insel im Forggensee mit Blick auf das fantastisch schöne Schloss Neuschwanstein, das nur etwa vier Kilometer Luftlinie entfernt lag.

Schließlich mussten wir uns fertig machen für unseren Auftritt. Karl Beyerle, die zweite Ludwig-Besetzung, freute sich diebisch, dass endlich er einmal die erste Besetzung war. Ich saß mit Beyerle alias König Ludwig auf der hinteren Sitzbank des Schlittens, Frauchen auf Middy vorne. Sie betonte immer, wie hübsch ich wäre. Die Grundfarbe meines kurzen Fells ist weiß, mit zwei großen schwarzen Flecken auf dem Rücken und einem braunen Fleck am rechten Vorderbein. Mein ebenmäßiges, aristokratisches Gesicht wird von einer braun-schwarzen Maske dominiert, aus der meine schwarzen Eyeliner-Augen hervorstechen. Braune Ohren, die ich je nach Bedarf aufstellen oder legen kann, runden den angenehmen Gesamteindruck ab.

Schon wurden wir mit der Drehbühne vor das Publikum gefahren. Oftmals hörte ich di e Zuschauer »Oh« und »Wow« sagen. König Ludwig trug seinen royalblauen Mantel, die goldenen Epauletten, weiße Handschuhe und eine weiße Reithose mit schwarzen polierten Stiefeln. Viele Abzeichen und eine rote Schärpe zeigten seine königliche Abstammung. Das schwarze halblange Haar – allerdings eine Perücke – trug er gelockt, es umrahmte sein gleichmäßiges Gesicht. Ich konnte Sissi von der hinteren Sitzbank aus beobachten. Ich war eifersüchtig, sie dachte augenscheinlich gerade an Thomas Gubath. Extra stolz und aufrecht guckte ich zuerst zu ihr und dann in den dunklen amphitheaterförmigen Zuschauerraum, während wir hier im Rampenlicht saßen. Wie eine sanfte Berührung spürte ich die Aufmerksamkeit und Bewunderung der Zuschauer, obwohl ich sie nicht einzeln erkennen konnte. Es war so schön.

Ludwig begann zu singen:

»Oh, diese Einsamkeit,

die mich gefangen hält

in ihrem dunklen Schoß,

in ihrer Schattenwelt.

Irgendwo muss doch ein Mensch sein,

der mich so liebt, wie ich bin.

Irgendwo muss doch ein Ort sein,

an dem nur ich willkommen bin …«

Dann war die Szene auch schon vorbei, und das war es für heute. Hinter der Bühne spannte Sissi Middy aus, und ich kuschelte ein wenig mit meiner Lieblingsnymphe Chantal. »Komm, Ludwig«, sagte Sissi, als sie fertig war, »es ist so ein schöner Vollmondabend und noch ganz warm, lass uns am Forggensee noch ein wenig spazieren gehen.«

Gute Idee. Und so liefen wir vom hinteren Parkplatz aus – Middy stand sicher und »gut geparkt« in seinem Pferdeanhänger und knabberte Heu aus dem Heunetz – um die Ostseite des Gebäudes Richtung Romantik-Restaurant. Dort angekommen tat sich uns der Anblick des märchenhaft schönen Schlosses Neuschwanstein auf. Hell stach es vor dem dunklen Berg ab. Die fast schwarze Bergsilhouette war einzigartig, einzelne Baumumrisse waren deutlich zu erkennen. Der große Mond lächelte hell und groß wie ein liebes, vertrautes Gesicht über dem Säuling inmitten seines Lichtkreises, der von Hellgelb und Weiß über Hellorange und Dunkelorange bis ins Dunkelblaue ging. Einzelne Wolkenfetzen ruhten in der Luft. Es war ganz ruhig, nur wenige Musicalbesucher hielten sich noch im Barockgarten auf, denn es ging schon auf halb zwölf zu. Die schwarzen Blechfiguren, die den Garten zierten, sahen fast unheimlich aus. Man hätte zunächst denken können, es seien echte Menschen.

Zu zweit liefen wir den romantischen Kiesweg zwischen den Hecken entlang. Die Röschen versprühten bereits einen angenehmen sinnlichen Sommerduft. Es war ja auch schon Frühsommer, wenngleich der hier im Allgäu, das vom harten alpinen Klima beherrscht wurde, deutlich später einsetzte als zum Beispiel in München oder Augsburg. Während dort schon im März die ersten Frühlingsblüten explodierten, trauten sich hier erst im Mai ein paar vorwitzige Schneeglöckchen die Schneedecke zu durchbrechen.

Das Sprudeln des kleinen Springbrunnens vermischte sich mit dem regelmäßigen Plätschern und Schmatzen der Wellen, die ans Kiesufer des Sees schlugen.

Sissi und ich genossen entspannt diese schöne Kulisse. Ich dachte daran, dass ich schon wieder ein leichtes Hungergefühl verspürte, und Sissis Gedanken konnte ich aufgrund ihres melancholischen Gesichtsausdrucks leicht erraten. Sie dachte vermutlich an Thomas. Ich glaubte nicht, dass er der Richtige für sie war. Warum, das konnte ich ihr leider nicht sagen. Ich wollte nicht, dass er sie unglücklich machte.

Ich sah mein Frauchen im Mondlicht an. Sie hatte eine lustige Himmelfahrtsnase, ein schmales Gesicht, dessen eine Hälfte im Dunkel verschwand, nur die mir zugeneigte wurde vom weißen Mondlicht beschienen, das dunkle Schatten auf ihre eingefallenen, hageren Wangen warf. Die Lippen waren voll. Die Augen groß, verträumt und mit langen Wimpern.

Sie bemerkte meinen Blick und schaute zu mir.

»Ach Ludwig, wie schön du hier im Mondlicht aussiehst.« Glücklich strahlte sie mich an und streichelte mir über den Kopf. Ich wusste, dass sie mich wunderschön fand. Meine schwarz umrandeten Mandelaugen betörten die meisten Menschen. Sissi war immer ein wenig neidisch, wenn sie sich die Augen schminken musste, während ich »naturschön« war, wie sie zu sagen pflegte.

»Komm, wir laufen noch ein wenig, lass uns zur Ludwigsglocke gehen«, forderte Sissi mich auf, sprang auf und warf ein Stöckchen ins Wasser, das ich natürlich nicht holte. Dass ich nicht auf dieses profane Stöckchen-Apportierspiel stand, wollte sie absolut nicht verstehen. Grundsätzlich bewege ich mich eigentlich nie mehr als nötig. Diese Tatsache, zusammen mit meinem Lieblingshobby, Essen, führt dazu, dass meine Taille nicht mehr so gut zu erkennen ist. Egal.

Wir liefen am Kiesufer entlang Richtung Glocke. Dann gingen wir weiter Richtung Feuerstelle, und ich atmete den intensiven Duft des weißen Flieders ein. Dort hielten sich im Sommer oft Künstler und Schauspieler auf, um ein Lager- und Grillfeuer zu machen, was eigentlich verboten war, sie aber natürlich nicht störte.

Wir hörten Stimmen. Sissi hielt mich zurück. Leise versteckten wir uns hinter einem Haselnussstrauch, und Sissi nahm mich an die Leine, um zu verhindern, dass ich weglief oder sonstigen Quatsch machte. Die Stimmen waren fröhlich, übermütig und laut. Wasser plätscherte. Sissi und ich guckten seitlich am Busch vorbei. Es waren zwei Personen zu sehen. Eine davon war dabei, sich auszuziehen.

»Komm, sei kein Spielverderber, die Nacht ist so schön, so einzigartig. Lass uns baden!«

»Nein, ich hab doch keine Badehose dabei!«

»Oh, du Spießer! Komm schon!«

Ich erkannte zunächst eine schlanke, drahtige Person. Sie zog sich das T-Shirt über den Kopf, warf es lässig auf den Boden und offenbarte einen muskulösen, aber dünnen Oberkörper. Ich guckte Sissi an. Sie wandte ihren Blick nicht ab von dem Spektakel, war wie paralysiert, der Mund stand ihr offen.

»Ludwig«, flüsterte sie erstaunt und wollte weglaufen, überlegte es sich aber anders, ihr Körper war angespannt wie der einer Katze, die auf eine Maus lauert. Dann trat der zweite Körper wieder hinter dem Busch hervor und näher an den ersten heran. Es war ganz still, der Mondschein-Adonis öffnete seine Gürtelschnalle. Die Spannung war nahezu greifbar.

»Aber der Thomas«, flüsterte der eine. Es war Thomas’ Schauspielkollege Alexander Mayer. »Der Thomas ist jetzt nicht da«, beschwor ihn der andere.

Ihre Köpfe kamen sich näher, ihre Münder fanden sich, während Sissi ihren Mund nicht mehr zukriegte. Sie umarmten sich leidenschaftlich und küssten sich. Der Adonis zog dem Objekt seiner Begierde das T-Shirt über den Kopf. Es war Karl Beyerle, der hier offensichtlich mit dem jungen Alexander flirtete, der den Schauspieler Josef Kainz7 spielte. Er küsste ihn, sie zogen sich die Hosen aus und streichelten sich über die Arme. In übermütiger Freude packte Beyerle dann Alexander am Arm und sprang mit ihm unter lautem Schreien in die Fluten. Ihre durchtrainierten, im Mondschein weiß wirkenden Körper sahen sehr schön aus und verschwanden langsam, aber unter lautem Plätschern im Glitzern des ruhig daliegenden Sees, bis nur noch ihre Köpfe zu sehen waren.

Ich lief los, um Sissi von diesem Platz wegzulotsen, und sie folgte mir wortlos. Kraftlos ließ sie sich auf einer weißen Holzbank im Barockgarten nieder.

»Ach Ludwig, alle sind glücklich verliebt. Alle außer mir. Ich bin zu blöd für alles, kein Job, kein Mann. Ich werde nie einen finden, der mich so liebt, wie ich bin. Und ich wollte auch einmal heiraten, in einem schönen champagnerfarbenen Spitzenkleid. Hier im Musical! Gott sei Dank hab ich dich.« In einem Anfall von Selbstmitleid weinte sie los und ergoss sich in ihrem Elend.

In diesem Moment wusste ich auch nicht, wie ich ihr helfen konnte. Ich spürte ihren Schmerz und ihre Einsamkeit, verstand sie allerdings nicht ganz. Sie hatte doch mich! Das Bild der zwei schönen Männer eben, die so harmonisch und intim waren, hatte mich trotzdem nicht wenig verwirrt.

Schloss Linderhof, 1879

Josef8 spricht laut, akzentuiert und voller Gefühl. Ich liebe seinen Duktus, seine Art, die Worte zu betonen, die Kunst zum Leben zu erwecken, das Leben Kunst werden zu lassen. Herrlich! Dieser schlaksige junge Mann weckt in mir Gefühle, die ich bisher nicht gekannt habe. Ich will ihn beschützen, ihn beschenken, ich will … Ich weiß es nicht. Seine halb geöffneten Augen, der Blick in die Ferne, wie er so ganz in seiner Rolle des Didier ist. Ja, mit Didier verschmilzt. Oh Gott!

Hier auf Schloss Linderhof sitzen nicht mehr König und Künstler, hier sitzen zwei Seelen, die sich verstehen. Dank der Worte, der holden Kunst, teurer Didier. Er ist in eine schwarze spanische Hoftracht gekleidet, seine schulterlangen brünetten Haare fallen sanft über seine mageren Schultern. Ich möchte sie berühren, sie ihm zart nach hinten legen. Es liegt eine besondere Stimmung in der Luft, sie ist geweiht, hier wird der Künstler zum Priester, die Kunst zum Gottesdienst. Endlich habe ich diesen wunderbaren Menschen persönlich hier in meinem Schloss, bisher hatten wir nur brieflichen Kontakt. Selbsthöchstpersönlich habe ich die Korrespondenz getätigt. Welche Ehre für einen Schauspieler! Schon damals spürte ich nämlich die besondere Verbindung zwischen uns. Endlich jemand, der mich versteht, den ich verstehe. Ich bin nicht mehr allein. Wir befinden uns im Salon, das »Tischleindeckdich« ist gerade im Boden versenkt worden. Sobald Didier diesen Absatz zu Ende zitiert hat, werde ich ihn in mein Allerheiligstes führen, in die Grotte. Gierig trinke ich das dritte Glas Wein, proste Didier zu und atme unter der Fülle meiner Gefühle schwer aus. Ich bin voller Dankbarkeit dem Menschen gegenüber, der solche Gefühlsregung, solche Zärtlichkeit in mir weckt. Ich freue mich schon sehr, ihm später ein Geschenk überreichen zu können. Im Muschelkahn, umringt von meinen Schwänen. Einen Goldring mit einem ovalen Saphir, eingefasst in Diamanten. Edel und gut ist dieser Mann, ich werde ihn vor aller Welt beschützen. Falls er Feinde hat, Neider, Widersacher, die ihm zu schaden suchen, so werde ich ihm die Bahn ebnen, ihn schützen wie einen Bruder. Seine Feinde sind meine Feinde. Die Theater sind doch eine Schlangengrube, so ähnlich wie mein Hof. Mais la poesie c’est la vie!

Ich gehe auf ihn zu. Unsere Blicke treffen sich, ich atme seinen wunderbaren Duft ein, versinke in seiner güldenen Aura. Meine Hand fühlt sich zu ihm hingezogen, ich berühre ihn sanft am Arm und ziehe sie sofort zurück wie vom Feuer …

Eine fröhliche Männerstimme fiel lautstark in unseren Zauber ein. »Der Thomas geht mir manchmal echt auf die Nerven!« Welch unflätige Sprache. »Der ist so ein König-Ludwig-Fanatiker!«

Ich erblickte einen dunkelhaarigen schlanken Mann in Begleitung eines anderen Jünglings. Es waren Karl Beyerle und Alexander. Geradewegs kamen sie auf die Bank zu, auf der wir saßen. Mist! Hier war meine verheulte Sissi. Was konnte ich nur tun? Uns in Luft auflösen? Zu spät!

»Ja, wer sitzt denn da? Die Sissi und mein Lieblingshund, Namensvetter Ludwig!«

Sissi drehte sich erschrocken um. In ihren Kummer versunken hatte sie die beiden nicht kommen hören.

»Oh, hallo!« Verstohlen versteckte sie ihr Tempotaschentuch in der Hosentasche ihrer Jeans. »So spät seid ihr noch am See?«

Mist, Sissi, was laberst du wieder für Müll!

»Ja, wir haben uns noch ein wenig erfrischt, es ist so ein wunderbarer, romantischer Abend. Aber was macht ihr zwei noch hier, so allein?« Alexander war wie immer lässig und souverän. »Hast du geweint, du siehst so traurig aus?« Liebevoll legte er eine Hand auf Sissis Schulter und ging in die Hocke, um näher bei ihr zu sein.

Sissi wich instinktiv zurück. »Nö, nur Schnupfen, außerdem, die ganze Sache mit dem Musical, das geht mir echt nah! Und dass der Thomas weg ist«, rutschte ihr heraus.

Alexanders Gesicht verdunkelte sich. Seine Fröhlichkeit war wie weggeblasen.

Da ich Durst hatte, ging ich ans nur ein paar Meter entfernte Seeufer, um ein paar Schlucke zu trinken. Plötzlich stieg ein bekannter Geruch in meine feine Spürnase. Ich folgte der intensiver werdenden Spur. Und was fand ich da? Ich traute meinen Augen kaum und blieb stehen. Eindeutig. Oh Gott! Das durfte ich Sissi nicht sagen. Oder doch? Ich musste es ihr sagen. Ich ging in der Dunkelheit näher an das schwarze Bündel heran. Ja.

Ich bellte ein helles Stakkato. Meine Nase hatte mich noch nie im Stich gelassen. Da lag eine Jacke, sie war eindeutig von Thomas.

»Ludwig!«, hörte ich von hinten Sissi rufen.

Ich bellte weiter, und sie verstand mich sofort. Alarmiert kam sie auf mich zu, in Begleitung der zwei Männer.

Sie erstarrten.

»Was hat der Hund da gefunden?«, fragte Karl.

»Keine Ahnung«, meinte Sissi, die sich vorsichtig näherte.

»Das ist die Sportjacke vom Thomas!«, rief Alexander geschockt aus.

»Oh Gott!«, rief Sissi, und ich konnte ihr ansehen, dass ihre Fantasie, die meist schlimmer als jede Realität war, mit ihr durchging. »Dann ist er tot!«, schrie sie unter Tränen. »Im See gestorben wie der echte König! Ermordet!« Sie schluchzte. Hemmungslos.

Die beiden Männer sahen sich geschockt an. Alexander hob das Kleidungsstück auf, um es auf Spuren zu untersuchen, so gut es in der Dunkelheit eben ging.

»Blut ist aber keines dran«, meinte er um Sachlichkeit bemüht.

Karl stand etwas abseits. Würde er abhauen? Ich behielt ihn aus den Augenwinkeln im Blick.

»Wir müssen das der Polizei sagen«, schlug Sissi vor. »Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«, fragte sie nun Alexander, von dem sie wusste, dass er öfter mit Thomas Zeit verbrachte.

Wieder blickten sich die beiden Männer an. Wollten sie etwas verschweigen?

»Komm, Sissi, wir gehen heim, trinken noch etwas und reden dort in Ruhe«, schlug Karl vor.

Sissi bekam es mit der Angst zu tun und wollte sich schnell und unauffällig aus der Affäre ziehen. Womöglich würde er auch sie ermorden, wenn sie zu viel wusste?

»Nein, sei mir nicht böse, aber ich bin echt müde, und außerdem steht Middy im Hänger und wartet darauf, heimgefahren zu werden.«

»Okay, dann begleiten wir euch wenigstens noch bis zum Parkplatz!«

»Nicht nötig«, rief Sissi und rannte durch den Barockgarten, am Romantik-Restaurant vorbei auf den Parkplatz hinter dem Festspielhaus. Ich folgte ihr atemlos.

»Und übrigens«, rief Alexander uns hinterher, »morgen um 15 Uhr treffen wir uns alle in der Bierwirtschaft, um über die Pleite zu reden. Und Thomas’ Jacke bringe ich morgen zur Polizei.«

In der Nacht konnte Sissi ewig nicht einschlafen und wälzte sich von einer auf die andere Seite. Ich zog mich in mein Hundebett zurück.

Festspielschmaus

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