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Kapitel 1 Mai, Isle of Skye
ОглавлениеMcKenzie schlürfte mit Genuss ihren Kaffee. Schön, dass man einmal nicht früh aufstehen musste, in Ruhe zu Ende frühstücken und sich danach wieder mit einem Buch ins Bett legen konnte. Sollte sie später der Fitness zuliebe einen leichten Spaziergang über die Hügel unternehmen? Eilean a’Cheò – die Nebelinsel, wie Skye in der gälischen Sprache hiess – strafte ihren Namen heute Lügen. Das Wetter versprach Sonne und warme Temperaturen. Sie würde ein Picknick einpacken und gemächlich bis an die Südküste wandern.
Der Frühstücksraum in der kleinen Pension in Ardvasar gefiel ihr gut: Teppich im Tartanmuster verhinderte bei Regenwetter kalte Füsse, weisse Spitzenvorhänge zierten die alten Schiebefenster, und auf der Terrasse draussen standen Töpfe mit üppig wuchernden roten Fuchsien. Durch die Scheiben sah sie im Garten dahinter Rhododendronbüsche, die in dem milden Inselklima verschwenderisch gediehen und deren Blüten im schwachen Wind in einem Meer aus Violett und Rosa auf und ab wogten. Das Ganze erinnerte sie ein wenig an das Haus ihrer Grossmutter drüben auf dem Festland.
Ihre Wirtin war bereits in den Siebzigern. Als McKenzie vor ein paar Tagen mit ihren Koffern vor der Tür gestanden hatte, war sie mit einer grossen Umarmung und einem Haufen Hausregeln empfangen worden. Keine Herrenbesuche, keine lauten Telefonate auf dem Zimmer und nach Verlassen des Badezimmers bitte immer den Heizstrahler ausschalten. Auch das hatte sie an ihre Grossmutter erinnert.
McKenzie lächelte ironisch. Herrenbesuch! Sie hätte nichts gegen eine männliche Begleitung gehabt, aber leider tat sich bei ihr zurzeit nicht viel auf dem Gebiet. Ihre Arbeit liess ihr kaum Zeit für irgendwelche Hobbys, geschweige denn, um private Kontakte zu pflegen. Ein flüchtiger Gedanke an die kleine Affäre von letztem Jahr brachte ein versonnenes Lächeln auf ihr Gesicht. Ein romantischer junger Italiener, der seine Ferien an der Westküste Schottlands dazu genutzt hatte, mit ihr schöne Sonnenuntergänge an verlassenen Sandstränden zu geniessen. Leider hatte er sich als völlig ungeeignet herausgestellt, ein Feuer in den feuchten Dünen zustande zu bringen. Die Grillwürste blieben roh, und sie hatte ihn nach ein paar Tagen freundlich, aber bestimmt verabschiedet. Giorgio war wohl längst wieder in Neapel und versuchte, den Heiratsplänen zu entfliehen, die seine Mamma für ihn hegte.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie auch mit dem Gedanken gespielt, eine Beziehung mit McTavish vom Marine Life Centre in Gairloch einzugehen, aber der hatte sich ja inzwischen in seine Moira verliebt und bewegte sich auf Wolke sieben. McKenzie lächelte erneut. Zu sehen, wie McTavish zu Wachs in den Händen einer Frau wurde, war sehr amüsant gewesen. Sie mochte Moira Watson ganz gerne. Und so war es bei der Freundschaft mit McTavish geblieben. Was allerdings hiess, dass sie ihre Ferien hier auf der Insel alleine verbringen musste, womit sie, wie es den Anschein hatte, wenigstens die Pensionsinhaberin zufriedenstellte.
Die Tür ging auf und ihre Wirtin kam herein. „Nun, Charlotte, haben Sie alles, was Sie brauchen? Darf ich Ihnen vielleicht noch ein gekochtes Frühstück bringen? Wir haben ausgezeichneten Speck hereinbekommen, und der Haggis von gestern ist noch ganz frisch.”
McKenzie schauderte. „Nein, vielen Dank, Màiri, ich habe alles, was ich brauche. Vielleicht noch ein Tässchen Kaffee, das wäre nett. Dann bin ich wirklich ganz satt.” Sie blickte zum Fenster hinaus. „Haben Sie keine anderen Gäste? Die Saison hat wohl noch nicht richtig begonnen.”
Màiri MacLeod goss aus einer grossen Kaffeekanne McKenzies Tasse voll und setzte sich wie selbstverständlich zu ihrem Gast an den Tisch. „Ich nehme nicht mehr so viele Leute auf wie früher. Ich bekomme jetzt meine Rente, und mein Mann hat mir auch ein bisschen was hinterlassen. Aber es ist nett, mal mit jemandem zu plaudern. Ich nehme nur weibliche Gäste auf und auch nur solche, die mir sympathisch sind.”
McKenzie hütete sich wohlweislich zu fragen, ob sie diese hohen Erwartungen erfüllte. Sie schob ihren Teller zur Seite. „Ich gehe dann mal auf mein Zimmer. Den Kaffee nehme ich mit. Muss mich fertigmachen. Es ist ja heute ein so schöner Tag. Sagen Sie, ist der Weg zum Point of Sleat im Moment trocken genug, damit ich auf meinem Spaziergang am Nachmittag nicht im Moor versinke?”
„Ja, meine Liebe. Der Weg ist einfach zu gehen und sehr hübsch. Erwarten Sie sich bloss nicht zu viel vom Leuchtturm am Ende. Das ist nur ein kleines Gebäude ohne Charme. Die Sandy Bay ist dagegen sehr malerisch, wenn es am Strand keine Quallen hat.”
Mrs MacLeod suchte nach einem Weg, ihren Gast noch ein wenig festzuhalten: „Was machen Sie denn so? Sind Sie Lehrerin?”
„Nein, wie kommen Sie denn auf diese Idee?”
„Nun, Sie haben so eine energische Ader. Sie scheinen viel zu lesen, jedenfalls haben Sie eine Menge Bücher mitgebracht.” Offensichtlich hatte sich die Wirtin etwas in McKenzies Zimmer umgeschaut.
„Nun, ich bin nicht Lehrerin. Ich arbeite für die Polizei Schottlands, drüben an der Westküste, in Gairloch.”
„Das ist sicher sehr interessant, meine Liebe. Da treffen Sie wohl auf viele verschiedene Leute, Mörder, Diebe und Betrüger. Ich habe ja auch so meine Erfahrungen gemacht. Diese Pension führe ich nun schon über dreissig Jahre, und da hatte es manchmal ganz merkwürdige und sogar unehrliche Leute unter den Besuchern.”
McKenzie erhob sich resolut. Sie hatte keine Lust, in ihren Ferien über Verbrecher und ihre Missetaten zu sprechen. Der Sinn ihres jetzigen Aufenthalts auf der Insel war ja gerade, dass sie Zeit für sich selbst hatte und sich entspannt ihrer Lektüre widmen konnte. So verabschiedete sie sich freundlich von Mrs MacLeod und verzog sich auf ihr Zimmer.
Sie musste eingeschlafen sein. Langsam drang das Klingeln ihres Handys in ihr Bewusstsein. Sie war versucht, das lästige Geräusch zu ignorieren, streckte schon die Hand aus, um den Anruf wegzudrücken. Aber eine verinnerlichte, jahrelange Disziplin zwang sie schliesslich, sich aufzusetzen und sich zu melden.
„Hier Shona McKinnon. Bist du das, Charlotte?”
McKenzie fuhr sich mit der Hand durchs wirre Haar. Sie war schlagartig hellwach. Sergeant McKinnon würde sie nie aus Inverness auf ihr Handy anrufen, wenn es sich nicht um etwas wirklich Wichtiges gehandelt hätte.
Wie sich herausstellte, hatte ein Fischer auf Skye am Strand eine Leiche gefunden.
McKenzie versuchte, ihre immer noch schläfrig verharrenden Gehirnzellen zu sammeln. „Was hat das mit mir zu tun? Ich bin nicht im Dienst, und die Insel gehört nicht in meinen Zuständigkeitsbereich.”
Sergeant McKinnon klang leicht zerknirscht. „Ich weiss, Dan Gilchrist hat mir gesagt, du hättest Urlaub.” Sie hüstelte. „Eigentlich wäre die Wache in Portree für die Sache zuständig. Aber Inspektor Craig hat sich letzte Woche das Bein gebrochen und ist krankgeschrieben.”
„Ist das Alice Craig? Ich kenne sie noch von der Polizeischule. Tut mir leid für ihr Bein. Was ist mit den Kollegen aus Lochalsh? Oder kann nicht einfach ein Constable aus Portree die Sache angehen?”
McKinnon pustete hörbar durch die Leitung. „Charlotte. Du weisst, dass die Wache in Lochalsh mit anderen Aufgaben ausgelastet ist. Und jemand Subalternes von Skye abzukommandieren, ist nun wirklich keine Option, wenn wir eine Expertin sozusagen vor Ort haben.”
McKenzie griff sich an die Stirn. Dass die Wache in Lochalsh sich in letzter Zeit nicht mit Ruhm bekleckert hatte, während sie selbst vor ein paar Jahren quasi im Alleingang einen mysteriösen Mordfall aufgeklärt hatte, mochte die Anfrage aus Inverness vielleicht erklären. Aber sie war nun mal im Urlaub und hatte nicht die geringste Lust, sich um eine Leiche zu kümmern. Sie wollte dies McKinnon gerade auseinandersetzen, als diese, ohne ihr Gelegenheit für Einwände zu geben, die Einzelheiten des unglücklichen Funds darlegte.
„Dieser Tote, männlich, jung, wurde heute Morgen am Strand am Point of Sleat gefunden, vermutlich ertrunken. Es geht ja nur darum, dass du da rasch hinfährst und nachschaust, ob an dem Todesfall etwas Verdächtiges ist. Die Person, die ihn gefunden hat – ein Fischer namens Patrick McDonald – ist noch vor Ort. Aber die Flut soll im Steigen begriffen sein, und die Leiche muss wohl möglichst rasch vom Strand weggebracht werden. Bis wir jemanden von Inverness schicken können, sind die meisten Spuren und auch der Tote weg. Der Helikopter ist unterwegs in der Nähe von Dingwall, zu irgendeiner Evakuierung. Das kann noch eine Stunde oder mehr dauern, bis wir den kriegen können. Du wärst schneller vor Ort - du bist doch schon irgendwo in der Nähe, hat mir Gilchrist gesagt.”
McKenzie resignierte. Sie würde mit Dan Gilchrist noch ein ernstes Wörtchen sprechen. Wie konnte er einfach so ihre privaten Angelegenheiten in die Welt hinausposaunen. Aber wahrscheinlich hatte er keine andere Wahl gehabt, wenn die Vorgesetzten Auskunft verlangten.
„Na schön. Point of Sleat, sagst du? Da wollte ich sowieso hin, allerdings erst am Nachmittag und zu Fuss. Ich nehme nicht an, dass ihr von irgendwoher ein Gefährt besorgen könnt, das mich dahin bringt? Ich habe meinen kleinen Fiat in Gairloch gelassen.”
McKinnon lachte, empfahl ihr, ihre Pflicht zu tun und – Urlaub hin oder her – sich selbst zu organisieren. „Und wenn du da angekommen bist, vergiss nicht, uns über deine Erkenntnisse zu informieren, und zwar zeitnah!”
„Nur die Wache in Inverness, oder darf ich mich wieder mit DCI Huckley rumschlagen?”
McKinnon lachte noch einmal. Die Fehde zwischen McKenzie und dem Geheimdienst-Mann war bei der schottischen Polizei in den Highlands wohlbekannt. Mit guten Wünschen legte sie frohgemut auf, im Wissen, dass die Sache bei McKenzie in den besten Händen war.
McKenzie beeilte sich, aufzustehen und sich frisch zu machen. Sie ging auf die Suche nach ihrer Wirtin und fand diese in der Küche, wo sie mit aufgerollten Ärmeln eine Pastete mit geheimen Zutaten für das Abendessen vorbereitete.
„Kennen Sie einen Patrick McDonald, Fischer, hier in Sleat?”
„Aidh. Der gute alte Pàdraig. Warum?”
„Ich soll ihn am Point of Sleat treffen. Wie komme ich schnellstmöglich dahin? Gibt es eine Strasse? Kann man mit dem Wagen hinfahren?”
„Nun ja. Die Strasse hört bei dem Parkplatz von An Àird auf. Ein Weideweg für landwirtschaftliche Fahrzeuge führt weiter, ist aber für den Publikumsverkehr gesperrt. – Woher kennen Sie denn Pàdraig?”
„Ich habe soeben einen Anruf von unserer vorgesetzten Stelle in Inverness erhalten. Offenbar hat Mr McDonald einen Verunglückten am Strand gefunden, und da Inspektor Craig von der Wache in Portree im Moment verhindert ist, ich dagegen passenderweise vor Ort bin, hat man mich für die Sache eingeteilt.”
„Aha. Wer ist denn verunglückt?”
McKenzie wurde ungeduldig. „Ich habe keine Ahnung. Wie komme ich jetzt so schnell wie möglich dahin? Kennen Sie jemanden, der mich dahinfahren könnte? Ich möchte vor der Flut am Fundort ankommen.”
Màiri MacLeod nickte eifrig. „Da müssen Sie sich wirklich beeilen. Lassen Sie mich nur rasch die Hände waschen, dann ruf ich meinen Patensohn Seumas an. Er kann Sie in seinem Jeep hinfahren. Es sind kaum zehn Meilen bis dahin.”
Während sich Mrs MacLeod endlich in Bewegung setzte, klappte McKenzie am Tisch den mitgebrachten Laptop auf. Sie suchte die Telefonnummer der Polizeistation in Portree raus und rief von ihrem Handy aus die Wache an. Inspektor Craig war nicht in ihrem Büro, aber der diensthabende Beamte versicherte ihr, die Nachricht umgehend weiterzuleiten, und wünschte ihr viel Glück. Offenbar hatte ihm McKinnon aus Inverness bereits gemeldet, dass die Kollegin aus Gairloch aushilfsweise den Fall übernehmen würde.
McKenzie packte eine kleine Tasche zusammen. In weiser Voraussicht hatte sie auch Handschuhe, Taschenlampe und Absperrband in den Urlaub mitgenommen, man wollte ja auf alle Eventualitäten vorbereitet sein, und in ihrem Beruf war man nie ausser Dienst. Sie ging nach draussen, wo schon ein junger, wetterfest angezogener, dunkelhaariger Mann vor einem Geländewagen auf sie wartete. „Sie sind die Polizistin vom Festland?”
„Inspektor Charlotte McKenzie. Von Gairloch. Sind Sie Seumas?”
Als er nickte, ging sie zur Beifahrertür und stieg in den Wagen ein. „Sie fahren. Beeilen Sie sich.”
Der junge Mann machte nicht viel Federlesens, setzte sich hinters Steuer und röhrte los. Jedenfalls solange der Weg einigermassen breit war. Bald jedoch wurde die Strasse enger und unübersichtlich. Seumas schien allerdings der Aufgabe gewachsen zu sein, die vielen Kurven störten ihn nicht. McKenzie dagegen brach der Schweiss in den Achselhöhlen aus, wenn der Junge wieder flott aufs Gaspedal drückte. Gerade fuhr der Wagen eine Steigung hinauf, man sah über die Motorhaube direkt in den Himmel. Wenn jetzt Gegenverkehr kam… Der Wagen brauste auf der anderen Seite wieder hinunter, vor ihr erschienen neue Kurven. Das war gerade noch einmal gut gegangen.
McKenzie gab sich einen Ruck. Sie wollte sich vor dem Mann keine Blösse geben. „Wie heissen Sie eigentlich mit vollem Namen? Und was machen Sie so im Leben?”
„Ich bin Seumas McDonald. Màiri ist meine Patentante.”
„Das hat sie mir gesagt.” McKenzie blickte angestrengt nach vorn. Ganz konnte sie sich doch nicht entspannen. „Sie leben in Ardvasar?”
„Ja, ich arbeite in den Gärten von Schloss Armadale.”
McKenzie zuckte leicht zusammen. Der letzte Gärtner, mit dem sie es näher zu tun bekommen hatte, hatte sich als kaltblütiger Mörder entpuppt. Ein Omen? Quatsch! Sie durfte keine Vorurteile haben, schliesslich stand noch gar nicht fest, dass es sich beim Toten am Strand um das Opfer eines Kapitalverbrechens handelte. Womöglich war es nur ein Unfall.
„Sie sind auch ein McDonald? Sind Sie etwa mit Patrick McDonald verwandt? Dem Fischer?”
Seumas zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Das ist mein alter Herr.”
„Aha.” Da hatte sie wieder einmal Glück gehabt. Leute, die Leichen fanden, rückten meist schnell ins Zentrum der Ermittlungen, und nun sass sie ausgerechnet mit dem Sohn im Wagen. „Was hat Ihr Vater denn heute am Point of Sleat gemacht?”
Sie hielt erschrocken die Luft an. Seumas hatte den Wagen abrupt abgebremst, sodass sie in ihren Gurten nach vorne geschleudert wurde. Eine Herde Schafe überquerte gemütlich die Strasse. Der Hirte, der ihr samt Hund folgte, hatte es nicht eilig.
„Zur Hölle mit den Viechern”, fluchte McKenzie grob und bekam von der Seite her mit, dass Seumas bei diesem Ausbruch zusammengezuckt war. Sie hatte vergessen, dass auf den Inseln ein strenger Protestantismus vorherrschte. Fluchen galt da wohl als Todsünde und kam gleich nach Mord und Ehebruch.
„Kommen wir noch rechtzeitig? Kennen Sie sich mit den Gezeiten hier aus?”
„Beruhigen Sie sich. Die Flut kommt erst in einer Stunde. Was ist denn eigentlich passiert?”
McKenzie gab keine Antwort. Ungeduldig verfolgte sie, wie das letzte Schaf in die Heide abbog und die Strasse wieder freigab. Allerdings war die asphaltierte Strecke bald darauf zu Ende. Ein kleines, kaum lesbares Schild am Strassenrand kündigte die Ortschaft An Àird an, und sie kamen unverhofft auf einem Parkplatz vor einem Bauernhof zu stehen, der fast völlig von Autos verschiedenster Bauart zugestellt war. Ein Gatter versperrte den Zugang zu dem, was allem Anschein nach der Anfang des Weidewegs war. Nach Auskunft von Mrs McLeod für den Privatverkehr gesperrt. McKenzie blickte sich in dieser Wildnis um. Ausser einem halb zerfallenen Stall gab es nicht viel zu sehen. Auf dem Weideweg entfernte sich in einiger Distanz eine Gruppe von Wanderern Richtung Horizont.
„Können wir da einfach durchfahren?”
Seumas nickte kurz. Wahrscheinlich war es nicht das erste Mal, dass er den Zugang verbotenerweise passierte.
„Steigen Sie bitte aus und öffnen Sie mir das Tor, dann geht's schneller.”
McKenzie tat wie geheissen. Wenn sie nicht die restlichen Meilen zu Fuss laufen wollte, blieb ihr sowieso nichts anderes übrig.
Die Weiterfahrt auf dem Schotterweg gestaltete sich recht holprig, es ging leicht bergauf. Sie hatten die Gruppe Wanderer bald überholt und rumpelten auf der anderen Seite der Steigung wieder hinunter. Schon wieder ein Gatter. McKenzie seufzte. Wenn das so weiterging, würde sie den Tag damit verbringen, aus dem Auto aus- und wieder einzusteigen.
Sie hätte sich keine grossen Gedanken machen müssen. Der Feldweg endete nämlich unvermittelt im Niemandsland. Seumas zuckte nicht mit der Wimper und fuhr einfach auf der Heide weiter, wobei er darauf achtete, nicht in eines der vielen Moorlöcher zu geraten, mit denen der Boden übersät war. McKenzie wurde auf ihrem Sitz hin- und hergeschleudert. Wenigstens hatte sie den Haggis von Mrs McLeod nicht zum Frühstück gegessen, dachte sie zynisch, sonst hätte dieser Ausflug in einer mittleren Katastrophe geendet. Endlich hielt der Wagen an, der Motor wurde abgestellt, und Seumas drehte sich zu ihr um. „Von hier aus geht's nur noch zu Fuss.”
McKenzie hatte sich schlauerweise ihre Bergschuhe angezogen. Wie Mrs McLeod gesagt hatte, war der Weg zwar trocken, aber uneben, ging mal durchs Moor, mal durch die Heide, mal über angesammelte Felsen steil nach oben. Seumas ging ihr voraus. Er schien gut zu Fuss zu sein, und McKenzie musste sich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten. Endlich hatten sie den höchsten Punkt erreicht, und vor ihren Augen tat sich das ganze Panorama auf – ein wunderschöner Blick auf das blaue Meer und auf die vorgelagerten Inseln.
„Das da vorn ist Eige und die grössere Insel rechts ist Rùm”, erklärte Seumas, der sich neben sie gestellt hatte und sich verstohlen den Schweiss von der Stirn wischte. „Wo sollten Sie denn meinen Vater treffen? Am Leuchtturm?”
McKenzie riss sich von der grandiosen Aussicht los. Wenn auch offiziell im Urlaub, war sie jetzt doch zum Arbeiten hier. „Nein. Wir sollen ihn an einem Ort namens Camas Daraich treffen, offenbar eine kleine Bucht. Die muss irgendwo da links unten sein.”
McKenzie ging ein paar Schritte weiter und blickte über die Grasklippe nach unten. Sie sah türkisblaues Wasser und ein kleines Oval mit weissem Sand. „Das muss es sein.”
Von oben konnte man erkennen, dass am weiter entfernten Ufer der Bucht ein Boot vertäut lag. Dagegen war kein Mensch zu sehen, auch keine Leiche. McKenzie machte sich an den kurzen Abstieg, und Seumas folgte ihr. Unten bogen sie fast gleichzeitig um einen grossen Felsen, und da lag der Strand vor ihnen, glänzend im Licht der Sonne, umgeben von funkelndem Wasser und eingesäumt von Felsenklippen. „Wow!”, entfuhr es ihr wider Willen. „Was für ein idyllischer Badestrand!”
Seumas schien nicht beeindruckt. Er zeigte mit ausgestrecktem Finger auf einen Felsblock, auf dem ein Mann sass und auf sie wartete. „Da ist mein Vater. Bitte seien Sie nachsichtig, er ist sich soziale Kontakte nicht wirklich gewohnt.”
McKenzie dachte nicht weiter über diese merkwürdige Bitte nach, sondern machte, dass sie über die Felsen nach vorne kam.
Der Mann, ein finsterer Geselle mit langem Bart und stechenden Augen, angezogen in Ölzeug, das den Fischer auswies, darunter trotz der angenehmen Frühlingswärme ein dickes Wollvlies, machte keinerlei Anstalten aufzustehen.
„Sind Sie Patrick McDonald? Ich bin Inspektor McKenzie, Polizei Schottland.” McKenzie versuchte es zuerst mit Freundlichkeit.
Der Mann nickte. „Aidh, Pàdraig MacDhòmhnaill a th' orm.”
McKenzies Herz sank. Ihr Gälisch war schon sehr eingerostet. Obwohl sie es wie alle an der Westküste in der Schule gelernt hatte, brauchte sie es kaum im Alltag. Sie war nicht darauf gefasst gewesen, jetzt wieder Schulkenntnisse hervorkramen zu müssen. Aber sie wollte es sich nicht gleich zu Beginn mit dem Alten verscherzen. Die Warnung von Seumas kam ihr wieder in den Sinn. Sie blickte zurück und sah, dass ein leichtes Lachen über dessen Gesicht huschte.
„Madainn mhath!”, brachte sie hervor. „Ciamar a tha sibh? 'S mise Charlotte NicCoinnich. 'S e neach-sgrùdaidh a' phoileis a th' annam, à Geàrrloch. Càit a bheil an duine marbh?”
Der Alte hatte sie nicht aus den Augen gelassen. Jetzt nickte er langsam, wie wenn sie eine geheime Prüfung bestanden hätte. „Sie kommen den ganzen weiten Weg von Gairloch her, um die Leiche zu besichtigen, Inspektor McKenzie?”
McKenzie atmete auf. Sie war erleichtert, dass der Mann mit ihr Englisch zu sprechen gewillt war. Sie hatte sich nie wirklich für den Sprachenstreit interessiert, der in den letzten Jahrzehnten auf der politischen Agenda immer mehr in den Fokus gerückt war. Seit dem geänderten Gesetz im Jahr 2005 galt Gälisch zwar offiziell als zweite Sprache Schottlands, aber nur ein verschwindend geringer Teil der Bevölkerung bezeichnete sie als Muttersprache. Sie hatte allerdings auch gehört, dass es gerade auf den westlichen Inseln eine starke Bewegung gab, die sich für die Gleichstellung der alten Kultur einsetzte. Glücklicherweise hatte sie es im Moment nicht mit einem besonders eifrigen Bewohner der Gàidhealtachd zu tun, welcher sich womöglich kurzerhand weigern würde, Englisch zu sprechen. Es schien, dass der Fischer mit ihrem mühsam gestotterten Gruss zufrieden war und bereit, Auskunft zu erteilen.
„Ich war gerade in der Gegend. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Wo ist denn diese Leiche? Ich hatte verstanden, dass wir uns beeilen müssten, damit wir der Flut zuvorkommen.”
McDonald stand auf und ging schweigend ein paar Meter zur Seite. Im Schatten der Felsen lag ein dunkles Bündel auf dem weissen Sand. Beim Näherkommen entpuppte es sich als menschliche Gestalt. McKenzie bedeutete Vater und Sohn zurückzubleiben und blickte sich um. Auf dem Sand gab es nur ein Paar Fussspuren, die zur Leiche hin- und wieder von ihr wegführten.
„Sind diese Fussabdrücke von Ihnen?”
McDonald nickte. „Hab ihn da so liegen sehen und hab nachgesehen, ob man noch etwas machen kann. Aber der ist mausetot, wohl ertrunken. Danach hab ich die Polizei angerufen.”
„Wie? Haben Sie ein Handy? Gibt es hier Empfang?”
Der Fischer zog anstelle einer Antwort ein vorsintflutliches Modell eines Mobiltelefons aus der Hosentasche und hielt es hoch. McKenzie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Toten zu, seinem Körperbau nach gewiss ein Mann, obwohl sein Kopf von langen, vom Salzwasser verklebten Haaren bedeckt war. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Sand, eine grosse, kräftige Gestalt. Von hinten sah man keine sichtbare Verletzung. Gekleidet war er in Jeans und einen dunklen, schweren Pullover, der mit Wasser vollgesogen und grünklebrigem Seetang behaftet war.
„Haben Sie den Körper angefasst?”
Kopfschütteln. „Hab nur den Puls gefühlt am Handgelenk. Da war nichts. Man sieht auf den ersten Blick, dass der hinüber ist.”
Wenn sie es auch nicht so pietätlos formuliert hätte, musste McKenzie zugeben, dass der Alte recht hatte. Ihr Blick wanderte weiter zu den Schuhen des Toten. Es waren halbhohe, schwarze Lederstiefel, vom Wasser aufgequollen. Nicht gerade das passende Schuhwerk für einen Strandausflug. Eher ein Stadtmensch, der sich als Rocker verkleidet hatte. Eine Jacke oder eine Mütze fehlten. Auch war kein Rucksack und keine Tasche in der Umgebung zu sehen. McKenzie streifte sich Latexhandschuhe über und griff dem Toten vorsichtig in beide Hosentaschen. Kein Ausweis, kein Geld, nichts. Merkwürdig. Sie knipste mit ihrem Handy erst einmal ein paar Fotos und drehte sich dann zu Seumas um.
„Kommen Sie und helfen Sie mir, den Toten umzudrehen.” Sie reichte ihm ebenfalls ein Paar Handschuhe. „Seien Sie vorsichtig. Berühren Sie ihn nur soweit, als unbedingt nötig.”
Seumas kam mit sichtbarem Eifer her, zog sich die Handschuhe kommentarlos über und packte die Leiche an der linken Schulter, während McKenzie am linken Bein zog. Gemeinsam schafften sie es, die starre Leiche auf den Rücken zu drehen.
Ein scharfes Einatmen kam von Seumas. McKenzie blickte von ihm zu dem Toten.
„Lange kann er nicht im Wasser gelegen haben”, meinte sie nachdenklich. Das Gesicht, rundlich mit einer Hakennase, zeigte eine leicht rötliche Färbung, war aber nicht aufgedunsen, wie es der Fall hätte sein müssen, wenn die Leiche längere Zeit im Wasser gelegen hätte. Sie beugte sich vor und schnupperte leicht. Keine Geruchsemission, abgesehen von dem Gestank der Algen. Es schienen sich in den Eingeweiden noch nicht viele Gase gebildet zu haben, auch dies ein Hinweis, dass der Todeszeitpunkt noch nicht lange zurückliegen konnte. Auf der Vorderseite des muskulösen Körpers war keine Verletzung sichtbar. Sicherlich kam das bei den vielen Felsen an der Küste hier einem kleinen Wunder gleich. Und die Kleidung schien intakt, wenn man vom Zustand der Schuhe absah. Vielleicht war der Mann unmittelbar nach seinem Tod von der einsetzenden Flut angeschwemmt worden. Sie blickte zu Seumas, der sich seinerseits interessiert über den Toten gebeugt hatte.
„Kennen Sie den Mann?”
Seumas antwortete nicht sogleich, sondern winkte seinen Vater zu sich. Bevor McKenzie es verhindern konnte, war Patrick McDonald daneben getreten und schaute selber auf das wächserne Antlitz. „Aidh”, verfiel er wieder in sein gälisches Kauderwelsch. „Tha mi a' smaoineachadh gur e Raibeart Mac an t-Saoir a tha sin.”
„Was?”
„Er denkt, dass das Robert McIntyre ist”, übersetzte Seumas für seinen Vater und nickte wie zur Bestätigung. Aus seiner Stimme sprach Hochachtung, und etwas anderes – Schrecken, Unglauben, Trauer?
„Ja, ja, das habe ich schon verstanden. Wer soll das sein? Ein Einheimischer?”
Seumas schaute sie entgeistert an. „Sie kennen Robert McIntyre nicht?”
„Treten Sie bitte zurück, Mr McDonald. Sie zerstören sonst möglicherweise wichtige Spuren. Und Ihnen, Seumas”, wandte sie sich ungeduldig an den Sohn, nachdem der Vater gehorsam ein paar Schritte zurück gemacht hatte, „wäre ich sehr verbunden, wenn Sie mich, statt Gegenfragen zu stellen, umgehend aufklären, wer der Tote hier ist. Ich möchte nicht lange raten müssen. Sollte ich den Mann denn kennen?”
„Er spielt bei den Glasgow Warriors. Stammt von hier, hat noch Familie in der Nähe von Portree, soviel ich weiss.”
„Ein Fussballspieler? Ich habe noch nie von ihm gehört.”
Ein mitleidiger Blick traf sie. „Nicht Fussball. Rugby. Und ein Nationalspieler. Er hat beinahe im Alleingang den diesjährigen Calcutta-Cup für uns gerettet.”
„Rugby. Soso. Das erklärt immerhin seine massige Figur.”
McKenzies Blick glitt wieder zum Gesicht des Toten. Im Leben
musste er gutaussehend gewesen sein, ein Bild von einem Mann, sicher über hundert Kilo schwer, dabei kein Gramm Fett an dem muskulösen Körper. Kräftige Beine, einen Wuschel langer, dunkler Haare, die jetzt wie nasse Kletten im Sand lagen. Vermutlich war er rothaarig, wenn auch die Haarfarbe aufgrund der Feuchtigkeit schwer zu erkennen war. McKenzie schätzte sein Alter auf etwa fünfundzwanzig Jahre. Zu jung, um an einem einsamen Strand ums Leben zu kommen.
Sie seufzte und knipste noch einmal ein paar Bilder von der Leiche, aus verschiedenen Winkeln. Der Pathologe würde es ihr danken. Sie warf einen Blick auf den Wasserspiegel. Die eingehende Flut machte ihr gewaltig Sorgen.
„Wir müssen ihn etwas höher legen. Bis die Spurensicherung hier sein kann, ist alles überflutet. Gibt es irgendwo einen Platz, wo wir ihn hinlegen können, ohne dass er fortgeschwemmt wird?”
Seumas deutete nach hinten. „Da oben hat es eine kleine Höhle. Sie liegt auch bei Flut über dem Wasserspiegel. Meinen Sie, wir sollten ihn wegbewegen? Was ist mit den Spuren, die Sie erwähnt haben?”
„Wir haben wohl keine grosse Wahl. Packen Sie die Beine, ich nehme die Arme.”
Seumas blickte sie skeptisch an. Die Inspektorin war knapp einen Meter sechzig gross und von zierlicher Statur.
„Lassen Sie das mich und meinen Vater tun, Inspektor. Das heisst, wenn Sie uns nicht als Verdächtige ansehen.”
Guter Einwand. Aber McKenzie hatte schon festgestellt, dass die Spuren in diesem Fall ohnehin in kürzester Frist verschwunden sein würden, und ohne Hilfe ging es nun mal nicht. Sie nickte den beiden zu, und während die Männer unter Ächzen die Leiche hundert Meter nach oben schleppten, machte sie noch ein paar Fotos vom Fundort. Wenigstens dazu war ihr Handy zu gebrauchen, denn ein Blick auf das Display zeigte ihr, dass sie in dieser Einöde keinen Empfang hatte. Sie würde Patrick McDonald um sein Telefon bitten müssen, um Inverness anzurufen und ihre Information weiterzuleiten. Sie blickte sich sorgfältig um, befühlte den Sand, schaute auch hinter die zahlreichen Felsblöcke, die mit teils getrockneten Algen bedeckt waren. Ausser ein paar Quallen, die wie rosarote Wackelpuddings am Strand lagen, und ein paar Schokoladenpapieren, die sie in ein Kuvert einpackte, fand sie nichts. Der Strand war schon fast gespenstisch sauber. Eine richtige Idylle. Hier könnte man ein tolles Barbecue veranstalten und an einem schönen Tag auch baden. Die Felsen würden den schlimmsten Wind abhalten, und wenn die Sonne schien, würde man sich an einem Strand in Südeuropa wähnen können. Sie ärgerte sich ein wenig über sich selbst, weil ihr als Geistesblitz wieder Giorgio in den Sinn kam. Dafür war jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt.
Sie schob den Gedanken an ihren ehemaligen Lover zur Seite und konzentrierte sich auf die Beschaffenheit der Umgebung. Wie traurig, dass der friedliche Ort jetzt plötzlich zu einem Schauplatz des Todes geworden war. Sie klaubte ein Stück Schwemmholz aus dem Sand, das die Flut angespült haben mochte, und machte sich daran, die Fussspuren auszumessen, die zu der Leiche führten. Der Staatsanwalt würde sie wohl rügen, weil sie so unprofessionell vorging, aber da sie im Moment kein Messband zur Verfügung hatte - sie war schliesslich im Urlaub! -, mussten die Einkerbungen auf dem Holz als Anhaltspunkt für die Länge der Fussabdrücke genügen. Wenigstens würden sie ausreichen, um damit Patrick McDonalds Schuhgrösse zu überprüfen.
Schliesslich folgte sie den beiden Männern zwischen die Felsen nach. Die Höhle war nicht besonders gross, eigentlich mehr ein Einschnitt in der Felswand, ein Kamin, der etwa zehn Meter in die Höhe ging und oben den Himmel sehen liess. Jedoch war der Ort einigermassen trocken und mochte zum vorläufigen Schutz der Leiche genügen. Die Flut würde nicht bis hierher steigen, wie sich leicht an den Felswänden ablesen liess.
McDonald lieh ihr sein altes Gerät ohne weiteren Kommentar. McKenzie rief Sergeant McKinnon in Inverness an.
„Shona, wir brauchen sofort die SpuSi hier. Ist der Helikopter zurück? Mit dem Boot dauert es zu lange, und Autotransport fällt auch aus, der Fundort liegt am Ende der Welt. Sag den Leuten, sie sollen sich beeilen. Offenbar handelt es sich beim Toten um einen verdammten Nationalhelden.”
Seumas zuckte erneut zusammen, und sogar McKinnon zog am Telefon hörbar den Atem ein. „Hast du die Person denn schon identifiziert?”
„Ich nicht, aber der Fischer, der ihn gefunden hat. Ich möchte am Telefon nichts sagen. Schliesslich will ich keinen Gerüchten Vorschub leisten. Die Vermutung steht im Raum, dass es sich um einen Mann aus unserer Rugbymannschaft handelt. Checkt also mal mit dem Nationaltrainer, ob er einen seiner Spieler vermisst. Und ruf auch beim Heimklub an – angeblich hat der Mann bei Glasgow gespielt.”
McKinnon versprach, das Notwendige sofort in die Wege zu leiten, und legte auf.
McKenzie schaute auf ihrem eigenen Handy die Liste der getätigten Anrufe durch und rief mit McDonalds Telefon auch noch die Wache in Portree an. Sie landete wieder bei dem Diensthabenden - Inspektor Craig war natürlich immer noch nicht da - und hinterliess eine weitere Nachricht. Jetzt musste sie nur noch auf das Eintreffen des Helikopters warten.
Sie wandte sich zuerst an Patrick McDonald, der sich auf einen grossen Stein gesetzt hatte. „Darf ich mir kurz Ihre Schuhe ansehen?”
Der Fischer starrte sie verständnislos an, hob aber gehorsam den linken Fuss, sodass sie das Profil seiner Gummistiefel überprüfen konnte. McKenzie nickte befriedigt. Passte. Offenbar hatte der Mann die Wahrheit gesagt.
„Nun erzählen Sie mal, was Sie heute hier gemacht haben.”
Der Alte schien zuerst schon wieder auf stur zu schalten, überlegte sich es dann aber anders. Nicht besonders freundlich sagte er: „War heute mit dem Boot draussen.”
„Das ist das blaue Boot, welches da drüben vertäut ist?”
„Mhm, musste meine Reusen kontrollieren.”
„Sie waren also nicht auf Fischfang?”
Kopfschütteln. „Nur Kontrolle der Reusen. Hummer. Bin ein bisschen durchs Wasser gekurvt. Hab nach Robben Ausschau gehalten. Mit Fotografien verdien ich mir manchmal ein Zubrot. Wo doch der Fischbestand so stark zurückgegangen ist.” McDonald scharrte mit den Füssen. Er war gewillt, sie an weiteren Gedanken zu den heimischen Fischbeständen teilhaben zu lassen.
Aber McKenzie lenkte rasch von der sich anbahnenden Diskussion zu Europa und Brexit ab: „Wo haben Sie Ihren Fotoapparat?” Sie blickte auf seine Fischerkleidung, in der ganz sicher kein solches Gerät versteckt sein konnte.
McDonald schüttelte den Kopf. „Hab ich nicht dabei. Wollte nur schauen, ob es überhaupt welche hat. Bin in die Bucht gefahren und hab den Kerl bei den Felsen liegen sehen.”
Er spie aus, was bei McKenzie ein leichtes Schaudern hervorrief. „Wusste zuerst nicht, was man davon halten sollte. Sah aus wie ein Bündel Kleider, was jemand vergessen hat. War aber keiner zu sehen am Strand. Bin also nachschauen gegangen.”
„Und Sie haben ihn so vorgefunden, wie er vorhin dagelegen hat? Haben Sie vom Strand irgendetwas entfernt?”
McDonald blickte sie verständnislos an.
„Na, zum Beispiel eine Tasche oder eine Jacke oder sonst einen Gegenstand, einfach irgendetwas.” Mit leichter Verzweiflung in der Stimme: „Eine Getränkedose oder eine Sandwichbox?”
Der alte Fischer schüttelte den Kopf. „Nee, Getränkedosen waren da nicht. Auch keine Sandwiches. Hab mich bloss zu dem Kerl runtergebeugt, ihm den Puls gemessen, und das war's dann. Hab den Notruf angewählt, und die haben mich auf die Wache in Portree verbunden. Hab mich auf den Felsen gesetzt und gewartet.”
„Mit wem haben Sie auf der Wache gesprochen?”
McDonald zog sich wieder in sich selbst zurück. Er senkte den Kopf und schwieg. Weder Bitten noch eindringliche Ermahnungen halfen, er starrte auf seine Füsse und verfiel plötzlich in einen gälischen Singsang: „Is e Dia fhèin as buachaill dhomh, cha bhi mi ann an dìth.” War er vielleicht nicht ganz richtig im Kopf?
Seumas, den sie mit einem fragenden Blick streifte, zuckte mit den Schultern: „Psalm 23. Sie wissen schon – ,der Herr ist mein Hirteʼ und so weiter. Mein Vater ist streng gläubig, Vorbeter in der Kirche. Eigentlich verlangt die Sitte eine Antwort durch die Gemeinde.”
„Aha.” McKenzie konnte mit der Information nicht viel anfangen und verfiel in Schweigen. Sie sang grundsätzlich nur in der Badewanne. Trotzdem hörte sie, gegen ihren Willen andächtig, dem eigentümlichen Gesang zu. McDonald Senior hatte eine überraschend schöne, volle Baritonstimme, und er hielt den Ton ohne Mühe. Die Melodie hallte von den Felswänden wider, stieg empor und entschwebte durch den Kamin in die Höhe. Es hatte etwas Anrührendes, dieser alte Mann, der in dieser ungemütlichen Grotte in seiner Sprache Totenwache für einen anderen Mann hielt. McKenzie lief ein kleiner Schauder über den Rücken.
Sie mochte so eine knappe Viertelstunde schweigend dagesessen und einer ganzen Reihe von Psalmen zugehört haben, als ein Knattern am Himmel die Ankunft des Helikopters und der Spurensicherung ankündigte.