Читать книгу Lost Place - Jellas Geheimnis - Simone Holthaus - Страница 6
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Davor
Die Wolken jagten am Mond vorbei und verdunkelten den Himmel. Die Landschaft, in ein nächtliches Dämmerlicht getaucht, wurde immer wieder stockfinster. Äste und Zweige raschelten im Wind. Irgendwo tief im Wald schrie ein Vogel, vielleicht ein Uhu auf Beutezug.
Vier Menschen waren auf der mondbeschienen Ebene zu sehen. Ihre schwarzen Umrisse zeichneten sich scharf vor dem Hintergrund der hohen Tannen ab, die sich ein wenig im Wind bogen. Selbst im dämmerigen Licht konnte man die Heidepflanzen, die über die ganze Lichtung verteilt waren, leuchten sehen. Es war Oktober, sie würden noch ein wenig blühen und dann braun werden, den Winter unter einer dünnen Schneedecke überstehen und im nächsten Spätsommer erneut anfangen, ihre leuchtenden Farben zu zeigen.
Die Person, die sich in den Büschen am Rande der Lichtung verbarg und die Szene beobachtete, atmete schwer, sie war gerannt. Aber es bestand keine Gefahr, dass sie entdeckt werden würde. Die anderen waren zu weit weg, und die Dunkelheit des dichten Waldes verschluckte alles.
Die vier Umrisse standen wie in einer gestellten Szene genau in einem exakten Rechteck zueinander. Ihre Gesichter waren auf die Entfernung nicht zu erkennen, der Beobachter im Gebüsch verfluchte sich dafür, in der Eile des Aufbruches nicht an sein Fernglas gedacht zu haben, das er während seiner Streifzüge durch den Wald immer in seinem Rucksack bereithielt. Aber der Rucksack lag in der Ecke im Schuppen, dort, wo er ihn immer lagerte, und wartete auf den nächsten Einsatz. Der Beobachter kniff vor Anstrengung, etwas Genaueres zu erkennen, die Augen zusammen und starrte reglos auf die Szene.
Nach einigen Minuten gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel und die Umrisse wurden schärfer. Die Person, die ihm zugewandt am anderen Ende der Lichtung stand, war eine Frau mit langen Haaren. Sie trug ein für diese Jahreszeit viel zu dünnes Kleid. Ihre Figur war zart, aus der Entfernung hätte man sie auch für ein Kind halten können. Aber der Beobachter wusste, sie war kein Kind mehr. Er hatte sie gesehen, schon oft hatte er sie beobachtet, und sie war an ihm vorbeigelaufen und hatte ihn nicht bemerkt. Wie sie ihn auch jetzt nicht bemerkten, keiner von ihnen. Die Frau hatte die Hände erhoben, als wolle sie sich größer machen. Einen Moment lang kam ihm der Gedanke, dass sie vielleicht von ihm gesehen werden wollte, ihn rief, aber er verwarf den Gedanken. Für die anderen war er unsichtbar, nicht beachtenswert, uninteressant, immer schon. Niemand hatte ihn je beachtet, nicht einmal seine eigene Mutter, die schon gar nicht.
Sein Vater gab ihm dagegen reichlich Aufmerksamkeit, in Form von Prügeln und Strafen, bis er am Boden lag und heulte und bettelte, dass der Vater aufhören solle. Es war besser, unsichtbar zu sein. Nicht daran denken, nur an jetzt und hier, an die vier auf der Lichtung, die er kannte, schon lange kannte, aber sie ihn nicht.
Einmal war das Mädchen, denn das war sie fast noch, an ihm vorbeigegangen, ganz dicht, so dicht. Sie hatte nach Rosen und frischem Gras und etwas leicht Herbem, das er nicht kannte, gerochen und hatte gelächelt. Der Junge, denn auch er war noch kein ganzer Mann, auch wenn er sich sicher so fühlte und schon fast so aussah, hatte ihn kaum beachtet und sie mit sich fortgezogen. Der Beobachter hatte ihr nachgestarrt und alles in sich aufgenommen. Wie die Sonne ihr kupferfarbenes Haar zum Leuchten brachte, wie ihr Kleid sich im Wind aufbauschte und wie ihre Tasche lässig über die Schulter baumelte. Im Weitergehen hatte sie sich noch einmal umgedreht und gelächelt. Sie war wie eine Elfe oder eine Göttin, ein Wesen vom anderen Stern, unerreichbar für ihn.
Von da an war er ständig bei ihr gewesen, in Gedanken, nachts vor ihrem Haus, wenn er zu ihrem Zimmer starrte, tagsüber im Verborgenen und sie beobachtend, wann immer es ging. Er war ihr Beschützer und ihr Schatten. Und sie wusste es nicht einmal. Seit er die Jungen kannte, war er ihr noch näher gekommen. Deswegen war er jetzt in dieser bewölkten Nacht hier in diesem Wald, wie immer am Rande des Geschehens, aber bei ihr. Die andere, mit den dunklen, lockigen Haaren, die immer lachte und aussah wie exotische Tänzerin, war diesmal nicht dabei.
Plötzlich kam Bewegung in die Szene. Die Männer, der eine groß und schmal, der andere eher kräftig und klein, gingen aufeinander zu. Das Mädchen bewegte sich ebenfalls, sie wirkte aufgeregt und zog den großen Jungen am Arm. Fetzen von aufgebrachten Stimmen wurden vom Wind über die Ebene geweht. Eine kräftige Stimme schrie etwas, das Mädchen schien zu weinen. Zwei der Umrisse verschmolzen nun, schienen miteinander zu ringen, bewegten sich hin und her. Der Dritte stand ein wenig abseits und bewegte sich leicht hin und her, als sei er unschlüssig, ob er in die Szene eingreifen sollte oder nicht.
Der Beobachter atmete aufgeregt, unsicher, was zu tun war. Er musste das Mädchen beschützen, aber wie? Er wusste nicht, was er tun sollte. Sein Puls raste.
Plötzlich zerfetzte ein lauter, peitschender Knall die Stille des Waldes. Gleichzeitig sackte eine der Figuren aus dem Knäuel zusammen und ging zu Boden, und eine Stimme, unmenschlich, wie nicht von dieser Welt, schrie schrill und markerschütternd, schrie und schrie und schrie, als solle der Schrei nie wieder aufhören.
Der Beobachter sprang auf, vergaß alle Vorsicht und rannte, rannte um sein Leben.